Читать книгу Der Kugelschreiber - Riccardo Rilli - Страница 4
ABSCHNITT 1 – DER RUF
Оглавление„Erfahrung eines Mangels oder jähes Erscheinen einer Aufgabe.“
Wie begann meine Heldenreise? Ich saß im Büro, die große, weiße Tür geschlossen. Abgeschieden von der Außenwelt. Ich war früh am Morgen gekommen, um zu arbeiten. Acht Dienststunden und ich könnte die Arbeitsstelle kurz nach dem Mittagessen verlassen. Mit Hilfe dieser Zeiteinteilung vermied ich Kontakt mit meinem Zimmerkollegen, der später kam und länger blieb. Ich lehnte mich zurück und ließ die Lehne des schwarzen Schreibtischsessels hin und her wippen. Der Computer startete. Der blaue Schein des Monitors erhellte den dunklen Raum. Das Deckenlicht, vier blendende Neonröhren, hatte ich nicht eingeschaltet. Ich genoss die Ruhe, die Anonymität, die das unbeleuchtete Zimmer bot. Die heimelige Atmosphäre fände mit dem Eintreffen des Kollegen ein jähes Ende. Meine langen, schlanken Finger suchten die Tastatur auf der Arbeitsplatte des Schreibtischs, die in Buche furniert war. Ich tippte das Passwort ein und wartete, bis ich angemeldet wurde. Bald durfte ich mich auf die Statistiken stürzen. Meine Arbeit bestand aus Tabellen. Ich setzte Zahlen in Kästchen und wertete sie aus. Die Listen betrafen unzählige, verschiedene Arbeitsbereiche und andere Fachabteilungen gaben sie in Auftrag. Ich erhielt die Daten und erstellte Tortengraphiken, Balkendiagramme und Beschreibungen in Beamtenprosa. Meine Tätigkeit fand keine Anerkennung. Lieferten die Statistiken für die Abteilungen günstige Ergebnisse, wurden sie unkommentiert hingenommen. Bei unvorteilhaften Summen hielt man mir eine schlechte Auswertung vor. Der Großteil meiner Ergüsse blieb ungelesen auf irgendeinem Schreibtisch liegen. Ich betrachtete den silbergrauen Telefonapparat neben dem Monitor. Am Morgen waren wenige Kollegen im Haus. Um einen zufälligen Anruf auszuschließen, stellte ich das Telefon auf Anrufbeantworter. Den Apparat meines Zimmerkollegen ließ ich unangetastet. Wenn er käme und das Telefon wäre umgestellt, könnte ich die erste Auseinandersetzung des heutigen Tages nicht verhindern. Ein vermeidbares Übel. Ich beschloss, es zu ignorieren, sollte der Apparat läuten. Das musste reichen. Die anderen Mitarbeiter wussten, dass er später zu arbeiten begann. Sie riefen ihn nicht an. Sein Schreibtisch stand meinem Gegenüber. Die Monitore waren derart aufgestellt, dass wir den Blickkontakt vermieden. Sie bildeten eine moderne Barriere. Auf dem Tisch des Kollegen stapelte sich das Papier. Neben den aktuellen Tabellen lagen veraltete Ausdrucke, Sportzeitungen und Automagazine. Ich kämpfte Stunde um Stunde, dass die Papierflut nicht auf meine aufgeräumte Tischplatte übergriff.
Wolfgang Koller war zehn Jahre nach mir geboren und in seiner Freizeit vielbeschäftigt. Er schleppte den großen, schlanken Körper ins Fitnesscenter, zum Radfahren und im Sommer zum Schwimmen. Er ging in Bars, ins Kino und wechselte Freundinnen wie andere Unterwäsche. Koller war attraktiv. Die dunklen Haare hatten einen modernen Schnitt und er war mit Jeans, Hemd und Sportsakko bekleidet. Der rasierte Kiefer war breit und seine dunkelbraunen Augen leuchteten. Ein typischer Held, der ebenso ungelesene Statistiken erstellte, wie ich. Wenn er nicht telefonierte. Oder das Büro verließ, um soziale Kontakte im Amt zu pflegen. Seine Bezeichnung für die Treffen mit Kolleginnen und Kollegen, bei denen sie das eine oder andere Bier tranken. Abgabetermine kümmerten ihn wenig. Nach Genauigkeit fragte er nicht. Er schrie in den Telefonhörer, lachte laut und viel und beglückte mich mit Geschichten aus seinem Leben, ohne dass ich es wissen wollte. Dauerten die Gespräche am Telefon längere Zeit, begann mein Herz zu rasen. Ich war gezwungen, die Arbeit zu unterbrechen und abzuwarten, bis er ging, was keine fünf Minuten nach dem Auflegen passierte. Der Geruch des penetranten Parfums blieb im Raum. Es erinnerte an seine aufdringliche Anwesenheit, während der er versuchte, seine Persönlichkeit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen. Wenn er nicht sprach, rückte er seine Gestalt mit ständigen Schnaufen durch die verstopfte Nase in den Bereich meiner Achtsamkeit.
Ich hatte zwei Stunden. Dann stieße er krachend die Tür auf, schaltete das Neonlicht ein, stellte seine Sachen mit einem Poltern auf den Tisch und verschwände zum Frühstück. Zeit genug, um mir einen Überblick über die heutige Arbeit zu verschaffen, einen Kaffee zu kochen und ihn in angenehm einsamer Dunkelheit zu genießen. Ich blätterte durch die neuesten E-Mails. Mir kam ein Gedanke. Die Worte drängten in meinen Geist und ich hielt es für erforderlich, sie aufzuschreiben. Ich wusste, es waren Sätze, die die Welt lesen sollte. Ich verspürte das Verlangen, mich mitzuteilen. Mein Wissen, das mir jäh ins Gehirn schoss, mit der Gesellschaft zu teilen. Von einem Augenblick auf den anderen erschien es mir unaufschiebbar. Ich wollte das Textverarbeitungsprogramm öffnen und tippen. Ich erkannte, dass der Text handgeschrieben werden musste. Er verlöre die Lebendigkeit, die Ausstrahlung, bestünde er aus elektronischen Buchstaben auf einem Monitor ohne Seele. Ich brauchte einen Stift. Die Worte mussten mit einem Schreibstift geschrieben werden. Auf dem Schreibtisch lag kein Kugelschreiber. Ich sah in den silbergrauen Rollcontainer, der zwischen meinen und den Beinen des Tisches stand. Ich öffnete jede der vier Laden. Nirgens ein Stift. In einem modernen, papierlosen Büro, in dem Arbeitsabläufe elektronisch vonstattengingen, verwendete man kein herkömmliches Schreibmaterial. Kollers Pult war nicht papierlos. Er hatte mit Sicherheit einen Kugelschreiber. Ich stand auf und durchpflügte die Stöße auf seinem Tisch. Ich fand einen Radiergummi, eine leere Flasche Mineralwasser, eine schmutzige Kaffeetasse, eine Skateboard fahrende Ente aus einem Überraschungsei, benutzte Taschentücher und keinen Kugelschreiber. Ich wurde zunehmend nervös. Ich musste die Gedanken zu Papier bringen, solange sie mir gegenwärtig waren. Die Sache kam mir zu wichtig vor, um sie an einem Stift scheitern zu lassen. Hektisch öffnete ich die Laden des Rollcontainers meines Kollegen, der nicht versperrt war. Ich fand Schreibblöcke, Autozeitungen, eine Dose mit Eiweißpulver, eine Flasche des penetranten Parfums und keinen Kugelschreiber. Ich durchsuchte den Kasten mit den Schiebetüren, in dem sich bunte Ordner mit alten Tabellen befanden, und den Garderobenschrank. Im ganzen Büro war kein Stift zu finden. Wie sollte ich die Worte aufschreiben, wenn ich kein Schreibwerkzeug hatte? Keinen Kugelschreiber, keinen Bleistift, keinen Filzschreiber, keinen Faserstift, keinen Füllhalter, keinen Leuchtstift? Ich kratze mich am Kinn und dachte nach. Ich brauchte einen Kugelschreiber. Ich musste mir einen besorgen. Ein Mangel. Eine Aufgabe.