Читать книгу Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung - Richard Bletschacher - Страница 6
VORAUSBEMERKUNG
ОглавлениеAls ich es vor zehn oder zwölf Jahren, mehr um mich selbst als um andere zu belehren, unternahm, an einem Text über das Thema dieses Buches zu schreiben, dachte ich, er würde die Form eines Essays annehmen. Nachdem ich damit aber nicht so bald zu einem Ende kommen konnte, musste ich erkennen, dass man sich nicht raschen und leichten Sinnes an eine der großen Fragen heranwagen soll, um die sich gute Köpfe seit Jahrhunderten, ja gar Jahrtausenden mühten, der Frage nämlich, die in schlichten Worten lautet: „Wie soll ich leben?“ Und so sehr ich Sorge trug, mich eng an die Sache zu halten, und so sehr ich all die lockenden Umwege mied, die allzu weit ins Allgemeine hätten führen können, so wuchs doch der Text von Jahr zu Jahr, so dass ich bald den Gedanken an eine Veröffentlichung mied und nur mehr weiter schrieb, um mich selbst zu erforschen. Was etwa den Umfang von einem Dutzend Seiten hätte annehmen sollen, wuchs mir unversehens unter den Händen – oft unterbrochen und neu begonnen – zu einem Text von nunmehr vielfacher Länge. Auch wenn ich zu Beginn das Interesse aller Nachdenklichen an einer Antwort auf die aufgeführte Frage sehr wohl erhoffte, sollte diese nun durch die Ereignisse ab Februar 2020 eine neue Dringlichkeit erhalten. Der Ausbruch einer Seuche, die viele Hunderttausende von Toten fordern würde, schien nicht vorhersehbar gewesen zu sein. Heute wissen wir es besser. Diesem und manchem anderen Geschehnis hätten wir zur rechten Zeit vielleicht vorbeugen oder es zumindest eingrenzen können. Aber durch bessere Erkenntnisse belehrt sollten wir immer wieder ähnliches Unheil befürchten, wie es auch in der überblickbaren Geschichte unsere Vorfahren vielfach betroffen hat.
Zu allen Zeiten gab es Menschen, die glaubten, über die Taten und Gedanken jener, die vor ihnen gelebt hatten, urteilen zu können, deren Werke zu zerstören, deren Denkmäler zu stürzen und deren Schriften verbrennen zu können. Sie beriefen sich auf ihre Überzeugungen von der Wahrheit ihres Wissens und der Gerechtigkeit ihres Tuns. Es hat sich jedoch, oft bald, oft erst nach Jahrhunderten, erwiesen, dass ihre Gewissheiten zerfielen. Auch heute gibt es Beispiele dafür, Beispiele von dieser zerstörerischen Hybris der Selbstüberhebung. Darum sollten wir uns stets aufs Neue belehren lassen: Was immer Menschen tun und lassen, wird von anderen Menschen abgetan. Und so haben unsere eigenen Weisungen, wie wir zu leben und zu handeln hätten, eine Zeit, in der sie gelten mögen und eine andere Zeit, in der wir meinen, die Welt geordnet zu haben und darüber selbst zerfallen sind.
Würden wir aber aufmerksamer und verständiger die Werke vergangener Generationen betrachten und achtsamer um uns in die belebte Natur blicken, so könnten wir hoffen, weiterhin das Glück des Daseins unter unseresgleichen inmitten der Wunder dieser Erde zu genießen, und würden manches schaffen, das unserem Leben einen höheren Sinn verleihen könnte als den des bloßen Überdauerns.
Dass ich dieses Buch, wie manche meiner vorher geschriebenen, obwohl ein jedes Wort darin von mir ist, nicht allein verfasst habe, muss ich zu allem Anfang bekennen. Viele der Menschen, deren Kenntnisse mich belehrt und deren Hände mich geführt haben, werde ich im weiteren Verlauf bei Namen nennen. Andere haben mir, oft auf Umwegen, geholfen, ohne dass ich immer auf ihre Reden und Schriften, verweisen könnte. Mein Wissen verdanke ich ihnen allen und ich hoffe durch meine Arbeiten etwas von dem weiterzureichen, was ich selbst empfangen habe.
Michel de Montaigne, der Lebenskluge und einer dieser Lehrer und Helfer unter den Alten, hat sich ein Buch gewünscht, in welchem die moralischen Lehren der Alten einer Beschreibung von deren Lebensführung auf jeweils zwei Seiten gegenübergestellt würden. Aber man wusste wohl schon lange vor Montaigne und weiß es noch heute, dass ein Mensch, der es auf sich nimmt, andere an seinen Erkenntnissen teilhaben zu lassen, den eigenen Forderungen, bedrängt von Trieben seines Inneren und Zwängen des gemeinschaftlichen Lebens, nicht in allem gerecht werden kann. Wer sich große Mühe gegeben hat, auf den rechten Weg zu finden, mag als ein Suchender nicht immer gewusst haben, was an all den Krümmungen und Kreuzungen seines Weges zu tun sei. Immer jedoch darf er sich, wie vom Dämon des Sokrates geleitet, gewarnt fühlen vor dem, was er zu lassen habe. Wir mögen einander stets aufs Neue belehren über das Schreckliche, das geschehen ist durch Unseresgleichen. Mehr jedoch ist zu wünschen, dass wir wieder Halt aneinander suchen, zumal in den Zeiten einer Pandemie, um uns vor diesem und noch größeren Übeln zu bewahren, die drohen in der Zukunft über uns zu kommen.
Nun wird man mir zugestehen, dass ich diesen Text keinen Traktat zur Belehrung oder gar Maßregelung meiner Mitmenschen nennen will, sondern nur eben eine Untersuchung am lebenden und leidenden Objekt und eine Suche nach einem Pfad zu besserem gemeinsamen Leben. Denn, dass die Welt trotz aller Wundertaten der Technik im Argen liegt und unter unserem oft ebenso achtlosen wie gewalttätigen Zugriff in ihrer Existenz bedroht ist, daran wird kein Hellsichtiger zweifeln.