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DER WURZELGRUND DER ETHIK

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In einem ersten Versuch habe ich diesen Abschnitt mit dem Titel „die Fundamente der Ethik“ überschreiben wollen. Dann aber habe ich mich besonnen, dass wir es hier nicht mit einem fest gegründeten, unbeweglichen Bau, sondern mit einem wachsenden organischen Gebilde, vergleichbar einem Baum, zu tun haben, dessen Wurzelverzweigungen es nachzuforschen gilt, soweit dies gelingen kann. In jedem Fall hat die Ethik, wie alles vom Menschen Geschaffene und Geübte, einen Werdegang durchlaufen, dessen Anfänge im Dunkeln liegen, einem Dunkeln so tief, dass unsere Werkzeuge nicht hinreichen, um es zu ergraben. Man erkannte, dass man nach den Werten suchen musste, die unser Sein und Denken nähren. Und da würden die Werte, welche die Tagespolitiker und Richter zu nennen gewohnt sind – Demokratie, Verfassung, Freiheit des Individuums, Recht auf Eigentum, Freizügigkeit, Unverletzlichkeit der Person, Gleichberechtigung der Geschlechter –, nur eben die obenauf ruhenden sein, die oft von den Herrschenden allzu leicht beiseite geräumt werden. Wer tiefer fragt, muss eine Philosophie der Werte eröffnen, was den Rahmen dieser Betrachtungen weit überschreiten würde und hier nicht geschehen soll. Wer allein nach dem Wurzelgrund der Ethik sucht, hat sich ohnehin mehr aufgeladen als er zu leisten imstande ist und wird sich dabei bescheiden von verschiedenen Annahmen leiten lassen, die hier angeführt werden sollen. Es sind vier an der Zahl.

Die erste Annahme lautet: Die Forderungen der Ethik haben sich in einer langen tastenden Übung innerhalb von Sippen, Verwandtschaften, Interessengemeinschaften gebildet; sie wurden von unseren Vorfahren durch Übereinkunft begründet, sich selbst und denen, die mit ihnen leben und nach ihnen kommen, zur Verpflichtung einander beizustehen, die Nahrung zu teilen, die Kinder zu schützen, die Alten zu pflegen und die toten Ahnen zu ehren. Der Mensch ist offenbar, wie auch die meisten Tiere, zu gemeinschaftlichem Leben bestimmt. Durch Erfahrung hat sich ergeben, so können wir rückblickend vermuten, dass unsere Vorfahren, als sie den Schutz der Wälder verlassen hatten, nur durch Zusammenrottung erfolgreich ihre Beute erjagen und sich selbst der Gefahren der Savanne erwehren konnten. Sie haben, von ihren Instinkten geleitet, in diesen Gruppen gemeinsame Formen der Verständigung durch Laute und Gesten, Verhaltensregeln gefunden und auf Dauer gefestigt. Das, was wir heute als Sitte oder Brauchtum bezeichnen, hat sich durch die Erkenntnisse des gemeinschaftlichen Jagens, Sammelns, Teilens und Verteidigens der Beute zu immer höheren Formen entwickelt. Die Regeln des Zusammenlebens entsprachen nach und nach einer aus den verschiedensten Erfahrungen erwachsenen Übereinkunft. Aus diesen mögen die Pflichten des Einzelnen gegenüber den anderen erwachsen sein, ebenso wie die Rechte, die ein jeder einfordern durfte. So war der Einzelne den anderen Gliedern seiner Gruppe auf unterschiedliche Art verbunden. Wie stark solche Bindungen sich gestalten konnten, können wir auch heute noch ermessen, sei es in politischen Parteien, in religiösen oder kulturellen Vereinigungen, in Singvereinen, Sambaschulen oder Räuberbanden und am stärksten und oft gänzlich unbeherrschbar hervortretend in gemeinschaftlichen sportlichen Wettkämpfen oder kriegerischen Auseinandersetzungen von Staaten oder Völkern. Für seine Beheimatung in solch einer Gruppe konnte der Einzelne ein Anrecht auf Respektierung seines Daseins und seinen daraus folgenden Interessen erwarten. Es ist zu vermuten, dass sich dabei eine Rangordnung wie von selbst ergab, die nicht immer den Älteren oder Stärkeren an die Spitze stellte. Auf solchem Abwägen und Ausgleichen der Forderungen und Gewährleistungen gründeten sich nicht durch Diktat, sondern durch allgemeine Zustimmung die ethischen Regeln unseres Gemeinschaftslebens. Der homo erectus hat sich damit selbst Bewusstsein und Ansehen geschaffen. Eben diese Erfahrung des eigenen Wertes hat ihn mehr und mehr hervor wachsen lassen aus den Bedingungen seines kreatürlichen Daseins, sie bildet auch heute noch den Grund und Nährboden der Regeln, die Geltung gewonnen haben für das Zusammenleben Gleicher mit Gleichen.

Eine zweite Annahme lautet: Die Regeln wurden geoffenbart und aufgetragen durch eine überirdische Macht, eine Gottheit, und verkündet durch deren Priester, zusammen mit dem Gebot, die Überbringer der Botschaft und die Wächter über deren Befolgung zu ehren, im Namen dessen, der sie erwählt und gesandt hat. Diese Annahme verweist auf abwesende oder übergeordnete Mächte, die nicht oder nicht mehr zu belangen sind. Wenn man jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass auch die sehr verschiedenen Götter der Völker von den Menschen jeweils nach deren Bild und Gleichnis geschaffen wurden, muss man auch deren Gebote als solche erkennen, die nach irdischen Bedürfnissen erlassen wurden. Man gerät in die Gefilde der Theologie, wenn man weiter gräbt. Und die sollen hier, soweit es der Gegenstand erlaubt, gemieden werden. Dennoch: es bleibt im Grunde eine Überhebung, wenn man einem Schöpfergott Eigenschaften zuschreibt, die nach unseren Maßstäben entweder gut oder böse genannt werden. Sollte man diese Entscheidung nicht der Gottheit selbst überlassen? Sollte die Gottheit als gut zu erkennen sein, weil sie die Erde und damit den Menschen geschaffen hat, der doch offenbar alles andere als vollkommen gut ist, oder soll die Erde und alles Leben auf ihr gut sein, weil sie des Schaffens für würdig befunden wurde? Wem sich die Geheimnisse des Überirdischen erschlossen haben, der kann hier jede weitere Frage zurückweisen. Er ist anderen keine Rechenschaft schuldig.

Die dritte Annahme ist diese: Der Mensch durchschaut, sobald er sich zum aufrechten Gang erhoben, auf seinem fortschreitenden Wege mit einem mehr und mehr sich entwickelnden kritischen Verstand das Gewebe der Verpflichtungen und Bindungen, von Erwartungen und Befürchtungen der ihn bedingenden Natur und ihn umgebenden Wandergemeinschaft und wägt im Geiste die einen gegen die anderen ab, um sich dann zu entscheiden, welchen Weg er zu gehen hat, um zu einem gedeihlichen Zusammenleben mit anderen und zu einem selbst entworfenen Ziel zu gelangen. Wohl wissend, dass er auf diesem Weg nicht ohne Auseinandersetzungen vorankommen wird und sich nur durch große innere Überzeugung allen hemmenden Zwängen wird widersetzen können. Dies will heißen: Der Mensch entwirft sich selbst und plant seinen Weg und Fortschritt durch die Geschichte. Hier gerät man weiter fragend in die Bereiche der Werttheorie, die zu klären sucht, welches denn die geeichten Maßstäbe für die Werte seien, nach denen sich das Handeln in Gemeinschaft zu richten habe, oder ob hier nicht einfach nur alther geschleppte Übereinkünfte im Gewande der Logik sich Geltung verschafft haben, die sich nicht weiter begründen lassen. Dass eine solche Weise des Zusammenlebens erst in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Zivilisation zu einer wählbaren Möglichkeit wird, muss nicht lange erklärt werden.

Die vierte Annahme auf die Frage nach dem Woher und Warum der alles Leben ordnenden ethischen Regeln lautet: Im Innern des Menschen entstand über Generationen hin durch Versuch und Irrtum ein Korrektiv, das den Nutzen belohnte und den Schaden zu meiden suchte. Nutzen und Schaden sowohl für den Einen wie auch für die anderen in einer Gemeinschaft. Dieses Korrektiv spricht seither als eine Stimme, die im Verfolg des Überlebenswunsches von lange her erfahren hat und endlich zu wissen meint, was sein soll und was nicht, was zu wünschen ist und was zu verdammen. Wir nennen diese Stimme unser Gewissen. Es ist, da es nicht offen zu Tage tritt, niemandem verantwortlich als sich selbst. Und dem folgt, ohne Vorgabe eines Zieles und allein getrieben von dem Wunsch, dem eigenen Leben und dem Leben allgemein Frucht und Gedeihen zu sichern, wenn auch zuweilen auf Umwegen und unter Vermeidung äußerer Hindernisse, dem also folgt am Ende all unser Tun und Lassen. Dieses Gewissen anerkennt ohne weiteren Zweifel das Urteil der Selbstevidenz, das nicht hinterfragt werden kann. Dass ein jeder Mensch solch ein Gewissen in sich trägt, auch wenn es oft zu schlafen scheint, wird kaum bezweifelt. Wohl aber ist zu fragen, ob auch eine Gruppe oder gar ein Volk so etwas wie ein gemeinsames Gewissen haben kann. Wer nun meint, man sei mit der Berufung auf ein solches Gewissen wieder dort angekommen, wo der Mensch in seinem dunklen Drange, sich des rechten Weges wohl bewusst sei, dem kann nicht leicht widersprochen werden. Immerhin hat es ein jeder schon erfahren, dass beim Anblick eines neugeborenen Kindes, eines großen Kunstwerks oder einer überwältigenden Landschaft sich ein Gefühl von Glück einstellt und jeder Einwand am Sinn des Lebens sich schamvoll verkriecht. Ein jeder meint in einem solchen Augenblick zu erkennen, was er zu tun und was er zu lassen habe. Wenn auch manch einer glaubt, er müsse daraufhin sein Leben ändern, so ist doch dieser Anruf seines Gewissens meist wieder verflogen, sobald der Anlass dieser Selbstbesinnung aus dem Gesichtskreis gerückt ist.

Nachdem in der hiermit abgeschlossenen Einleitung versucht wurde, eine Begründung für die nachfolgenden Bemühungen um eine neue Ethik zu versuchen, soll im Folgenden auf die vier bisher laut gewordenen Antworten näher eingegangen werden und es werden zugleich die Instanzen benannt, die dafür Verantwortung tragen. Eine jede dieser Instanzen nämlich hat seit jeher einen bestimmenden Einfluss auf die Handlungen und Unterlassungen der Menschen ausgeübt, übt sie noch immer auf den einen oder anderen aus und kann darum nicht einer zeitgeistigen Mode folgend in leichtfertiger Verallgemeinerung beiseitegeschoben werden. Sowohl die den Vorfahren verpflichtete Überlieferung jahrhundertealter Bräuche, als auch religiöse Bindungen an ein überirdisches Jenseits, oder ein Appell an die kritische Vernunft und schon gar nicht die Stimme des individuellen Gewissens können außer Acht gelassen werden, wenn man sich auf die Spur der ethischen Regeln setzen will. Will man mit ihren Forderungen nicht nur einzelne Gruppen, sondern alle, die guten Willens sind, auf einem Weg vereinen, so muss man deren Beweggründe gelten lassen um eines gemeinsamen Zieles willen: des Überlebens des Menschen und des durch ihn bedrohten Planeten.

Versuch einer Ethik im Zeitalter globaler Bedrohung

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