Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 16

3.

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PRIOR MARTIN WÄRE der Erste gewesen, der den Klosterhof erreichte, wenn er nicht bei dem toten Mönch vor dem Ausgang angehalten hätte. Während er sich nach dem schwarzen Kuttenbündel auf dem Steinboden bückte, rannten die beiden Novizen, die er aus Braunau mitgebracht hatte, an ihm vorbei und in den Hof hinaus. Martin fasste die zusammengekrümmte Gestalt bei der Schulter und drehte sie herum. Er zuckte zurück. Wo ein Gesicht gewesen war, klaffte eine Wunde, die den halben Schädel auseinandergehauen hatte. Der Prior unterdrückte ein Ächzen und fühlte, wie sich sein Magen hob. Der Kopf des Leichnams rollte herum und kam halb auf Martins Fuß zu liegen, bevor dieser ihn zurückziehen konnte, und für Momente stand er wie festgenagelt. Der mörderische Lärm von draußen war fast verstummt; es hatte eine Weile gedauert, bis sie ihn über das Prasseln des Unwetters und ihre hitzig geführte Diskussion im Kapitelsaal gehört hatten. Weitere Augenblicke waren verstrichen, in denen sie sich alle fassungslos angestarrt hatten, bis Martin sich herumgeworfen hatte und aus dem Saal geeilt war, gefolgt von den Novizen. Stöhnend zog Martin den Fuß unter dem Kopf des Toten hervor, erschauerte, als dieser weiter herumrollte und die Bewegung einen Schwall Blut, Knochensplitter und Zähne auf den Boden schwemmte. Er drückte sich an der Wand entlang um den Toten herum und bemerkte kaum, dass er die Lippen wie im Gebet bewegte. Als er an dem Leichnam vorbei war, raffte er die Kutte und rannte weiter.

Draußen prallte er auf eine Mauer aus schwarzen Mönchskutten. Hände hielten ihn fest; er kämpfte sich durch die Männer hindurch. Es waren fünf; der Tote im Gang war der sechste, und der siebte Kustode …

Der Anblick des großen, dicken Novizen, der von allen Buh genannt wurde und der jetzt auf den Knien lag und sich erbrach, während der magere Novize namens Pavel neben ihm stand, das Gesicht eine Maske des Horrors, verzerrte sich vor Martins Augen, ebenso wie das Schlachtfeld aus zerschlagenen, zerstückelten Körpern, als ihm klar wurde, dass der siebte Kustode derjenige war, der das Blutbad angerichtet hatte. Ihm war zumute, als fiele er in einen Abgrund. Der Graupelschauer peitschte in sein Gesicht. Er wischte sich das Wasser aus den Augen. Der siebte Kustode war fast am anderen Ende des Klosterhofs und riss seine Axt aus einem Körper zu seinen Füßen, hob sie über seinen Kopf und rannte brüllend in Richtung Klosterpforte. Martin war sicher, dass er versuchte ins Freie zu fliehen … und wenn er das Freie erreichte und das Dorf jenseits der Felder, dann würde das Massaker erst beginnen. Er fuhr herum.

Die übrig gebliebenen Kustoden standen eng beisammen. Wo die Kapuzen von den Köpfen geglitten waren, waren die Gesichter über den schwarzen Kutten Spiegelbilder des Schocks, der auch den jungen Pavel bannte. Derjenige der Kustoden, der für die Armbrust verantwortlich war, hatte sie gehoben und zielte, und die Spitze folgte dem dahinstürmenden Verrückten mit seiner Axt. Martin verstand innerhalb eines Herzschlags, dass die Spitze auf den Wahnsinnigen gerichtet war, seit die Kustoden bei seiner Verfolgung im Hof angekommen waren, und dass der Gedanke an die eigene Unberührbarkeit, die den Kustoden eingehämmert worden war, verhindert hatte, dass die Armbrust ausgelöst worden war und dem Schlachten ein Ende gemacht hatte. Martin stöhnte vor Entsetzen. Wie hatte das passieren können, nach all den Jahren, in denen die Kustoden ihren Wert als Wächter der Christenheit bewiesen hatten? Aber er wusste genau, wie es hatte passieren können – noch niemals in all der Zeit hatte jemand den Kustoden den Befehl gegeben, einen Menschen zu töten. Er, Prior Martin, war der Erste. Die Augen des Schützen über der Rinne der Armbrust waren weit aufgerissen. Der Hagel prasselte in sein Gesicht.

„Drück ab!“, schrie Martin.

Die Augen des Schützen zuckten, und seine Blicke klammerten sich an ihn. Ihr Ausdruck traf Martin wie ein Schlag. Er wusste, dass er eine weitere Seele zerstörte, und er wusste, dass er keine Wahl hatte. Der Rasende hatte das Tor fast erreicht und wirbelte die Axt.

„Drück ab!“

Die Armbrust löste mit einem Knall aus. Martins Kopf flog herum. Der Bolzen hatte sein Ziel schon erreicht, bevor er seinen Blick fokussieren konnte. Der Verrückte fiel zu Boden. Für einen Augenblick dachte Martin, ein Kind dort stehen zu sehen, wohin der Wahnsinnige gelaufen war, aber als er blinzelte, war es verschwunden. Es war unmöglich, in dem Flirren etwas Genaueres zu erkennen. Eine kalte Hand strich Martin über den Rücken, als der Gedanke in ihm emporstieg, einen Blick auf die Seele des Getöteten geworfen zu haben, bevor diese sich auf den Weg gemacht hatte. Er erschauerte und bekreuzigte sich. Langsam wandte er sich um.

Die Armbrust war immer noch erhoben. Die Augen des Schützen blinzelten krampfhaft. Als Martin die Hand hob und dann die Waffe langsam nach unten drückte, verstärkte sich das Blinzeln, und die Augen begannen zu schwimmen. Der Graupelschauer ließ so plötzlich nach, wie er begonnen hatte. Die Stille, die ihm folgte, schien aus dem verschmierten Boden des Klosterhofs aufzusteigen. Er spürte die Blicke Pavels und der Kustoden. In den Geruch nach Kälte und nasser Erde mischte sich der von frischem Blut. Martin wusste, dass er etwas tun musste, wenn er nicht zulassen wollte, dass die Einrichtung der Kustoden hier und heute endete, doch er hatte das Gefühl, durch seinen Befehl über einen Abgrund geschritten zu sein, über den zurückzukehren für einen Menschen unmöglich war. Etwas in ihm rief entsetzt: Herr im Himmel, hilf mir, ich habe es doch nur für Dich getan und um die Menschen zu schützen!

„Kustoden!“, schrie er. Die fünf Männer in den schwarzen Mönchskutten zuckten zusammen. „Kustoden! Was ist Eure Aufgabe?“

Sie sahen ihn an. Ihre Münder bewegten sich lautlos.

„Genau!“, schrie Martin, „Und was tut ihr stattdessen?“

Der Mönch mit der Armbrust versuchte etwas zu sagen. Er deutete auf das Schlachtfeld.

„Wozu seid ihr ausgewählt worden?“

Der Mönch mit der Armbrust stammelte etwas.

„Eure Aufgabe ist es, die Christenheit zu schützen. Die hier könnt ihr nicht mehr schützen, sie sind tot! Zwei eurer Brüder sind ebenfalls tot. Eure Gemeinschaft ist zerbrochen, der Schutzwall ist zerstört, das Verderben kann von hier aus in die Welt sickern! Geht zurück an eure Aufgabe! Erinnert euch an euren Schwur!“

Langsam kehrte so etwas wie Leben in die glasigen Augen der Männer zurück. Sie sahen sich an. Sie sahen Martin an.

„Der Herr hüte und beschütze euch“, flüsterte Martin.

Sie wandten sich wortlos ab und schlüpften zurück in den Klosterbau. Einer nach dem anderen verschmolz mit der Dunkelheit im Inneren des Gebäudes, die um so schwärzer wirkte, je mehr sich die Sonne oben am Himmel einem Loch in den dunklen Wolken näherte und das Licht zu gleißen begann. Als Martins Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten, in die er blickte, sah er Bruder Tomás jenseits der Türschwelle stehen. Das zerklüftete Gesicht des alten Tomás war unverwandt auf ihn gerichtet. Martin wurde bewusst, dass er vor der Schlachtszene stand, als wäre er dafür verantwortlich. Und in gewisser Weise bin ich das auch, dachte er. All diese Frauen und Kinder sind von einem Wahnsinnigen ermordet worden, doch wenn ich einst vor dem Richter stehe, werden ihre Seelen gegen mich gewogen … Er fühlte eine Angst, die ihm übel werden ließ, und kämpfte darum, sich nichts anmerken zu lassen. Tomás’ Gesicht war wie aus einem altersdunklen Knochen geschnitzt. Er sah, wie der alte Mönch die Lippen bewegte, und ohne sie hören zu können, wusste er, was seine Worte waren: „Ihr Blut kommt über dich, Vater Superior.“

Martin wandte sich ab und stolperte in den Hof hinaus, vorbei an dem ersten Opfer. Er schluckte und versuchte krampfhaft, nicht in das zerstörte Gesicht zu blicken; er richtete seinen Blick auf das dunkle Kuttenbündel beim Tor. Die Wasserlachen glänzten im Sonnenlicht, die Blutlachen waren stumpf wie Stellen geschundener Erde. Die Axt des Kustoden blitzte; der letzte Rest des Schauers hatte das Blut von der Klinge abgewaschen, und sie sah aus, als wäre sie nie benutzt worden. Martin fixierte die Waffe und ertappte sich dabei, wie er betete, alles möge eine Wahnvorstellung gewesen sein, doch er musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass seine Hoffnung eitel war. Er dachte an die Erscheinung, die er gesehen zu haben meinte, das Kind, das plötzlich an der Stelle stand, an der der verrückt gewordene Kustode zusammengebrochen war. Die Augen des Mannes waren offen; sie schienen dorthin zu starren, wo Martin das Kind gesehen zu haben glaubte. Es schauerte ihn erneut. Er wollte sich bücken, um dem Toten die Augen zu schließen, aber die Kraft dazu fehlte ihm. Ein Kloß saß in seiner Kehle und würgte ihn.

„Christus erbarme Dich seiner“, flüsterte er.

„Der Herr erbarme sich unser aller“, sagte eine leise Stimme an seiner Seite. Bruder Tomás starrte gleich ihm auf den Toten hinunter.

„Wir tun des Teufels Werk“, sagte der alte Mann.

„Nein, wir behüten die Welt davor.“

„Nennst du das behüten, Vater Superior? Warum haben wir nicht diese unseligen Frauen behütet?“

„Manchmal wiegt das Wohl aller mehr als das Wohl einiger weniger“, sagte Prior Martin und glaubte selbst nicht daran.

„Der Herr sagte zu Lot: Gehe hin und bring mir zehn Unschuldige, und ich will um ihretwillen alle Sünder verschonen.“

Martin schwieg. Er musterte das entstellte Gesicht des Toten auf dem Boden, die Spitze des Bolzens, der aus seinem weit aufgerissenen Mund ragte. Die Tränen in seinen Augen brannten.

Tomás kniete plötzlich nieder und drückte dem Toten die Lider zu. Er fuhr in den Halsausschnitt seiner Kutte und zog eine glitzernde Kette hervor. Das Ende baumelte lose in Tomás’ Fingern.

„Das Siegel“, sagte Prior Martin. „Er hat es verloren. Vielleicht war das der Grund, warum er …“

Tomás sah aus seiner knienden Stellung zu Martin hoch.

„Es gibt nichts, was dies hier rechtfertigen könnte“, sagte er. „Weder seinen Tod, noch den des Bruders, der ihn aufzuhalten versuchte, noch den der Frauen und Kinder.“ Er gestikulierte zum Klostergebäude. „Und auch nicht den des Mannes dort unten in den Gewölben.“

„Er wollte den Codex stehlen“, sagte Martin.

„Er hätte ihn niemals von hier fortbringen können.“

„Was ich befohlen habe, diente dem Schutz des Codex und dem Schutz der Welt vor ihm.“

Tomás schüttelte den Kopf. „Vater Superior, ich werde für dich beten.“

Das Schluchzen entkam Martin, noch bevor er es unterdrücken konnte. Er war sich plötzlich sicher, verdammt zu sein und seine unsterbliche Seele der Hölle ausgeliefert zu haben. Wieder wallte der Gedanke in ihm auf: Ich habe es in Deinem Dienst getan, o Herr!, und er war noch weniger tröstlich als zuvor. Tomás’ Gesicht war gleichzeitig steinern und mitleidig. Martin wusste, dass er nun ein für alle mal außerhalb der Gemeinschaft stand. Er mochte ihr Oberer sein, und sie mochten ihm den Gehorsam leisten, den die Ordensregel ihnen vorschrieb, aber er würde nie mehr zu ihnen gehören. Es hat mich berührt, dachte er voller Selbstekel. Es liegt so tief in all den Truhen, die es verstecken, und hinter all den Ketten, die es fesseln, und doch hat es mich berührt. Er fragte sich, ob einer seiner Vorgänger jemals einen ähnlichen Gedanken gehabt hatte, und erinnerte sich an die Chroniken, die sie hinterlassen hatten. Keine Spur von Selbstzweifel … und kein einziger Hinweis, dass jemals einer von ihnen gezwungen gewesen wäre, die Kustoden so einzusetzen, wie es ihr Schwur vorsah. Sie waren gemeinsam alt geworden in ihrem Dienst, die Klosteroberen und die Kustoden, beschirmt von der immer kleiner werdenden Gemeinschaft der anderen Mönche um sie herum und verborgen in dem zerfallenden Kloster hier am Rand der christlichen Zivilisation. Er war sogar von seinen Vorgängern getrennt; ein Mann ganz allein, der zugleich wusste, dass er nicht anders hatte handeln können und sich nichts sehnlicher wünschte, als anders gehandelt zu haben. Er starrte mit aufgerissenen Augen auf Bruder Tomás nieder und wusste nicht, dass die Tränen über seine Wangen liefen.

„Gott erbarme sich deiner“, flüsterte Bruder Tomás.

Plötzlich drangen das Gestammel Buhs, das wie üblich niemand verstand außer Pavel, und Pavels helle Stimme, die noch schriller war als sonst, an Martins Ohren. Pavels Stimme haspelte: „Da ist noch jemand am Leben.“

Im nächsten Moment hörte er das Greinen des Neugeborenen.

Die Teufelsbibel-Trilogie

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