Читать книгу Die Teufelsbibel-Trilogie - Richard Dübell - Страница 19
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ОглавлениеAGNES WIEGANT SAH sich vorsichtig um. Niemand in der Nähe – gut. Oder auch schlecht, ganz wie man es betrachtete. Gut war es, weil es niemanden gab, der ein wissenschaftliches Experiment schon im Ansatz vereiteln konnte, indem er seine Ausführung verbot. Schlecht war es, weil auf diese Weise auch niemand zu Hilfe eilen konnte, falls einem das Experiment über den Kopf wuchs. Agnes starrte die Abflussröhre nachdenklich an. Das Leben war zuweilen kompliziert für ein sechsjähriges Mädchen.
Der Winter hatte sich letztes Jahr schon Anfang November in Wien breit gemacht. Jetzt war Lichtmeß durch, und die Kälte schien immer noch zuzunehmen. Für Agnes, der jeder Tag, der im Inneren eines Hauses zu verbringen war, wie ein Tag im Kerker dünkte, hatte der Winter eindeutig keine Berechtigung, sie weiter zu tyrannisieren. Da der Winter nicht genügend Einsehen besaß, das von selbst zu merken, hatte Agnes beschlossen, ihn mit Verachtung zu strafen und so zu tun, als gäbe es ihn nicht. Sie war in ihren kurzen, dünnen Mantel geschlüpft und hinaus auf die Kärntner Straße geschlichen. Begünstigt wurde ihre Flucht durch den Umstand, dass die Dienstboten wegen Lichtmeß Urlaub hatten und die Aushilfen, die Agnes’ Mutter für diese Zeit beschäftigte, ihre Arbeit sogar noch schlechter besorgten als das fest angestellte Gesinde – welches, ging man nach Agnes’ Mutter Theresia, ohnehin schon das Letzte vom Letzten war und bei einem weniger gutmütigen Herrn als Niklas Wiegant bereits vor Jahren auf die Straße geschickt worden wäre. Dementsprechend hatte Theresia Wiegant ihren Feldherrnhügel in der Küche aufgebaut, regierte dort auf schreckliche Weise und ging so in ihrer Tätigkeit auf, dass sie die Existenz ihrer Tochter vollkommen vergessen hatte.
Am Kindermädchen, das vor der Stube im seligen Glauben, drinnen befinde sich eine friedlich schlafende Agnes, auf einer Truhe sitzend eingeschlummert war, vorbeizuschleichen war ein Klacks gewesen. Draußen hatte Agnes das Abflussrohr erblickt, und ein Experiment hatte sich ihr förmlich aufgedrängt, das der einzige Grund war, warum es dem Winter erlaubt sein sollte, noch ein paar Augenblicke zu verweilen. Süß oder sauer?
In der Kärntner Straße hatten Schnee und Reif einen grauweißen Belag über das Pflaster gelegt, der in der Mitte der Gassenführung von den Pferden und Fuhrwerken zu tiefen Rinnen geformt und von der Kälte zu knochenbrecherischer Härte gefroren worden war. Der beständige Ostwind hatte Wien mit einem Eispanzer überzogen, der das gesellschaftliche Leben in eine Art Starre hatte fallen lassen. Die Starre war in den letzten Jahren allerdings auch in den anderen Jahreszeiten spürbar geworden – Anliegen an den Kaiser, die nicht geregelt wurden, weil Rudolf von Habsburg die Anliegen der Welt nur noch mit Mühe erkannte; kirchliche Angelegenheiten, die jahrelang nicht geregelt worden waren, weil der Bischofsstuhl wegen des Verzichts von Bischof Urban vakant gewesen war; Prozessionen, die wegen der zu befürchtenden protestantischen Übergriffe abgesagt worden waren … Dinge, die für eine Sechsjährige nur minder interessant gewesen wären, wäre da nicht die ärgerliche Tatsache gewesen, dass es seit 1570 nicht nur keine Fronleichnamsprozession mehr gab, sondern seit einigen Jahren auch die Bittprozessionen zu Lichtmeß abgesagt worden waren. Agnes hatte gehört, dass bei der letzten Fronleichnamsprozession ein protestantischer Bäckerjunge die Hostie geschändet haben sollte und dass nämlicher Bäckerjunge hernach vom Teufel höchstpersönlich durch die Luft davongetragen worden war. Sie hatte von Herzen gehofft, Zeuge einer derartigen Szene zu werden, und sehnsüchtig auf die Lichtmeßprozession gewartet. Umso größer war ihre Enttäuschung gewesen, als sie nach längerer Wartezeit am Fenster ihres Elternhauses von ihrem Vater freundlich darauf aufmerksam gemacht worden war, dass der derzeitige Bischof Christoph Andreas auch in diesem Jahr nicht genügend Mut gefunden hatte, dem protestantischen Eifer zu trotzen.
Und nicht genug damit – erstmalig letztes Jahr zu Allerseelen hatte sich zwar eine kleine Gemeinde gefunden, die sich trotz des frühen Wintereinbruchs auf den Kirchhof gewagt und Lichter für die armen Seelen angezündet hatte; aber den Kindern war untersagt worden, mit den Seelenwecken von Haus zu Haus zu laufen, was letztlich ohnehin egal war, weil sich kein katholischer Bäcker gefunden hatte, der Seelenwecken gebacken hatte, nur der Bäckermeister Khlesl gegenüber dem Haus der Wiegants, von dem jedoch kein Katholik in der Kärntner Straße etwas kaufte, weil er Protestant war und damit auf jeden Fall eine verlorene Seele.
Was sollte ein Kind mit sich anfangen, wenn es keine kirchlichen Festivitäten gab, bei denen man zusehen konnte? Genau … man konnte beispielsweise der Frage nachgehen, ob der weiße Belag, der bei Frost auf der metallenen Abflussröhre lag wie ein dichter Pelz, süß oder sauer schmeckte.
Agnes wandte sich ab und tat so, als hätte sie nicht bemerkt, dass ein Mann sich ihrem Elternhaus näherte. Sie kannte den Mann – es war Sebastian Wilfing, der sich mindestens einmal in der Woche im Hause Wiegant einfand. Agnes hatte jedes Mal versucht, dem Gespräch der Männer zu lauschen, weniger weil dessen Inhalt sie interessiert hätte, sondern weil Sebastian Wilfing eine Stimme hatte, der man gern lauschte: sie pflegte, je aufgeregter der Mann war, desto öfter zu brechen und eine Silbe plötzlich in eine Tonhöhe zu schießen, die dem Quieken eines Ferkels bedenklich nahe kam. Wann immer das passierte, räusperte sich Sebastian und wiederholte die letzte Silbe mit einer besonders tiefen Stimme, die sich wiederum anhörte wie das Grunzen eines erwachsenen Ebers … ein nie endenwollendes Gaudium für die heimliche Lauscherin, zu dem Wilfings eher ausladende Gestalt ihren Teil beitrug. Wenn Wilfing sich darüber echauffierte, dass die Wiener Kaufleute alle irgendwann einmal Sklaven der „welschen Fakierer“ würden, brach seine Stimme besonders häufig. Niklas Wiegants zuverlässige Entgegnung, die Wiener Kaufleute wären selbst schuld daran, dass ihre Zunftkollegen aus Nürnberg, Augsburg, Ungarn oder Italien mittlerweile drei Viertel der Handel treibenden Bürger ausmachten, und dass es an der Zeit wäre, das Geschick selbst in die Hand zu nehmen, sandte Sebastian Wilfings Stimme in halbe Sätze lange Höhenlagen, für die sich selbst ein sehr junges Ferkel geschämt hätte. Ansonsten war Wilfing ein freundlicher Mann, der Agnes „Glückskäfer“ nannte und nie vergaß, dabei zu zwinkern. Agnes mochte ihn, doch sie wusste auch, dass Wilfing ihren Aufenthalt in der Gasse verraten würde, und so drehte sie ihm den Rücken zu und bewegte sich nicht, bis der Besucher stampfend und Schnee von den Stiefeln schüttelnd im Haus verschwunden war – zweifellos ein guter Freund und Geschäftspartner und dennoch zumindest bei Theresia herzlich unwillkommen in dieser Zeit der Personalvakanz, da der Besuch sie in einen weiteren Feldzug gegen die Trägheit des Gesindes zwang. Taktisches Ziel: Sebastian Wilfing in Rekordzeit eine heiße Suppe zu servieren, die dieser gar nicht wollte.
Ein neuer Blick in die Runde. Es wurde Zeit, dass Agnes ihren Plan durchführte; die Kälte, die über ihren Oberkörper kroch, begann sich mit der Kälte zu treffen, die von ihren Füßen her aufstieg, und Agnes spürte, dass sie bald zu schlottern beginnen würde. Also – frohgemut ans Werk! Süß oder sauer …?
Nach einigen Minuten Wehgeschreis versammelten sich die ersten Menschen um das mit der ganzen Breite seiner Zunge am Abflussrohr festgeklebte Kind. Es folgten die üblichen nutzlosen Fragen.
„Wie heißt du denn, meine Kleine?“
„Aaaa-aaa-aaaah!“
„Ist das dein Elternhaus da?“
„Aaaa-aaa-aaaah!“
„Brauchst du Hilfe?“
„Aaaa-aaa-aaaah!“
„Tut’s weh?“
Aus Agnes’ Elternhaus erschien niemand. Ihr Vater, eben erst von seiner letzten Reise zurückgekehrt, hatte sich vermutlich mit Sebastian Wilfing in die hintere Stube des Hauses zurückgezogen, die statt auf die enge, lärmige Kärntner Straße auf den großzügigen Neumarkt hinausführte; ihre Mutter kämpfte den Krieg der Kochlöffel und Schöpfkellen; Agnes’ Kinderfrau schlummerte weiterhin ahnungslos der Standpauke ihres Lebens und der Kündigung zur nächsten Lichtmeß entgegen. Die Menschenmenge begann nutzlose Ratschläge zu diskutieren, die vorerst darin gipfelten, dass man auf das Abklingen des Frostes warten und das Kind solange mit Suppe ernähren müsse, bis die Zunge freiwillig vom Abflussrohr lostaute.
Schließlich wand sich die Gestalt eines Jungen durch die Menge. Das Geschnatter verstummte. Agnes, in deren Zunge ein frostiges Fegefeuer brannte und auf deren Wangen die Tränen anfroren, riss sich zusammen und schielte zu dem Neuankömmling, der sich neben ihr aufbaute und sie musterte. Agnes’ Blicke wanderten über einen zehnjährigen Jungen, der sich mit aller Sorgfalt so gekleidet hatte, dass er auch einen Schneesturm draußen überstanden hätte. Dann blieben Agnes’ Augen an dem Wasserkrug hängen, den der Junge in den Händen hielt. Aus dem Wasserkrug dampfte es. Die Blicke der Kinder begegneten sich. Der fremde Junge nickte und lächelte.
Dann löste er mit ein paar gezielten Güssen des auf Körperwärme aufgeheizten Wassers die angefrorene Zunge vom Abflussrohr.
Die Zuschauer klatschten und erklärten den Retter zum Helden und dass sie außerdem daran auch schon gedacht hätten. Agnes hielt sich unwillkürlich am Abflussrohr fest, zuckte zurück, als die Kälte in ihre ungeschützten Hände brannte, und sammelte genügend Stärke, um „Banbe!“ zu sagen, ohne sofort losheulen zu müssen.
„Bitte sehr“, sagte Agnes’ Lebensretter.
Agnes schluckte. Während die Menge langsam auseinander ging, lachend und kopfschüttelnd („Wie kann man so dämlich sein, im Winter ein Abflussrohr abzuschlecken?“ „Ja, aber haben Sie gesehen, wie der Sohn des Bäckermeisters reagiert hat? Das Kerlchen bringt es noch mal zu was, das sag ich Ihnen!“ „Das war der Sohn des Bäckermeisters, der…?“ „Sschhh!“), musterten sich die beiden Kinder erneut.
„Ib bib Abneb Biebanb“, lallte Agnes und verdrängte die Tränen, die aufs Neue in ihre Augen schossen. Die Zunge war ein roher Lappen in ihrem Mund.
„Weiß ich schon. Ich bin Cyprian.“ Der Junge deutete mit dem Daumen über die Schulter. „Mein Vater ist der Bäckermeister Khlesl.“
„Ihr beib Bobebandten!“, sagte Agnes.
„Nö. Wir waren Protestanten. Jetzt sind wir katholisch, seit mein Onkel Melchior uns alle bekehrt hat.“
„Bie?“
Cyprian zuckte mit den Schultern. „Naja, zuerst waren wir alle protestantisch, aber dann freundete sich mein Onkel mit einem katholischen Prediger an, und danach redete er so lange auf meine Großeltern und meinen Vater ein, bis wir am Ende alle katholisch waren. Ist doch egal.“
Agnes versuchte die Information an den Mann zu bringen, dass man in ihrem Elternhaus mangels dieser Neuigkeit über den Bäckermeister von schräg gegenüber immer noch höchst misstrauisch als von einem Protestanten sprach und dass die Mitglieder des Wiegantschen Haushaltes keineswegs ermutigt wurden, den Kontakt über die Gasse hinweg zu suchen.
„Bis letztes Jahr waren wir ja auch noch Protestanten“, erklärte Cyprian. „Du kannst deinem Vater sagen, dass wir jetzt rechtgläubig sind. Was immer das heißt.“ Cyprian lächelte unbekümmert. „Es heißt wahrscheinlich, dass du eine Semmel, die ich dir schenke, auch essen darfst.“
„Beib“, sagte Agnes und machte ein ernstes Gesicht. „Eb heibt, babb bir betzt Bfeunde bind!“