Читать книгу Prinz Schamyls Brautwerbung - Richard Henry Savage - Страница 6
Zweites Kapitel.
ОглавлениеNicht mehr Brüder. — Auf dem Ball des türkischen Gesandten. — Ein Königssohn als Deserteur. — Diplomatische Spinngewebe.
„Du willst mich sprechen? Wozu?“ fragte Ghazi, als er mit schweren Schritten an der Seite des leichtfüssigen Ahmed die Strasse entlang ging.
Das Haupt des Hauses Schamyl war ein schwerfälliger, finsterer, rotbärtiger Mann von mittleren Jahren. Seine Stimme verriet weder irgend eine zärtliche Empfindung oder auch nur das flüchtigste Interesse; offenbar wünschte er möglichst schnell zu Mustapha Pascha zurückzukehren.
„Ghazi, ich habe dir nur wenige Worte zu sagen, und es steht dir selbstverständlich frei, sie zu beantworten oder nicht. Du bist mir nie ein liebevoller Bruder gewesen, aber immerhin führen wir denselben Namen, und noch trägst du die russische Uniform.“
„Bitte,“ grollte Ghazi, „fasse dich kurz!“
Ahmeds Augen blitzten wie schwarze Diamanten, und seine Stimme klang tief gleich einer Glocke. Sie befanden sich nun in ziemlicher Entfernung von dem Fahrweg, auf dem Schlitten aller Art mit gespensterhafter Schnelle vorübersausten.
„Bist du gesonnen, in diesem Krieg fahnenflüchtig zu werden?“
„Wer sagt das?“ knurrte Ghazi.
„Ein Mann, dem ich morgen eine Kugel durch den Kopf jage, wenn du mir sagen kannst, dass es nicht wahr ist,“ gab Ahmed schneidig zurück.
„Wo wird dieser Klatsch verbreitet?“
„In allen Salons, in den Klubs und in den Kasernen,“ zischte Ahmed, der seinen Bruder so fest im Auge hielt wie ein Duellant seinen Gegner im entscheidenden Augenblick.
„Ich habe dir darauf nichts zu erwidern! Scher dich zum Teufel!“ lautete die nicht übermässig scharfsinnige Antwort des älteren Bruders.
Ahmed stürzte auf seinen Gefährten los, packte ihn energisch an den Handgelenken und blickte ihm fest ins Auge.
„Bist du verrückt?“ fragte er.
„Nein! Aber ich werde mich diesem Krieg fernhalten. Uebrigens bin ich nicht gesonnen, mich verhören zu lassen.“
Ahmed gab seine Hände frei.
„Hast du bis morgen mittag nicht bedingungslos den russischen Dienst quittiert, so gebe ich dich selbst beim Kriegsministerium an.“
Der junge Mann war ausser sich vor Scham und Zorn, als er fortfuhr: „Du magst deine eigene Ehre beflecken, aber du sollst nicht auch mich zu Grunde richten. Wenn du gehen willst, so gehe wie ein Mann, und nicht wie ein Ueberläufer und Verräter. Ich werde nicht dulden, dass du hier bleibst und den Spion machst.“
Die stillen Sterne blinkten wie verwundert herab auf die beiden fürstlichen Brüder, die sich im Schatten des stolzen Monumentes der Katharina so feindlich gegenüberstanden.
„Beim Grab meines Vaters, ich verfluche dich, du Hund, du Narr, du Speichellecker des Giaurs! Nach Eblis, in die Heimat der Verdammten mit dir! Sei verflucht!“
Das Amulett Ben Schamyls flimmert im fahlen Sternenschein. Ahmeds Hand tastet mechanisch nach seinem Dolche, aber starr vor Staunen liess er ihn wieder sinken. War sein Bruder wahnsinnig geworden?
„Wir werden uns wiedersehen, aber als tödliche Feinde,“ zischt Ghazi noch im Gehen.
Regungslos, von der Ueberraschung gelähmt, sieht Ahmed die Gestalt des Mannes entschwinden, der ihm fürder kein Bruder mehr ist. Es war vorbei!
Die Troïka saust fort. Ahmed Schamyl steht und zeichnet mit der Scheide seines Säbels Figuren in den schimmernden Schnee. Er weiss, dass er nun, da das Entsetzliche wahr ist, allein steht in der Welt. Oh, über diese Schmach!
Lässig schritt er zu seinem Schlitten zurück und fuhr nach Platoffs Wohnung. Seine Pulse stockten, sein ganzes Sein war wie gelähmt. Aber seine Hände hatten wenigstens nicht des Bruders Blut vergossen.
Paul wartete auf ihn, und wortlos begrüssten sich die beiden Freunde. Schweigend warf sich Ahmed auf ein Ruhebett, während Platoffs Herz fast hörbar pochte vor Angst um den Waffenbruder.
Nach einer Weile erhob sich Ahmed, schüttelte ihm die Hand und sagte: „Morgen will ich dir alles sagen, Paul; komm um vier Uhr zu mir!“
Mechanisch nahm er den ihm gereichten Abschiedstrunk, lächelte matt und wankte die Treppe hinab.
Als er aus der Thüre trat, sah sein Antlitz so starr und geisterhaft blass aus, dass Platoff dachte: „Gerade so sah Bolski aus, als er mit Arenburgs Degen im Herzen zusammenbrach!“ Dann begab er sich zur Ruhe, denn der nächste Tag sollte ihm ja neue Enthüllungen und Aufregungen bringen. Paul Platoffs Träume waren nicht angenehmer Art. Dagegen herrschte im türkischen Gesandtschaftspalais Lust und Leben, während er sich unruhig auf seinem Lager wälzte; dort drehten sich festlich geschmückte Paare im Tanz, liebliche Musik ertönte und seltene Blumen erfüllten die Säle mit ihrem Wohlgeruch. Prinz Ghazi Schamyl bahnte sich einen Weg durch die Menge und suchte, ohne die lustigen Begrüssungen und die munteren Herausforderungen, die von rosigen Lippen fielen, irgendwie zu beachten, eine ihm wohlbekannte Gestalt.
Ah, da war sie ja! Mit ihrem bernsteinfarbigen Haar und ihren harten, kalten blauen Augen thronte Nadja Vronsky als Königin des Festes dort auf dem Ehrenplatz.
Der wuchtige Prinz schob einige ihrer geringeren Verehrer bei Seite und flüsterte nur ein Wort; dann bot er ihr mit der Sicherheit eines Mannes, der schon manche Petersburger Saison mitgemacht hat, den Arm und führte sie nach einem Alkoven.
Ein paar leise geflüsterte Worte verbreiteten eine aschfahle Blässe über das hochmütige, österreichisch aussehende Gesicht der Dame.
„Heute nacht noch, Prinz?“ flüsterte sie; ihr Busen wogte — es traf sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Finster verneigte er sich vor ihr.
„Sage ihm, er müsse mir sofort eine Viertelstunde in seinem Zimmer schenken.“
„Und was wird mit mir geschehen?“ Ein leises Zittern klang aus der Stimme der kalten Gräfin.
„Das wirst du erfahren, wenn du dich zu uns gesellst. Sei vorsichtig und sorge nie, dass du nicht beobachtet wirst!“
Damit verbeugte er sich tief vor ihr und schlenderte nachlässig, hier und dort einem Bekannten zunickend, ins Speisezimmer. Dann schlüpfte er unbemerkt durch einen Thürvorhang und suchte sich den Weg in das Allerheiligste, Mustapha Paschas Studierzimmer, wo er auf einem Diwan niedersank.
Als nach einer kleinen Weile der schwarzbärtige Chargé ins Zimmer glitt und sachte die Thüre hinter sich abschloss, blickte Ghazi gelassen zu ihm auf. In den Augen des Diplomaten war die brennende Frage zu lesen: „Was ist geschehen? Welcher Streich ist gefallen?“
„Alles ist verraten, Mustapha!“ grollte Ghazi. „Ich gehe heute nacht oder nie! Aber wie komme ich fort? Ich kann jeden Augenblick verhaftet werden! Der dumme Junge, der Ahmed, hat es in den Klubs gehört.“
„Sprechen Sie persisch?“ fragte Mustapha hastig, denn sein schlagfertiger Geist zeigte ihm schon einen Ausweg.
Ghazi nickte bejahend.
„Dann sind Sie gerettet!“ rief sein Wirt und klatschte in die Hände. Bediente stürzten herbei, und in Zeit von zehn Minuten war Ghazi, der Gardeoffizier, in einen glattrasierten, beturbanten Perser verwandelt.
„Sind meine Haare dunkel genug gefärbt?“ fragte er.
„Das weitere wird im Bazar gemacht,“ erwiderte der Diplomat.
Ein Dutzend flinker Hände hatte die Verkleidung des Prinzen bewerkstelligt, und nun trat auch noch die Gräfin Nadja Vronsky in das geheime Gemach und half den Faltenwurf der weiten Gewänder vollends in Ordnung bringen.
„Ich habe ganz ausgefüllte, visierte Pässe für die persischen Kaufleute, die nach Hamburg gehen. Iskander, mein armenischer Sekretär, wird für alles sorgen und Sie auf den Dampfer bringen. Geben Sie ihm einen chiffrierten Brief für mich mit.“
In Nadja Vronskys Augen standen Thränen.
„Du willst allein gehen?“ stammelte sie.
„Ja — wenn ich kann,“ erwiderte Ghazi brummig. „Nun gehe aber wieder zu den Dummköpfen da unten und verlasse den Ball so bald als möglich. Mache aber keinen Unsinn und entferne dich mit ermüdeter Miene ganz offen! Fange nicht an zu wimmern und zu winseln, wenn ich fort bin. Du wirst ja bald genug nach Konstantinopel kommen.“
Gräfin Vronsky barg ihr Gesicht in den Händen, und bittere Thränen tropften zwischen den juwelengeschmückten Fingern durch. Höhnisch gab er ihr zum Abschied noch den Rat: „Jetzt lass aber das Geflenne! Mustapha wird für dich sorgen — sei seiner Wünsche gewärtig. Ich muss jetzt gehen. Zwar werden diese russischen Hunde nicht wagen, das Gesandtschaftshotel zu durchsuchen, aber sie werden wie gewöhnlich ihre schmutzige Spionenrolle spielen und jeden beobachten, der das Haus verlässt.“
Leidenschaftlich schlang sie ihre Arme um seinen Hals und flüsterte: „Also in Konstantinopel — bald?“
„Ja, ja,“ erwiderte Ghazi hastig, indem er sie nach der Thüre hindrängte, sie gleichgültig küsste, hinausschob und die Thüre hinter ihr abschloss.
„So, Mustapha, nun lassen Sie Ihre Diener meine ganze Uniform nebst Mantel vernichten und meinem Kutscher bestellen, ich sei mit einem Freund in den Klub gegangen. Geben Sie mir noch einen guten Dolch! Ja, der ist recht! Morgen, wenn wir Kronstadt im Rücken haben, schicken Sie Dimitri, meinem griechischen Haushofmeister, diesen Ring — er kennt das Zeichen. Nun darf ich mich aber nicht mehr länger aufhalten! — Dies Teufelsweib senden Sie über Wien nach Konstantinopel, aber es hat gar keine Eile. Sie können sie mit jeder Botschaft für mich betrauen.“
„Wünschen Sie noch etwas?“ fragte der Vertreter des Sultans ängstlich, denn er sehnte sich danach, allein zu sein.
„Ja, Ihre Feldflasche mit altem Cognac und Cigaretten.“
„So! Sie werden ja bald zu uns stossen! Wie soll ich hinauskommen? Vielleicht am besten über die Dienerschaftstreppe?“ fragte Ghazi, als er nun völlig bereit war zur Flucht.
„Osman hier wird Sie sicher geleiten! Verlassen Sie sich ganz auf Iskander. Allah schütze Sie! Brauchen Sie Geld?“
„Nein!“
„Gut, Iskander wird Ihnen in Hamburg jeden Betrag verschaffen!“
Noch ehe die letzten Worte verhallten, war Prinz Ghazi Mohammed Schamyl verschwunden — die kaiserliche Garde hatte einen Offizier verloren.
Schlaftrunkene Thürsteher, Küchenmägde und das ganze Bedientenpack warf dem Asiaten, der in der Nacht verschwand, nur einen verächtlichen Blick nach: vermutlich ein armseliger Juwelenhändler mit seinem Kram.
Während Ghazi von seinem Begleiter hinausgeführt wurde, vernahm er noch das Gläserklingen und das muntere Lachen der glänzenden Gesellschaft oben.
Der Weg des Verräters verlor sich in der Dunkelheit. Nach wenigen Schritten hatte er einen Schlitten erreicht, und eine Stunde später schlief er inmitten der persischen Reisenden, während sein Begleiter Osman den Schlummer des treulosen Mannes bewachte.
Mittlerweile hatte sich Mustapha Pascha wieder zur Gesellschaft verfügt, wo sich ein Dutzend Kavaliere um die Gräfin Vronsky drängten, die sie zu ihrem Wagen geleiten wollten. Als sie sich von ihrem Wirt verabschiedete, bemerkte dieser liebenswürdig: „Wie ich höre, gnädige Gräfin, hat Ihr treuloser Prinz Sie verlassen und ist zu einer Partie Roulette in den Klub gegangen.“
Mit Vergnügen vernahmen die umstehenden Kavaliere, dass sich Ghazi Schamyl schon entfernt hatte, denn nun konnten sich die minder bevorzugten Herren unbehindert darum streiten, wer die schöne Göttin geleiten dürfe.
Noch ehe die ermüdeten Schönen, die das Fest des Diplomaten geziert hatten, ihre Morgenschokolade schlürften, schaukelte Ghazi Schamyl auf den hochgehenden Wogen des Golfes von Finnland. Mit gekreuzten Beinen sass er unter einem Haufen Perser, und seine Finger schlossen sich fest um den Griff des Dolches, so lange noch Leute, die ihn möglicherweise kennen mochten, über das Deck schritten, um das Schiff zu durchsuchen. Er war entschlossen, sich lieber den Tod zu geben, als sich verhaften zu lassen — es war eine schicksalsschwere Stunde!
Das Beispiel der halberfrorenen Perser, die bis zu den Augen eingewickelt waren wie Mumien und zitternd und ängstlich bei einander hockten, gewährte Ghazi genügenden Vorwand, sein Gesicht ebenfalls zu verhüllen.
Die Gefahr ging schnell vorüber. Bald lagen die Forts weit hinter dem Schiff, und die stolze Flagge der Romanoffs versank hinter den dichten, wogenden Rauchwolken. Ghazi hatte sein altes Leben, seinen neuen Feind, den er einst Bruder genannt, und seine Ehre weit hinter sich gelassen — ein Deserteur war er schon in diesem Augenblick, und ein Verräter wollte er werden.
Wohin mochte der Pfad führen, den er betreten hatte?
Nadja Vronskys thränenfeuchte Wangen ruhten bis spät am Nachmittag auf ihrem Kissen. Ein Diener der türkischen Gesandtschaft brachte einen prächtigen Strauss aus Warmhausblumen, die in dem eisigen Reiche des Zaren geradezu unschätzbar waren. Ein zierliches Briefchen, das der duftigen Sendung beilag, lautete:
„Alles steht gut. Das Schiff hat Kronstadt im Rücken. Erwarten Sie mich heute abend zu Tisch.“
Offenbar wünschte der kluge Mustapha abwesend zu sein, falls in der Gesandtschaft nach Ghazi gefragt werden sollte. Des Abends aber zögerte er so lange, dass die tadellos gekleidete Gräfin annahm, es seien gar keine Erkundigungen in der Gesandtschaft eingezogen worden, und sich mit erleichtertem Herzen allein zu Tische setzte.
Endlich erschien der ruhige Diplomat und flüsterte ihr, während er ihr die Hand küsste, leise zu: „Adjutanten suchten Prinz Ghazi in seinem Haus und im Klub.“
Gleichwohl lächelte Mustapha milde, denn der Ring hatte seine Schuldigkeit gethan.
Weder die Wirtin, noch ihr Gast konnten die Blitzesschnelle begreifen, mit der man die Abwesenheit Ghazis entdeckt hatte, denn sie hatten keine Ahnung von Fürst Gortschakoffs Absicht.
Während diese beiden sich über den Sterlet und den Chablis unterhielten, sassen sich in Ahmed Schamyls Wohnung zwei ernste Männer gegenüber.
Des Morgens hatte Paul Platoff nicht lange gezögert, sondern war, seinem Entschlusse getreu, sofort zu seinem Bruder Iwan gegangen, der zur nächsten Umgebung des allmächtigen Gortschakoff gehörte.
So schnell der gewiegte, alte Diplomat auch zu handeln pflegte, so war er doch auch ein geduldiger Zuhörer.
Kaum erst hatte Platoff mit bedeutend erleichtertem Herzen seine Wohnung erreicht, und schon hatte Fürst Gortschakoff bei einer Tasse Thee und einer Cigarette seinen Plan entworfen: er entdeckte plötzlich, dass es unumgänglich nötig sei, Oberst Ghazi Schamyl in besonderer Mission unter starker Bedeckung nach Taschkent zu schicken.
„Ich denke, die Bedeckung, die ich ihm mitgebe, wird diesem feigen Schurken schon dafür thun, ans Goldene Horn zu entkommen, vorausgesetzt, dass die Toten nicht mehr laufen können,“ brummte der zornige alte Fürst, als er seinen Kollegen, den Kriegsminister, empfing. Eine Spezialliste besonders zuverlässiger Offiziere wurde durchgesehen, und hierauf schleunigst nach Oberst Iranoff gesandt, der dann auf dem Kriegsministerium ganz erstaunliche Instruktionen empfing. Gleichwohl riss er seine kleinen, runden Tartarenaugen nicht ein bisschen weiter auf — es war ja des Zaren geheiligter Befehl!
Platoffs Vorgehen hatte den gewünschten Erfolg gehabt, und auf dem Exerzierplatz dachte er fröhlich bei sich selbst: „Gott sei Dank! Ich habe Ahmed die Schmach erspart, seinen eigenen Bruder denunzieren zu müssen!“
Als Platoff später seine mutigen Krieger in ihren Baracken inspizierte und sich an ihren roten Wangen, ihren strohblonden Bärten und ihrem echt russischen kraftvollen Aussehen erfreute, lächelte er befriedigt vor sich hin, denn von diesen Leuten war kein Verrat zu befürchten, wie von den halb türkischen, halb kurdischen Bergbewohnern, diese Leute waren, wenn’s not that, bereit, bis auf den letzten Mann für den weissen Zaren zu sterben.
Bei Tisch machte Ahmed Schamyl mit der ganzen, peinlichen Höflichkeit seines Heimatlandes den Wirt.
„Tapfer im Kampf“, „beredt im Rat“ sind grosse Lobsprüche in Cirkassien, aber den Preis trägt doch der davon, dem man die grösste Gastfreundschaft nachrühmt.
Als sich die Dienerschaft endlich entfernt hatte, vernahm Platoff, wie die beiden Brüder auf dem schneebedeckten Platz als Feinde auseinander gegangen waren.
„Wäre es ein andrer gewesen als meines Vaters Sohn,“ schloss der dunkellockige Riese, dessen Hände erregt mit dem schweren silbernen Wehrgehänge spielten, „so hätte er den Platz nicht lebendig verlassen! — Aber nun erzähle auch du, was es heute Neues gibt! Ich habe den Klub absichtlich gemieden und mich nicht einmal auf den Newsky gewagt!“
„Prinz, ich habe heute nachmittag spät durch Iwan erfahren, dass eine geheime Expedition nach Taschkent befohlen war: Iranoff mit sechs Donkosaken und dein Bruder, der mit der Ausführung des Auftrages betraut werden sollte!“
Schamyl war sprachlos vor Verwunderung.
„Die Adjutanten haben den Prinzen Ghazi vergebens in seiner Wohnung gesucht.“
Der schlaue Paul verriet mit keinem Hauch weder Fürst Gortschakoffs geheime Absicht, noch den Umstand, dass er seine eigenen Sammetpfötchen im Spiel gehabt hatte.
„Welcher Bescheid wurde in seiner Wohnung erteilt?“ fragte Ahmed mit heiserer Stimme.
„Der Haushofmeister erwiderte, Prinz Ghazi habe sich vergangene Nacht vom Ball in den Klub begeben; sein Wagen habe gewartet und sei auf seinen Befehl nach Hause geschickt worden. Im Jachtklub ist er nicht gesehen worden, und bis zu diesem Augenblick war er noch nicht aufzufinden!“
Platoffs Stimme hatte einen eisigen Ton angenommen, der dem jungen Hörer ins Herz schnitt. Ghazi, sein Bruder — ein Deserteur!
„Dann ist er entflohen!“ schrie Schamyl auf.
Paul neigte bejahend sein Haupt.
„Aber wohin? Wie? Mit wessen Hilfe?“ fragte der loyale Prinz in Todesangst.
„Dies ausfindig zu machen, lieber Ahmed, werden wir, wie ich fürchte, der Dritten Abteilung überlassen müssen,“ antwortete der Hauptmann in mitleidigem Ton.
„Der Sohn Schamyls ein steckbrieflich verfolgter Flüchtling!“ stöhnte der Prinz.
„Du weisst wohl, dass er drei Tage nach der in seinem Hause erfolgten Citation dem Kaiser als Deserteur bekannt gegeben wird.“
„Und bei mir hat man gar nicht angefragt!“ flüsterte Schamyl.
„Nein, aber du befindest dich in einer sehr schwierigen Lage. Ich bezweifle, dass man dich persönlich verhört, und die Sache wird auch nicht in die Oeffentlichkeit getragen werden. Iwan sagte mir, das Auswärtige Amt und das Ministerium des Innern hätten die in solchen Fällen üblichen Befehle an alle Grenzen und Gesandtschaften telegraphiert.“
„Wo werde ich Ghazi wohl wiedersehen, Paul? Am Galgen?“ stöhnte Ahmed.
„Nein, Prinz, ich glaube, dass er von etlichen tausend kurdischen Teufeln umgeben sein wird, wenn du wieder mit ihm zusammentriffst. ... Ihr werdet euch auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen.“
Schamyl schlug seine müden Augen zu dem Freunde auf.
„Und in den Klubs ... im Regiment,“ rief Ahmed mit blitzenden Augen, „oh dass mir doch so ein dummes, geschwätziges Opfer in den Weg liefe!“
„Schamyl, du darfst dergleichen nicht beachten. An dir wird kein Makel haften, aber den Abwesenden kannst und darfst du nicht verteidigen! Nicht einer könnte in diesem Fall deine Herausforderung annehmen — das würde die Loyalität von selbst verbieten!“
Paul war tief erregt. „Magna est veritas!“
„Du hast recht, mein Freund,“ erwiderte Schamyl finster. „Der älteste Sohn des Sultan Schamyl ist jetzt ein Deserteur und ein Verräter. Ich muss diese Last schweigend tragen lernen.“
Paul fand zum Schluss noch eine tröstliche Vermutung.
„Ghazi kann Russland nicht verlassen haben ohne vorhergehende Abmachungen, ohne Hilfe und ohne wachsame Freunde. Wenn er hinausgeschmuggelt worden ist, so deutet alles auf die türkische Gesandtschaft hin, und dort kann man nicht allzugründlich nachforschen, weil das gesamte Personal in Bälde abreisen wird. Dieser ganze Skandal wird gar bald von der leidenschaftlichen Aufregung verschlungen werden, die der Krieg mit sich bringt.“
„Bei Gott, ich werde diesen schlauen Teufel Mustapha in seinem eigenen Haus am Bart reissen!“ rief Ahmed und sprang auf.
„Das darfst du gerade nicht thun, denn ein solch unkluges Vorgehen würde die tiefste Ungnade des Zaren nach sich ziehen. Hole dir deine Rache auf dem Schlachtfeld, Ahmed, und bringe eine feindliche Standarte heim! Die ehemalige Freundin deines Bruders, Nadja Vronsky, musst du, wie auch seine übrigen Vertrauten strengstens meiden. Cherchez la femme — ’s ist immer die alte Geschichte! Uebrigens ist sie nur Ghazis Werkzeug, denn er ist nicht der Mann, sich einem fremden Einfluss zu beugen.“
„Du hast recht, Paul! Ich verlasse mich drauf, dass du mich von allem unterrichtest. Aber wenn man mir das Kommando meines Regimentes abnimmt, so jage ich mir auf der Parade eine Kugel durch den Kopf — öffentliche Schande vermag ich nicht zu ertragen.“
Ahmed befand sich in einer an Irrsinn grenzenden Aufregung.
„Lieber Kamerad, glaube mir, du musst dich ganz auf den Zartsinn unsres heldenhaften Kaisers verlassen! Versprich mir, dass du dich in dieser Sache von mir leiten lassen willst,“ bat Paul, der bis ins innerste Herz ergriffen war, mit bebender Stimme.
„Du hast mein Wort, Platoff! Nun komm und lass uns einen Blick auf die Newa werfen!“ erwiderte Ahmed.
Zehn Minuten später fuhren die beiden Freunde in rasendem Trab am Ufer der Newa entlang, und die Sorgen des Tages traten ein wenig zurück.
Während Ahmeds Aufregung sich zur Freude des Artilleriehauptmanns allmählich legte, wurden in dem Tete-a-tete an Nadja Vronskys Tisch die dunkelsten Pläne ausgeheckt.
Mit seiner weichen Stimme legte Mustapha seiner Gefährtin die verworrenen Fäden der von dem fürstlichen Deserteur angezettelten Intriguen bloss.
„Da Sie nach Konstantinopel gehen, Gräfin, müssen Sie alles erfahren. Ich habe Ghazi den Oberbefehl über die armenische Kavallerie versprochen, aber einige private Angelegenheiten sind noch bei der Pforte zu erörtern, weshalb Sie, ohne auffällige Eile, baldmöglichst via Wien mit der Bahn nach dem Bosporus reisen müssen. Uns können jeden Augenblick unsre Pässe ausgefolgt werden, denn Gortschakoff, Schuwaloff, Oubrey und dieser Erzteufel Nikolaus Ignatief sind bereit, die Lunte an die Mine zu legen.“
„Kann ich hier nicht mehr von Nutzen sein?“ flüsterte die schöne Intrigantin, denn in Petersburg haben die dicksten Steinmauern Ohren von fabelhafter Feinheit.
Lächelnd griff Mustapha nach dem verbotenen Weinglas. „Liebe Freundin, Sie haben wahre Wunder vollbracht und wissen ja, was der Rat für Sie thun wird, aber jetzt ist hier doch allgemein bekannt, dass das Weib, das sich Vronsky an der Donau erobert hat, im Grund ihres Herzens keine Russin ist! Ihr wunderbares Talent hat hierzu viel Aufmerksamkeit erregt.“
„Und in Konstantinopel werde ich mit Ghazi zusammentreffen?“ fragte sie lebhaft.
„Ich fürchte nicht, Nadja,“ erwiderte Mustapha, der über sein Glas hinweg nach den wohlgebildeten Alabasterschultern der geheimen türkischen Spionin hinüberschielte. „Lange vor Ihrer Ankunft dort erklimmt Ghazi die steilen Felsenhöhen Daghestans oder wandert mühselig über die Bergketten von Kasbek, denn dort soll er Zwietracht säen und im geheimen einen Aufstand gegen die russischen Hunde vorbereiten. Wohlbekannt in den Schluchten des Kaukasus und überaus geschickt in der Kunst der Verkleidung, wie er ist, wird es ihm gelingen, unbeachtet durchzuschleichen, aber zu diesem Zwecke muss er sich verschiedenster Verkleidungen bedienen, um den schlauen armenischen Teufel, den Loris Melikoff, zu überlisten, und dabei kann er Sie nicht brauchen. — Ich habe ihn sogar gebeten, nicht nach Tiflis zu gehen, denn Melikoff würde ihn ohne Bedenken standrechtlich erschiessen lassen, falls man ihn erwischte. Sie selbst werden vermutlich nach den Fürstentümern zurückgeschickt werden,“ schloss Mustapha und schielte nach dem im Netze zappelnden Vogel.
„Ich würde vor keiner Gefahr zurückschrecken, wenn ich zu Ghazi nach Armenien gehen könnte. Bitte, machen Sie Ihren Einfluss zu meinen Gunsten geltend, Mustapha,“ bat die bleiche Schönheit den süsslichen, schmeichlerischen Türken.
„Chère Comtesse,“ erwiderte Mustapha in seiner glatten Weise, indem er seinen Stuhl näher zu dem des leidenschaftlich erregten Weibes hinschob, „er wird Sie nicht vermissen, denn er hat auf seines Vaters Amulett geschworen, die schöne Prinzessin Maritza von Tiflis zu bezwingen und in seinen Harem zu führen. Die Familie der Prinzessin befindet sich, wie Sie wohl wissen werden, jetzt im Besitz der ehemaligen Herrschaft Schamyls.... Seien Sie vernünftig, Nadja, toben Sie jetzt nicht.“ Mustapha hielt inne; er hatte sich auch einen Plan zurechtgelegt, wie er die weisse Gräfin Vronsky in seinen eigenen Taubenschlag an den von Myrten beschatteten Ufern von Stambul locken möchte.
„Warum sucht er dies Weib? Sagen Sie mir warum,“ fragte die Gräfin, die sich die Lippen blutig biss.
„Ach, schöne Frau,“ erwiderte Mustapha langsam, indem er seine kecken, dunkeln Augen auf ihren Reizen ruhen liess; „in seinem steinernen Herzen opfert er neben dem Teufel ‚Begierde‘ auch dem Moloch ‚Rache‘. Er schwört, er wolle sie noch zwingen, ihm angesichts seiner Truppen den Steigbügel zu halten, weil sie ihn letzten Winter, während ihres Aufenthaltes hier, verhöhnt und verletzt habe.“
„Und mich hat er betrogen und belogen, der kaltherzige Teufel!“ stiess Nadja Vronsky heiser hervor.
„Ach, schöne Dame, so hat er Sie wohl damals versichert, sein Herz gehöre Ihnen einzig und allein!“
Mustapha lehnte sich lässig zurück und ergötzte sich an ihrer Verzweiflung. Dieser Zwischenfall verlieh der feinen Mahlzeit erst die eigentliche Würze. Das war der Wein des Lebens! „Denken Sie nur an den Herzog im Rigoletto, liebe Nadja; während er das eine Weib mit starkem Arm umfängt, stirbt das andre, verlassene, nebenan und vernimmt noch ihr glückseliges Lachen. — Es ist wirklich kostbar, eine Frau von Welt, wie Sie, so bis ins Herz getroffen zu sehen!“
„Bei dem Gott, der uns erschuf, schwöre ich, dass ich mich zu rächen wissen werde!“ rief das aufgeregte Weib.
„Bah, liebe Gräfin, in Georgien, dem Land der Rosen, gibt es noch gar manche knospende Schönheit.... Die königlich gebauten Georgierinnen sind die schönsten Weiber der Serails.... Nun seien Sie aber vernünftig und folgen Sie meinem Rat: Ghazi ist ein Mensch ohne jedes Gefühl, und Sie sollten einen andern, der Ihnen im Augenblick näher ist als Ghazi, besser verstehen lernen.“
Wohlgefällig blickte Mustapha bei diesen Worten auf sein Ebenbild im Spiegel.
Die weisse Gräfin betrachtete ihn mit eiskaltem Blick und erwiderte in einer das Verderben herausfordernden Laune: „Sie glauben, ich sei in Ihrer Macht, und wünschen mich an Ihren Triumphwagen zu spannen, aber noch bin ich ein Weib, das seinen eigenen Weg geht.“
Gelassen verbeugte sich Mustapha und drehte sich eine Cigarette, während er entgegnete: „Ich kenne Sie als die Anbetungswürdigste Ihres Geschlechtes, aber vielleicht sind Sie ein wenig kurzsichtig. Ich meinerseits gebe mich nie mit Drohungen ab, denn es ist am klügsten, man lässt einem feurigen Renner die Zügel. Sie wünschen Ihren eigenen Weg zu gehen, schöne Frau — thun Sie’s! Ich lade Sie nach Konstantinopel ein, aber Sie ziehen vor ...“
„Meinen eigenen Weg zu gehen!“
Die Stimme der Gräfin klang hart und trocken, als sie diese Worte hervorstiess.
„Und der führt nach Sibirien,“ flüsterte Mustapha freundlich und warf nachlässig einen Brief auf den Tisch. Die Gräfin ergriff das Blatt, das ihren bebenden Händen entfiel, nachdem sie es gelesen hatte.
„Wollen Sie mich preisgeben?“ fragte sie angstvoll.
„Niemals,“ erwiderte Mustapha in vergnügtem Ton und schlürfte ein Gläschen Likör. „Als ich dieses Schreiben vom Auswärtigen Amt erbrach, wusste ich sofort, dass sie einen Sündenbock brauchen, um Ghazis Desertion zu verdecken. Man fragt bei mir an, ob Sie sich unter türkischem Schutz befinden, und als Vronskys kinderlose Witwe können Sie leicht auf die durch Ihre Heirat erworbene Staatszugehörigkeit verzichten.“
Mit väterlichem Wohlwollen betrachtete Mustapha die weisse Gräfin, während er vergnüglich weiterplauderte: „Nicht wahr, schöne Frau, bei jener Ceremonie sind einige kleine Unregelmässigkeiten vorgekommen, als da sind Mangel der kaiserlichen Genehmigung, der griechisch-katholischen Taufe und Ihrer Papiere — nicht wahr?“
Schweigend nickte Nadja mit dem Kopfe.
„Dann sind Sie gerettet, bella figlia. Gortschakoff gibt mir den höflichen Wink, Sie mit einer von mir ausgestellten Legitimation aus dem Lande zu schaffen, weil er ein sofortiges Abbrechen der diplomatischen Beziehungen wegen Ghazi vermeiden will. — Ist es Ihnen recht, so will ich das thun. Die vornehme Welt wird eben an ein Liebesabenteuer des Cirkassiers Schamyl glauben, denn sein rücksichtsloses und kopfloses Wesen ist hier ja zur Genüge bekannt. Man verschwindet — verlebt ein paar glückselige Monate in Italien, am Strand des blauen Mittelmeeres — die Dame bleibt verschwunden — der Reisende kehrt zurück — die Zeit bedeckt die glühende Lava der Liebe mit ihrer Asche — eine alte, uralte Geschichte hierzulande.“
Nadja warf dem spottenden Sybariten einen zornfunkelnden Blick zu, was diesen aber nicht abhielt, in sich hineinzukichern und fortzufahren: „Alle Welt wird glauben, Ihre blauen Augen, schöne Gräfin, hätten den wilden Prinzen seiner Pflicht abspenstig gemacht.“
Bei diesen Worten brach sie in Thränen aus.
„Also machen Sie, dass sie fortkommen,“ sagte er in entschiedenem Ton; „es handelt sich um Ihre Sicherheit, denn falls Sie meinen Schutz ablehnen, werden diese kalten Slaven sich an Ihnen für Ghazis Desertion rächen. Geben Sie Ihre Zugehörigkeit zu Russland zu, so sind Sie verloren. Noch kann ich Sie beschützen, und ich will es auch, vorausgesetzt, dass Sie die Welt mit meinen Augen sehen.“
Behaglich lehnte sich Mustapha in seinen Stuhl zurück — sein Vögelchen ging auf den Leim.
Nadja gedachte der wachsamen, mit Narben bedeckten nubischen Eunuchen, die, den Pallasch in der Hand, die steinernen Thore der moslemitischen Harems bewachen, und wie ein Blitz zuckten ihr die Worte Dantes durch den Kopf:
„Lasciate ogni speranza voi ch’entrate.“
Allein ein Serail am Bosporus ist immerhin nicht mit Sibirien zu vergleichen. Gleichwohl schlug der Vogel noch einmal mit den Flügeln.
„Aber — meine Ehre!“ flüsterte die Gräfin unter neuen Thränengüssen.
„Sapristi, schöne Dame,“ erwiderte Mustapha sorglos, „Ehre ist ein rein relativer Begriff, und Sie werden sich am Bosporus ganz wohl befinden, denn dort herrscht die Schönheit ‚sine qua non‘.“