Читать книгу Prinz Schamyls Brautwerbung - Richard Henry Savage - Страница 7

Drittes Kapitel.

Оглавление

In der Reitschule der Kavallerie. — Zu Gortschakoff befohlen. — Dimitris Geschick. — Am Goldenen Horn.

Zwei Tage, nachdem Nadja Vronsky sich Mustaphas Logik gefügt hatte, stieg sie am Bahnhof mit müdem Schritt aus ihrem Schlitten, um Russland für immer den Rücken zu kehren.

Nur mit den notwendigsten Toilettegegenständen und ihren Juwelen versehen, hatte sie in Begleitung ihrer Kammerjungfer ihre Wohnung verlassen und die Ordnung ihrer Angelegenheiten, hauptsächlich die Bezahlung ihrer Schulden, dem siegesfrohen Mustapha überlassen, der ruhig erklärte: „Je me charge de tout.“

Der Dwornik hatte Befehl erhalten, in allen Stücken den Anordnungen von Mustaphas Geschäftsführer nachzukommen, der mit der Ordnung von Frau von Vronskys persönlichen Angelegenheiten betraut worden war. Der Aermste!

Es war ein trüber Morgen. In den geschäftigen Gruppen auf den Strassen berührte bald hier ein Bekannter grüssend den Hut, bald lächelte ihr dort eine befreundete Dame zu, aber niemand ahnte ihre Abreise, und ungeleitet und traurig verliess die Gräfin die Stadt, wo sie ihren guten Namen für immer hinter sich liess. Nadja Vronsky wusste wohl, mit welch kaltem Hohn die zischelnden Schlangenzungen der Damen der grossen Welt sich über ihren eigentümlichen Geschmack in der Wahl des rohen Ghazi lustig machen würden.

War sie eine Marionette in der Hand der Polizei, ein Opfer des schlauen Mustapha, der Sündenbock des alten Gortschakoff, der noch nicht bereit war, Ghazi offen der Schande preiszugeben? „Quien sabe!“

Ob sie wohl verfolgt und bewacht wurde? Ob die Russen hofften, durch sie den Aufenthalt Ghazis festzustellen? Ach, auf all diese Fragen konnte sie keine Antwort finden, und seufzend liess sie ihr Haupt auf die Polster sinken. Sie wusste nur das eine: dieser Ausweg war der einzig mögliche für sie, denn Konstantinopel war vielleicht zu ertragen — Sibirien nie und nimmer. Das gleichmässige Gerassel der Räder wiegte sie schliesslich in Schlummer, und in ruhelosen Träumen wanderte sie ins Land der Freiheit — in die Zukunft; Ghazi befand sich ihr zur Seite, und Ghazi war zärtlich gegen sie.

Seltsame Verkehrtheit des Frauenherzens, das sich ans Unmögliche klammert und stets vom Unerreichbaren träumt!

Während Mustaphas Beute, für deren Bequemlichkeit er in ausgiebigster Weise gesorgt hatte, gen Süden entfloh, war er mit der Lösung hochwichtiger diplomatischer Fragen beschäftigt und sandte dem Wandervogel nur einen flüchtigen Gedanken nach.

„Sie hat mir eine offizielle Erklärung erspart, wird drunten gute Dienste leisten und ist auch sonst nicht übel. Mein Geschäft hier wird bald erledigt sein, denn die Stunde naht, wo das Schwert die feingeschlungenen Lügenknoten der Diplomatie durchhauen wird, und dann werden wir in den Hainen der Dardanellen köstliche Stunden verleben, vorausgesetzt, dass die weisse Gräfin die Sache nicht tragisch nimmt; doch wird es ja wohl Mittel und Wege geben, diesen Falken zu zähmen.“

Mittlerweile lag Ahmed Schamyl Tag um Tag seinen militärischen Pflichten aufs strengste ob.

Gleich allen grossen Städten Russlands hatte sich Petersburg zur Zeit in ein Feldlager verwandelt, in eine Art Hochschule der Kunst — erschossen zu werden.

Scharenweise waren die blauäugigen, kräftigen Russen mit ihren buschigen Schöpfen in den letzten Monden eingezogen worden, um das eine Ende einer Flinte vom andern unterscheiden zu lernen, und Turnen und Exerzieren wechselten unaufhörlich miteinander ab. In der Militärreitschule zu St. Petersburg erhielten auch die Musterbataillone den letzten Schliff, ehe sie der türkischen Kavallerie gegenübertreten sollten.

Als ausgezeichneter Soldat, als Reiter von klassischer Eleganz und als gewandter, in der Blüte der Jugend stehender Mann war Ahmed Schamyl der zweite im Kommando dieser „Elite der Elite!“

Während er sein prächtiges Tier in der Mitte der Reithalle zügelte, um seine Reiter ein wenig verschnaufen zu lassen, sah Prinz Schamyl seinen Freund, den Hauptmann Platoff, ebenfalls beritten an der fernen Eingangsthüre halten, und im nämlichen Augenblick meldete eine Ordonnanz, Platoff lasse ihn um eine kurze Unterredung bitten. Im nächsten Moment schon befand sich Ahmed an Platoffs Seite und sprang aus dem Sattel.

Paul flüsterte ihm einige Worte ins Ohr, und sein Antlitz bedeckte sich mit tödlicher Blässe. — „Ein Adjutant ist auf dem Weg hierher mit Befehlen für Major Ahmed Schamyl!“

Paul war durch seinen Bruder Iwan sofort benachrichtigt worden und schleunigst hierher geeilt, weil er wusste, dass keine Zeit zu verlieren war.

„Vergiss nicht, was du mir bei deiner Ehre versprochen hast — Ruhe, keine Uebereilung!“

„Ich werde dir gehorchen, Paul, nur kann ich meine Ehre nicht überleben.“

Damit winkte er sein Pferd herbei, denn eine Gruppe von Generalen erschien unter dem Thor, um eine Inspektion vorzunehmen.

„Noch steht ja alles gut; nur sind Ghazis Verschwinden und seine Schande jetzt allgemein bekannt geworden,“ flüsterte Paul.

Prinz Ahmed sprang in den Sattel, flog in die Mitte der Halle, liess seine tapferen Reiter salutieren und erwartete weitere Befehle.

Es war ein wahrhaft erhebender Anblick, wie diese erlesenen, stattlichen Männer mit dem Säbel in der Hand die strengen, düster blickenden Vorgesetzten begrüssten, die im Begriff standen, sie alle dem beturbanten Feind entgegenzuwerfen und sie hinauszusenden auf den letzten, verwegenen Ritt, an dessen Ende der Tod ihrer harrte.

Ja, Russlands bestes Blut strömt auf den Schlachtfeldern so reichlich dahin, wie die eisigen Wogen der Newa, wenn sie die Fesseln des Winters sprengen und sich in die See ergiessen.

Hassan, der narbenvolle Cirkassier, hielt Ahmeds zweites Pferd und betrachtete seinen Herrn mit bewundernden Blicken. Im Grunde seines Herzens fluchte der unbotmässige alte Krieger, als er Gurko, Lazareff, Skobeleff und andre der Männer erkannte, die bestimmt waren, in diesem grimmen Kriegsspiel die Russen gegen die Türken zu führen. Verdammte Giaurs!

Gewiss, Hassan wollte seinem Herrn getreulich durch den Kugelregen und den Pulverdampf folgen, aber wäre es nicht um den jungen Prinzen, so würde seine alte Hand auf der andern Seite den krummen Säbel schwingen.

Nach dem Salutieren verliess ein Offizier den Kreis der goldgestickten Uniformen, näherte sich Schamyl und übergab ihm einen Befehl.

Der Prinz wirft einen Blick darauf, wendet sich zu seinem Adjutanten, überreicht ihm den Befehl und hält regungslos auf seinem Pferd, während der Adjutant vorreitet und ihn vorliest. Alle Offiziere brennen vor Verlangen, seinen geheimen Sinn zwischen den Zeilen zu lesen.

„Ausserordentlicher Tagesbefehl.

„Major Prinz Ahmed Schamyl ist seines Dienstes beim Musterbataillon enthoben und hat sich zur Entgegennahme besonderer Instruktionen sofort beim Generalkommando zu melden.“

Totenstille herrscht in dem weiten Raum; sobald der Name von Schamyls Nachfolger genannt ist, reitet dieser Offizier aus dem Glied und übernimmt das Kommando.

Ahmeds Finger liegt auf dem Hahn seiner Pistole — der Augenblick ist da, wo es heisst, der Schande entfliehen — Blut sühnt ja jede Schuld!

Und doch — sein Paul gegebenes Versprechen hält ihn zurück. Er will noch zuwarten, aber in Gegenwart des grimmen, alten Gurko, bei dem er sich zu melden hat, wird er sich an der Grausamkeit des Schicksals rächen; denn er ist entschlossen, seine Ehre nicht zu überleben.

Nun reitet er zu den Generalen hinüber, steigt ab und schickt sein Pferd hinaus, mit dem Befehl, ihn draussen zu erwarten.

Dann tritt Prinz Schamyl an den Offizier hinan, der den Befehl überbracht hat, salutiert und fragt, wann und wo er sich zu melden habe.

Der Offizier wechselt einige Worte mit dem Generalstabs-Chef und heisst Schamyl sich sofort und hier bei General Gurko melden, der den Mittelpunkt der glänzenden Gruppe bildet und gleichzeitig auch Gouverneur von St. Petersburg ist.

Prinz Ahmed schreitet auf ihn zu und salutiert den strengen, alten Soldaten, der sich noch nichts träumen lässt von den seiner im Balkan harrenden neuen Lorbeeren.

Als die Ceremonie erledigt war, brummte Gurko: „Bitte, bleiben Sie bei uns, Prinz, und frühstücken Sie nachher mit mir. Ich möchte Ihnen Ihre Instruktionen selbst erteilen.“

Alles Blut drängt Ahmed nach dem Herzen, und er stösst einen Seufzer der Erleichterung aus; denn dieser Empfang in dem glänzenden Kreis beweist ihm, dass das eiserne Schicksal einem auch manchmal angenehme Ueberraschungen bereitet!

Als Soldat weiss Schamyl, dass seiner irgend eine hohe Aufgabe, und nicht die Schande harrt; denn in dieser öffentlich getroffenen, feierlichen Wahl lag eine feine militärische Schmeichelei — der russische Bär kann mit seinen schweren, plumpen Tatzen ganz artig streicheln, wenn er will.

Ahmed schloss sich dem Gefolge der Generale an und wunderte sich, wie langsam sich die kurzen Dienstpflichten eines Morgens hinschleppen können; die Minuten dehnten sich ihm zu Stunden — welcher Befehl mochte seiner wohl harren?

Aber alles nimmt einmal ein Ende, auch das vormittägliche Exerzieren, und eine halbe Stunde später erquickten sich die vornehmen Befehlshaber in dem nahen Offizierskasino an einem glänzenden Mahl, denn das Recht, ihre Vorgesetzten zu bewirten, wird den eleganten Kasinos in Petersburg in unbeschränktem Masse eingeräumt.

Nach dem Kaffee und den Cigarren erhielt Schamyl, der inmitten der höchsten Generalstabsoffiziere sass, einen Wink von Gurko. Sofort trat er hinzu und nahm in einem ihm von dem General bezeichneten Sessel Platz. Aller Augen waren auf ihn gerichtet.

Der Augenblick der Entscheidung war da!

Gurko befand sich in ausgezeichneter Stimmung; die Speisen und Getränke hatten den kritischen Gastronomen befriedigt und beschwichtigt, denn Gurko war ein ebenso grosser Freund vom Essen als vom Kämpfen — nur dass er im ersteren viel zartfühlender und empfindlicher war.

„Herr Major, ich habe den Befehl erhalten, Sie persönlich zu Fürst Gortschakoff zu senden wegen einer besonderen detachierten Dienstleistung. Es wird am besten sein, Sie begeben sich sofort zu ihm. Mir thut es sehr leid, Sie nicht an der Donau zu haben, aber Sie werden da, wo Sie hingehen, auch genug zu thun bekommen. Wenn Sie nach Armenien gehen, werden wir uns, wie ich hoffe, vielleicht in Konstantinopel wiedersehen. Ihnen, lieber Prinz, wünsche ich von Herzen Glück, denn der Kriegsminister hat mir gesagt, Sie seien zu diesem Dienst ausersehen worden wegen des Vertrauens, das der Kaiser in Ihre Loyalität setzt, und wegen Ihrer genauen Kenntnis des Kaukasus. Noch ein Glas Wein, Herr Major, und dann melden Sie sich sofort!“

Ahmed Schamyl war schon des öfteren einem Gegner auf zehn Schritt gegenübergestanden, und seine Nerven hatten ihm nicht versagt, wenngleich sein Leben von dem Druck eines Fingers abhing — heute aber zitterte das Weinglas in seiner Hand, als er mit dem General anstiess.

Dann erhob er sich, verbeugte sich tief vor dem General, winkte seinen Freunden einen Abschiedsgruss zu und verliess das Gemach.

In seinen Ohren klangen noch immer die Worte nach: „Wegen des Vertrauens, das der Kaiser in Ihre Loyalität setzt, und wegen Ihrer genauen Kenntnis des Kaukasus“.

Grosser Gott! Ein besseres Mittel, um allem lächerlichen Gerede ein Ende zu machen, hätte sich ja gar nicht finden lassen, denn die Worte des grossen Kaisers reichen weit; in der Gesellschaft, in den Klubs und besonders in der Armee ist das Vertrauen des Kaisers wie ein lichter, goldener Stern, der den Weg dessen, dem er leuchtet, weithin erhellt. Der junge Major schwor sich bei seinem Haupt, dass sein Herz und seine Hand dem fürstlichen Gebieter, der seiner noch unerprobten Loyalität so offen vertraute, nie versagen sollten.

Die Kugeln in seiner Pistole wollte er nun für die türkischen Feinde des betagten Zaren Alexander aufbewahren.

Fürst Gortschakoffs Arbeitszimmer im Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten war ein Ort gelehrter Zurückgezogenheit, und Würde und Ruhe herrschten in dieser Halle des Gedankens.

Haufen von Nachschlagebüchern, politische Weltkarten der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, mit Papieren vollgestopfte Mappen, deren jede ein Staatsgeheimnis enthielt, und die Telegraphendrähte des Zaren, die dies Allerheiligste mit allen Enden der Erde verbanden — das ungefähr waren die Waffen, mit denen hier gekämpft wurde.

Feierlich aussehende Sekretäre, behutsame Wächter und grimmig blickende Schildwachen behüteten die Archive des gewaltigen Reiches der Romanoffs.

An einem mit Papieren bedeckten Tisch sass der alte Gortschakoff und prüfte die Uebersetzung von General Ignatiefs Chiffern....

Damals hielten drei Männer das Geschick Russlands in ihren Händen: der Zar, das Kind der Autokratie, Gortschakoff, der Held unzähliger diplomatischer Scharmützel, der echte Sohn des alten russischen Genius, und Nikolaus Ignatief, ein entschlossener, vorwärtsstrebender Mann, die Verkörperung des feinen, gebildeten Tataren unsres Jahrhunderts — dies war das grosse Triumvirat.

Als ein Diener den Major Schamyl anmeldete, nahm der Fürst ein kleines Kärtchen mit Notizen zur Hand und nickte.

„Nehmen Sie Platz, Herr Major,“ sagte er freundlich, als der junge Offizier eingetreten war.

Ahmeds Pulse flogen, angesichts des pergamentartigen, glatten Gesichtes vor ihm, das so vornehm und fein aussah als das eines alten Marquis, und das einem Manne gehörte, der ihn, ohne zu zucken, dem sicheren Tod entgegenschicken würde.

Der Premierminister betrachtete seinen Gast scharf und begann dann: „Ich wünsche, Herr Major, dass Sie sich bereit machen, sofort nach Odessa zu reisen, denn Sie sind dazu ausersehen worden, in besonderem Auftrag unter General Ignatief in Konstantinopel thätig zu sein. Ein Kanonenboot wird Sie nach dem Bosporus befördern, aber Sie sollen das Schiff nicht verlassen, ehe der General, der von Ihrer Ankunft unterrichtet werden wird, Sie zu sich bescheiden lässt. Dann werden Sie zur Nachtzeit ans Land gehen und sich mit ihm besprechen. Suchen Sie Ihre Persönlichkeit zu verbergen und tragen Sie ja keine Uniform.“

Durch eine Verbeugung erklärte Ahmed, dass er diese Weisungen verstanden hatte.

„Sie bleiben dem Auswärtigen Amt zugeteilt,“ fuhr der Fürst fort, „bis die Feindseligkeiten eröffnet sind. Mein Sekretär wird Ihnen einen für Sie bewilligten Vorschuss in Ihre Wohnung bringen, und für alles Weitere wird General Ignatief sorgen. Selbst hier dürfen Sie mit niemand weder von Ihrem Auftrag, noch von Ihrem Bestimmungsort reden. Völlige Verschwiegenheit ist durchaus nötig. Treffen Sie Ihre Vorbereitungen für eine lange Abwesenheit, denn Sie werden nicht hierher zurückkehren, ehe die Krisis vorüber oder der Krieg zu Ende ist. Weitere Instruktionen wird Ihnen General Ignatief erteilen. Lassen Sie mir Ihre Ankunft in Odessa durch den dortigen kommandierenden General melden, der auch dem Kanonenboot seine weiteren Ordres zustellen wird. — — Wann können Sie abreisen ...?“

Die kalten grauen Augen des Fürsten ruhten dabei forschend auf dem Jüngling.

„Mit dem nächsten Zug, Durchlaucht.“

„Gut,“ erwiderte der alte Premier, indem er aufstand und Ahmed seine Hand reichte. „Prinz Schamyl, der Kaiser schenkt Ihnen sein Vertrauen. Ich hoffe, dass er Ihnen nach Ihrer Rückkehr eine Audienz gewähren wird, und glaube, dass er mit Ihnen zufrieden sein kann. Er hat mir den Auftrag erteilt, Ihnen zu sagen, dass er Sie für einen russischen Offizier und für einen treuen Unterthanen hält. Sie können die Ehre Ihres Hauses getrost seinen Händen anvertrauen.“

Ahmed beugte sich tief über des alten Mannes Hand, dessen Fingerspitzen er mit den Lippen berührte, denn das ausserordentliche Zartgefühl des Premiers hatte sein Herz gewonnen. Dann zog er sich zurück.

Während der junge Krieger mit klirrenden Sporen die Treppe hinuntersprang, liess sich der alte Gortschakoff in seinen Sessel nieder und flüsterte: „Ein tapferer, ritterlicher Bursche! Ach, auch ich bin einmal jung gewesen.“

Die Zeit, wo er die Stütze des grossen Nikolaus gewesen war, tauchte aus dem Nebel der Vergangenheit empor; nun war er auf seine alten Tage der Richelieu eines andern Zaren geworden, für den die Russen in den Kampf ziehen sollten, und abermals sollten die Ufer des Schwarzen Meeres vom Donner der Kanonen erdröhnen.

Seufzend überlegte Gortschakoff, ob nicht am Ende die Raben auf den Leichenfeldern allein einen Gewinn aus diesem Kampf ziehen würden, und mit auf dem Rücken gekreuzten Armen schritt der alte Mann auf eine grosse Wandkarte von Europa zu. Auf dem Punkt, der Konstantinopel bezeichnete, blieb sein Blick haften.

„Ach, England — wenn nur England —“

Ein neuer Besuch wurde gemeldet und sein Sinnen dadurch unterbrochen.

Prinz Schamyl war bereits vergessen — hatte er ihn gleich hinausgesandt auf Leben oder Tod: „Im Namen des Zaren!“

In schnurgerader Linie, mit lautpochendem Herzen sprengte Ahmed nach seiner Wohnung zurück, und im nächsten Augenblick befand sich der alte Hassan auf dem Weg zu Paul, dem er die Botschaft überbrachte: „Komm sofort! In einer Stunde reise ich ab.“

Noch ehe Platoffs Schlitten vorfuhr, hatte Ahmed seine Vorbereitungen halb beendet. Ein Sekretär vom Auswärtigen Amt erschien und überreichte ihm zwanzigtausend Rubel mit den Worten: „Diese Summe ist für Ihre persönlichen Bedürfnisse bestimmt, Hoheit; darf ich um eine Empfangsbescheinigung bitten?“

Als er eben das Zimmer verliess, kam Platoff hereingestürmt, dem Ahmeds glückstrahlende Augen sofort verrieten, dass alles gut stand.

Als die Freunde sich gesetzt hatten, rief Ahmed: „Paul, mein Leben gehört dem Kaiser! Ich reise sogleich ab, darf dir aber nicht sagen wohin, nur das sollst du wissen, dass es eine ehrenvolle Mission ist, mit der man mich betraut. Meine Pferde lasse ich dir, nimm sie mit ins Feld; Kara, dem Rappen, kannst du dein Leben anvertrauen. Mein Dwornik bleibt vorderhand hier; schicke mir ihn mit meinem Gepäck und meiner Feldausrüstung auf der Wolgabahn nach Wladikawkas, wo er meine weiteren Befehle erwarten soll. Besorge du mir alles und sage ihm, was er zu thun hat.“

Paul machte grosse Augen, als er die Anweisung betrachtete, die ihm Ahmed für seinen Bankier übergab.

„Schicke mir meine Briefe nach, wenn ich dir telegraphiere. Aber nun,“ rief Ahmed, mit einem Blick auf seine Uhr, „nun wollen wir uns noch einmal miteinander zu Tisch setzen, denn ich fürchte, wir werden uns erst wiedersehen, wenn der letzte Schuss gefallen ist.“

Ein Imbiss stand auf dem Tisch, und während die beiden Freunde ihm alle Ehre anthaten, erschien Hassan und fragte: „Werde ich Hoheit begleiten?“

Ahmed überlegte einen Augenblick, denn seine Instruktion hatte diesen Punkt nicht erwähnt, doch er konnte den Alten ja leicht von Odessa zurückschicken, und so entschloss er sich, ihn mitzunehmen.

„Bestelle einen Schlitten für dich und das Gepäck,“ erwiderte Schamyl.

Noch ehe die Herren ihre Flasche Burgunder geleert hatten, war Hassans Schnappsack gepackt, der nichts enthielt als seinen Soldatenmantel, seinen Sattel, die Feldflasche und den Tabaksbeutel, seine Pistolen und den „Chaska“, die er schon zwanzig Jahre im Gebrauch hatte.

Prinz Schamyl, der schon seinen Anzug gewechselt hatte, machte in einem dunkelgrauen Rock und hohen Stiefeln, in einem schweren Mantel mit Zobelkragen und einem Turban aus Otternpelz ganz den Eindruck eines reichen Reisenden aus guter Familie.

Seine Banknoten, Karten, Pläne, Pässe und Revolver befanden sich, nebst einigen Büchern zum Zeitvertreib während der langen Eisenbahnfahrt, in einer Reisetasche.

Nun war es aber Zeit aufzubrechen. Noch ein Glas auf den Weg! Pauls Gedanken beschäftigten sich wieder mit Ghazi, und sie tranken mit bedeutungsvollem Lächeln auf das Wohl der „Rose von Tiflis“.

Als sie schon im Schlitten sassen, sagte Paul noch: „Ahmed, ich errate deinen Weg — möchte er dich nach Tiflis führen. Sei auf der Hut vor Ghazis abgefeimten Teufeleien und wache über Prinzessin Maritza. Der Herr sei ihr gnädig, wenn sie je in die Hände deines Bruders fällt, dessen Pläne sich in noch unaufgeklärter Weise auch mit ihrer Zukunft befassen.“

Hastig erwiderte Ahmed: „Ich danke dir, Paul. Du sollst von mir hören. Halte mich stets von allem unterrichtet und wache über meinen Namen.“

„Das kannst du mir getrost überlassen. Seit heute früh ist deine Stellung allen bekannt, und noch vor Abend weiss jede schöne Frau in St. Petersburg, dass du mit Gurko gefrühstückt hast, und das genügt. Wir brauchen ja keine Zeitungen, solange wir unsre Damen haben.“

Paul lachte vergnügt, denn sein Freund befand sich ja auf dem Pfad der Ehre.

Die beiden Freunde glitten flink durch die Menge, und bald waren die Fahrkarten gekauft, denn ein Blick auf Schamyls Pass, der ein spezieller kaiserlicher Pass erster Klasse war, veranlasste den Schalterbeamten, seine schläfrigen Augen weit aufzureissen.

Noch blieben zehn Minuten bis zu Abgang des Zuges, und auf dem langen Bahnsteig mischte sich Seufzen und Schluchzen in lustiges Gelächter und harmloses Geplauder. Wäre Schamyl erkannt worden, so hätte seine Verkleidung „en moufti“ alle Zungen in Bewegung gesetzt.

Der Moskauer Bahnhof in St. Petersburg ist gleich der weiten, weiten Welt ein Ort, wo Wiedersehen und Scheiden, wo Kommen und Gehen, wo Freude und Trauer, wo Glück und Unglück sich in ständigem Wechsel bewegen.

Schamyl und Platoff gedachten ihrer langjährigen Freundschaft und tauschten liebevolle Blicke. Sie wussten wohl, dass sie vor einem ernsten Kriege standen, dass der Ruhm Russlands in blutigen Kämpfen gewonnen wird, und dass sie, voneinander getrennt, dieser Seifenblase auf den verschiedensten Schlachtfeldern nachjagen würden.

Immerhin war es „cor unum, viae diversae“.

Das letzte Glockenzeichen ertönte, mit zitternder Stimme sprach Ahmed: „Paul, wir müssen scheiden! Sollte ich nicht mehr wiederkehren, so vergiss nicht, dass du mein einziger Bruder warst. Nimm meinen letzten Wunsch auf den Weg, denn auch du musst bald ausrücken, sei tapfer, siegreich und glücklich! Kehre heim als General!“

Platoffs Augen wurden feucht, als ein gellender Pfiff der Lokomotive die Abfahrt verkündigte.

„Ahmed, mein Freund und mein Bruder! Gott schütze dich! Sei auf der Hut vor Ghazis Verräterei! Ich erwarte Ruhmesthaten von dir! Fürst des Kaukasus, stehe fest zum Zaren!“

Eine letzte Umarmung! Paul sprang mit dem Zug und stiess an einen Mann, der eben noch hineinsprang; in diesem erkannte Prinz Schamyl, der, als der Fremde vorüberlief, gerade die Thüre zuwarf — Dimitri, den griechischen Erzschurken und Kuppler, den Spion Ghazis!

Mit einem grellen Pfiff setzte sich der Zug in Bewegung, und Ahmed wagte sich nicht mehr zu zeigen, um Platoff nachzusehen, der sehnsüchtig den verschwindenden Wagen nachstarrte.

Wer hatte ihm den Griechen auf die Fersen gehetzt? Das war eine Frage, die Ahmed sehr zu denken gab! Kehrte er in geheimem Auftrage des Deserteurs nach der Levante zurück, oder wollte er sich nur der Obrigkeit entziehen?

Mochte es nun eine Vorsichtsmassregel, eine Art Eingebung oder nur Chikane sein — jedenfalls war es ein Meisterzug des schlauen Mustapha, dass er Dimitri beauftragt hatte, den Cirkassier im geheimen zu beobachten.

Sobald der ottomanische Jago von der eiligen Abreise Ahmeds benachrichtigt wurde, beschloss er, ihn bis ans Ziel der Reise verfolgen zu lassen.

Den Anweisungen Gortschakoffs entsprechend, verliess Schamyl seinen Wagen nicht bis Moskau; ein Blick auf seinen Pass hatte den Schaffner veranlasst, für all seine Bedürfnisse zu sorgen und ihn in seiner Abteilung allein zu lassen.

Alles gehorcht dem Zaren!

Hassan hatte Befehl, sich seinem Herrn bis Odessa gar nicht zu nähern und auch dort mit dem ungezeichneten Gepäck zu warten, bis nach ihm geschickt würde.

Als der Zug in Moskau einfuhr, lag diese Stadt in tiefe, eisige Nacht gehüllt, und Ahmed beschloss, im Schutz der Dunkelheit auszusteigen und sich etwas Bewegung zu machen, nachdem er sein Abendessen im Coupé eingenommen hatte. Er wickelte sich gut ein, stieg aus, ging vor den Bahnhof hinaus und sog in vollen Zügen die frische, kalte Winterluft ein. Dann stampfte er eifrig auf und ab, während sich seine Gedanken seinem geheimnisvollen Auftrag zuwendeten.

Die Glocke ertönte und rief ihn nach dem Zug zurück. Zum Schutz gegen den eisigen Wind bis an die Augen verhüllt, drehte er sich sorglos um, aber als er sich in dem dunklen Durchgang befand, der zum Bahnhof führte, erhielt er plötzlich einen heftigen Stoss vor die Brust. Ein verräterischer Ueberfall, der ihn ins Schwanken brachte. Gleichwohl griff er hastig nach einer dunklen Gestalt, die die lange Strasse ausserhalb des Bahnhofs hinuntereilte. Ahmed wagte nicht, seine Pistole abzuschiessen, weil dadurch seine Identität verraten worden wäre. Noch ganz bestürzt betastete er seine Brust; ja wohl, seine Kleider waren durchschnitten! Eiligst kehrte er in sein Coupé zurück.

Bei geschlossenen Thüren untersuchte er seinen Rock, er war gerade über dem Herzen durchschnitten! Mit einem bass erstaunten Lächeln zog er seine steife Kriegskarte hervor, deren starkes Leder vom Messer des Mörders geschlitzt war. Nur diese mehrfach zusammengelegte Karte hatte ihm das Leben gerettet!

Während sich der Zug in Bewegung setzte, überlegte er sich dies plötzliche Abenteuer. Welchen Grund mochte der Meuchler gehabt haben? Sicherlich weder Raub noch Rache. —

Dieser gewaltige Stoss erinnerte ihn an das Werk levantinischer Bravos — war das dunkle Gespenst nicht Dimitri gewesen? Vielleicht! Gleichwohl durfte er nicht Lärm schlagen um seiner geheiligten Sendung willen! Er untersuchte seinen guten Revolver und hing ihn an einer Schnur um den Hals — das war wenigstens ein Freund in der Not!

Nun untersuchte er den Thürverschluss, den er in Ordnung fand, und rief den Schaffner, denn er war sich bewusst, dass er das Vertrauen des Kaisers rechtfertigen müsse, und dass ein Misslingen gleichbedeutend mit Schande für ihn wäre. Der Schaffner stellte am Ende des Wagens einen Mann auf, der das Coupé des Prinzen bei Gefahr seines Lebens bewachen sollte — der kaiserliche Pass wirkte Wunder.

Zwei Tage später warf sich Ahmed in Odessa in einen Wagen und befand sich in zehn Minuten auf dem Generalkommando, von wo ein Offizier auf den Bahnhof gesandt wurde, der mit Hassan und dem Gepäck sofort nach dem unter vollem Dampf im Hafen liegenden Kanonenboot „Seeschwalbe“ fuhr. Prinz Schamyls telegraphischer Bericht an Gortschakoff wurde vom Hauptquartier des Generals aus abgesandt, und unmittelbar darauf folgte die offizielle Meldung, dass die kecke „Seeschwalbe“ den Hafen verlassen habe. Der Adjutant des Generals hatte den tief in einen Matrosenmantel gehüllten Prinzen an Bord des ihn erwartenden Bootes begleitet.

Der Kapitän hatte Schamyl, nachdem er dessen Befehle in Empfang genommen hatte, in die für ihn bestimmte Kabine geführt.

Das leichte Kanonenboot schoss hinaus ins Schwarze Meer und schleuderte hohe Sprühwellen in die Luft. Die Nacht brach ein, und strahlende, lichte Sterne gingen auf an dem tiefblauen Himmelsgewölbe. Lange, bis tief in die Nacht hinein blieb der Prinz auf Deck, wanderte auf und ab und liess sich von dem Wind, der von den Riesenbergen seiner Heimat herwehte, die Stirne umfächeln.

Er lehnte über die niedrige Brustwehr und sah zu wie sich die phosphoreszierenden Wogen am Kiel des Schiffes brachen und in einer Fülle von gelben Diamanten zersprühten.

Vorwärts durch die geheimnisvolle, schweigende Nacht wälzt der erschauernde Ocean seine Wogen in rastloser Eile nach den Häfen des östlichen Kaiserreiches.

Schamyl träumt von den fichtenbekrönten Schluchten des Kaukasus, von den ragenden Bergen des Nordens und von den Rosenlauben in Tiflis — wird es ihm wohl vergönnt sein, die geistvolle Schöne von Georgien noch einmal wiederzusehen?

Pauls Warnung fällt ihm wieder ein — sein Bruder Ghazi! Welche Teufelei folgt wohl dem Flüchtling auf seinen Pfaden?

Schamyl zweifelt nicht daran, dass Ghazi an den Ufern des Schwarzen Meeres lauert, um den türkischen Horden Hilfe zu leisten.

Plötzlich fegt eine Bö über das tief untertauchende Schiff, und Regenströme ergiessen sich über das Deck; bläuliche Blitze zucken an dem unversehens mit schwarzen Wolken bedeckten Himmel auf, und Ahmed ist im Begriff, sich in seine Kabine zurückzuziehen. Da prallt er auf dem infolge des Gewitters plötzlich verödeten Deck auf einen Mann, der sich heftig gegen ihn wirft, während die Schlagwellen das Schiff hoch emporheben.

Im nächsten Augenblick fühlt der Prinz ein Paar sehniger Arme um seinen Leib, und schon hat ihn der Unbekannte, der sich elastisch unter ihm beugt, halb über der Brüstung; da gleitet der Schurke infolge eines heftigen Stosses des Schiffes aus, aber kein Wort entschlüpft seinen Lippen, während sich der junge Cirkassier mit riesenhafter Anstrengung befreit und den Angreifer — war es vielleicht ein Wahnsinniger? — ergreift und in den schäumenden Strudel schleudert.

Ein zuckender Blitz zeigt Ahmed das Antlitz des Griechen Dimitri, der mit einem wilden Aufschrei versinkt. Das vom Sturm getriebene Schiff lässt den ertrinkenden Verbrecher weit hinter sich.

Prinz Schamyl schwankt in seine Kabine, er lässt den Kapitän rufen und das Schiff untersuchen, wozu er nur den kaiserlichen Erlass vorzuweisen hat, der ihm in Odessa von dem General eingehändigt worden ist und wodurch ihm der Oberbefehl übertragen wird.

Gleichwohl lässt sich nichts ermitteln, als dass der Unbekannte sich mit dem Gepäck an Bord geschmuggelt hat und für einen zur Gesandtschaft gehörigen Diener gehalten wurde.

Hassan, dessen Argwohn nun erregt ist, schläft mit dem Säbel in der Hand wie ein Hund vor der Thüre seines Herrn.

Sowohl in dem mitternächtlichen Mordversuch wie in dem Ueberfall auf Deck erkennt Ahmed die glatte Hand seines Bruders — das war der Fluch von des alten Sultans Amulett.

Nach schwerem, von beängstigenden Träumen beunruhigtem Schlummer erwacht er an der von Cypressen umsäumten Serailspitze am Goldenen Horn.

Prinz Schamyls Brautwerbung

Подняться наверх