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KAPITEL 2

Die Evolution des Leidens

Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn,

außer im Lichte der Evolution.

THEODOSIUS DOBZHANSKY

Vieles am Leben ist wunderbar, aber es hat auch seine harten Seiten. Schauen Sie sich die Gesichter um Sie herum an – wahrscheinlich sehen Sie ziemlich viel Anspannung, Enttäuschung und Sorge. Und Sie kennen auch Ihre eigenen Frustrationen und Sorgen. Die Schmerzen des Lebens reichen von subtiler Einsamkeit und Bestürzung über Stress, Schmerz und Wut in moderatem Ausmaß bis hin zu starkem Trauma und heftiger Qual. Dieses ganze Spektrum ist es, was wir mit dem Wort Leiden meinen. Vieles Leiden ist mild, aber chronisch, wie zum Beispiel Hintergrundgefühle der Angst, Reizbarkeit oder des Fehlens von Erfüllung. Es ist normal, weniger davon zu wollen. Und stattdessen mehr Zufriedenheit, Liebe und Frieden.

Zur Verringerung eines jeden Problems muss man dessen Ursachen verstehen. Dies ist der Grund dafür, warum schon immer alle großen Ärzte, Psychologen und spirituellen Lehrer meisterhafte Diagnostiker waren. Beispielsweise identifizierte der Buddha in seinen Vier Edlen Wahrheiten ein Übel (Leiden), diagnostizierte seine Ursache (Verlangen: ein überwältigendes Gefühl des Bedürfnisses nach etwas), gab ein Heilmittel an (Freiheit von Verlangen) und verordnete eine Behandlung (den Achtfachen Pfad).

Dieses Kapitel untersucht das Leiden im Lichte der Evolution, um seine Ursprünge in unserem Gehirn zu erkennen. Wenn Sie verstehen, warum Sie sich nervös, verärgert, bedrängt, getrieben, traurig oder unzulänglich fühlen, haben diese Gefühle weniger Macht über Sie. Dies allein kann schon Erleichterung bringen. Ihr diesbezügliches Verständnis wird Ihnen auch dabei helfen, besseren Gebrauch von den „Rezepten“ im weiteren Teil dieses Buches zu machen.

Das sich entwickelnde Gehirn

• Das Leben begann vor rund 3,5 Milliarden Jahren. Mehrzellige Wesen tauchten erstmals vor etwa 650 Millionen Jahren auf. (Denken Sie, wenn Sie sich erkälten, daran, dass Mikroben einen Vorsprung von beinah drei Milliarden Jahren haben!) Als vor etwa 600 Millionen Jahren die allererste Qualle auftauchte, waren Tiere mittlerweile so komplex geworden, dass ihre sensorischen und motorischen Systeme miteinander kommunizieren mussten; so erklären sich die Anfänge des Nervengewebes. Während die Tiere sich entwickelten, entwickelten sich auch ihre Nervensysteme, die langsam eine zentrale Leitstelle in Form eines Gehirns hervorbrachten.

• Die Evolution baut auf bereits vorhandenen Fähigkeiten auf. Die Weiterentwicklung des Lebens lässt sich in Ihrem eigenen Gehirn sehen: in Form dessen, was Paul MacLean (1990) als die reptilische, paläo-mammmalische und neo-mammmalische Entwicklungsstufe bezeichnete (siehe Abbildung 2; alle Abbildungen sind ein wenig ungenau und dienen lediglich der Veranschaulichung).

• Relativ neues, komplexes, konzeptualisierendes, langsames und motivational diffuses kortikales Gewebe sitzt auf subkortikalen Strukturen und Strukturen des Hirnstamms, die uralt, einfach, konkret, schnell und motivational stark sind. (Die subkortikale Region liegt in der Mitte Ihres Gehirns, unter dem Kortex und auf dem Hirnstamm; der Hirnstamm korrespondiert ungefähr mit dem „reptilischen Gehirn“, das in Abbildung 2 zu sehen ist.) Während Sie durch den Tag gehen, sitzt in Ihrem Kopf eine Art Eidechsen-Eichhörnchen-Affen-Gehirn, das in einem von unten nach oben verlaufenden Prozess Ihre Reaktionen formt.

• Trotzdem hat der moderne Kortex großen Einfluss auf den Rest des Gehirns und ist durch den Druck der Evolution dahin gehend geprägt worden, dass er beim Menschen die sich ständig verbessernden Fähigkeiten entwickelt hat, Kinder großzuziehen, sich zu binden, zu kommunizieren, zu kooperieren und zu lieben (Dunbar und Shultz 2007).

• Der Kortex ist in zwei „Hemisphären“ unterteilt, die durch den Balken miteinander verbunden sind. Im Verlauf unserer Evolution konzentrierte sich die linke Hemisphäre (bei den meisten Menschen) allmählich auf sequenzielle und sprachliche Verarbeitung, während sich die rechte Hemisphäre auf holistische und visuell-räumliche Verarbeitung spezialisierte; selbstverständlich arbeiten die beiden Hälften Ihres Gehirns eng zusammen. Viele neuronale Strukturen werden dupliziert, so dass es in jeder Hemisphäre eine gibt; nichtsdestoweniger ist es üblich, von einer Struktur im Singular zu sprechen (z. B. der Hippocampus).


Abb. 02 Das sich entwickelnde Gehirn

Drei Überlebensstrategien

Über Hunderte von Millionen von Jahren der Evolution hinweg entwickelten unsere Vorfahren drei grundlegende Überlebensstrategien:

• das Schaffen von Trennungen – um Grenzen zwischen sich selbst und der Welt sowie zwischen unterschiedlichen Geisteszuständen zu bilden

• das Bewahren von Stabilität – um körperliche und geistige Systeme in einem gesunden Gleichgewicht zu halten

• das Sichnähern an Chancen und das Meiden von Bedrohungen – um Dinge zu bekommen, die Nachwuchs begünstigen, und solchen, die es nicht tun, zu entkommen oder standzuhalten

Diese Strategien sind für das Überleben schon immer außerordentlich effektiv gewesen. Aber Mutter Natur ist es gleich, wie sie sich anfühlen. Um Tiere (einschließlich Menschen) dazu zu motivieren, diese Strategien zu befolgen und ihre Gene weiterzugeben, entwickelten sich neuronale Netzwerke, die unter bestimmten Bedingungen Schmerz und Leid schaffen: wenn Trennungen sich auflösen, die Stabilität ins Wanken gerät, Chancen enttäuschen und Bedrohungen auftauchen. Unglücklicherweise kommt es ständig zu diesen Bedingungen, weil:

• alles miteinander verbunden ist

• alles sich unaufhörlich verändert

• Chancen regelmäßig unerfüllt bleiben oder ihren Glanz verlieren und viele Bedrohungen unausweichlich sind (z. B. Altern und Tod)

Sehen wir uns an, wie all dies Sie zum Leiden bringt.

Nicht so separat

Die Parietallappen (Scheitellappen) des Gehirns liegen im oberen hinteren Teil des Kopfes (ein „Lappen“ ist eine rundliche Wölbung des Kortex). Bei den meisten Menschen stellt der linke Lappen die Wahrnehmung her, dass der Körper von der Welt getrennt ist, und gibt der rechte Lappen an, wo sich der Körper im Vergleich zu Bestandteilen seiner Umgebung befindet. Das Ergebnis ist eine automatische Grundannahme dieser Art: Ich bin ein separates und unabhängiges Wesen. Ist dies auch in mancherlei Hinsicht wahr, ist es doch in vielerlei wichtiger Hinsicht nicht wahr.

Nicht so abgegrenzt

Um zu leben, muss ein Organismus metabolisieren: Er muss Stoffe und Energie mit seiner Umgebung austauschen. Folglich werden im Laufe eines Jahres viele der Atome in Ihrem Körper durch neue ersetzt. Die Energie, die Sie aufwenden, um einen Schluck Wasser zu trinken, stammt von Sonnenschein, der sich durch die Nahrungskette zu Ihnen hocharbeitet – in gewissem Sinne hebt Licht die Tasse an Ihre Lippen. Die scheinbare Mauer zwischen Ihrem Körper und der Welt ähnelt eher einem Lattenzaun.

Und die zwischen Ihrem Geist und der Welt ist wie eine auf den Bürgersteig gemalte Linie. Vom Augenblick der Geburt an gelangen Sprache und Kultur in Ihren Geist und gestalten ihn (Han und Northoff 2008). Empathie und Liebe sorgen von Natur aus dafür, dass Sie sich auf andere Menschen einstimmen, so dass Ihr Geist mit dem ihrigen mitschwingt (Siegel 2007). Diese Ströme geistiger Aktivität fließen in beide Richtungen, da Sie auch andere beeinflussen.

In Ihrem Geist gibt es fast überhaupt keine Grenzen. Seine ganzen Inhalte strömen ineinander; Empfindungen werden zu Gedanken, Gefühlen, Begierden, Handlungen und noch mehr Empfindungen. Dieser Bewusstseinsstrom korreliert mit einer Kaskade an flüchtigen neuronalen Verbindungen, wobei jede Verbindung innerhalb von häufig weniger als einer Sekunde in der nächsten verschwindet (Dehaene, Sergent und Changeux 2003; Thompson und Varela 2001).

Nicht so unabhängig

Ich bin auf der Welt, weil ein serbischer Nationalist Erzherzog Ferdinand ermordet und damit den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat – was wiederum zu der zufälligen Begegnung meiner Eltern auf einem Tanzabend der Armee im Jahr 1944 führte. Natürlich gibt es zehntausend Gründe dafür, warum irgendjemand heute auf der Welt ist. Wie weit wollen wir zurückgehen? Mein Sohn – der mit seiner Nabelschnur um den Hals geboren wurde – ist wegen medizinischer Techniken, die über Hunderte von Jahren entwickelt wurden, auf der Welt.

Oder wir könnten ganz weit zurückgehen: Die meisten Atome in Ihrem Körper – einschließlich des Sauerstoffs in Ihren Lungen und des Eisens in Ihrem Blut – wurden im Inneren eines Sterns geboren. Im frühen Universum war Wasserstoff so ziemlich das einzige Element. Sterne sind riesige Fusionsreaktoren, die Wasserstoffatome miteinander verschmelzen lassen, schwerere Elemente erzeugen und dabei viel Energie freisetzen. Diejenigen, die zu Novä wurden, spien ihre Inhalte weit und breit umher. Bis zu der Zeit, als unser Sonnensystem sich zu bilden begann – ungefähr neun Milliarden Jahre nach dem Beginn des Universums –, existierten genügend viele große Atome, um unseren Planeten zu bilden, um die Hände zu bilden, die dieses Buch halten, und das Gehirn, das diese Worte versteht. Wirklich – Sie sind hier, weil viele Sterne explodiert sind. Ihr Körper besteht aus Sternenstaub.

Auch Ihr Geist ist von zahllosen vorausgegangenen Dingen abhängig. Denken Sie an die Lebensereignisse und an die Menschen, die Ihre Ansichten, Ihre Persönlichkeit und Ihre Emotionen geprägt haben. Stellen Sie sich vor, Sie wären bei der Geburt ausgetauscht und von armen Ladenbesitzern in Kenia oder einer reichen Ölfamilie in Texas großgezogen worden; wie anders würde Ihr Geist heute sein?

Das Leiden der Trennung

Da ein jeder von uns mit der Welt verbunden ist und in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit zu ihr steht, werden unsere Versuche, separate und unabhängige Wesen zu sein, regelmäßig zum Scheitern gebracht, was schmerzhafte Signale der Störung und Bedrohung verursacht. Darüber hinaus führen unsere Anstrengungen selbst dann, wenn sie vorübergehend erfolgreich sind, zum Leiden. Wenn Sie die Welt als „überhaupt nicht ich“ sehen, ist sie potentiell unsicher, was Sie dazu veranlasst, sich vor ihr zu fürchten und sich ihrer zu erwehren. Sobald Sie sagen: „Ich bin dieser Körper, getrennt von der Welt“, werden die Schwächen Ihres Körpers zu Ihren eigenen. Wenn Sie meinen, dass er zu viel wiegt oder nicht richtig aussieht, leiden Sie. Wenn er durch Krankheit, Altern und Tod bedroht ist – wie es alle Körper sind –, leiden Sie.

Nicht so beständig

Ihr Körper, Ihr Gehirn und Ihr Geist enthalten eine Vielzahl an Systemen, die ein gesundes Gleichgewicht aufrechterhalten müssen. Das Problem aber ist, dass sich verändernde Bedingungen diese Systeme ständig durcheinanderbringen, was zu Signalen der Bedrohung, des Schmerzes und des Leids führt – mit einem Wort zum Leiden.

Wir sind sich dynamisch verändernde Systeme

Betrachten wir einmal ein einzelnes Neuron, eines, das den Neurotransmitter Serotonin freisetzt (siehe Abbildungen 3 und 4). Dieses winzige Neuron ist gleichzeitig Teil des Nervensystems und selber ein komplexes System, das zahlreiche Subsysteme benötigt, die es in Gang halten. Wenn es feuert, schleudern Verzweigungen am Ende seines Axons eine Salve aus Molekülen in die Synapsen – die Verbindungen – hinein, die es mit anderen Neuronen bildet. Jede Verzweigung enthält etwa zweihundert Vesikel genannte kleine Bläschen, die mit dem Neurotransmitter Serotonin gefüllt sind (Robinson 2007). Jedes Mal, wenn das Neuron feuert, öffnen sich fünf bis zehn Vesikel. Da ein typisches Neuron rund zehnmal in der Sekunde feuert, werden die Serotoninvesikel einer jeden Verzweigung alle paar Sekunden geleert.

Folglich müssen geschäftige kleine molekulare Maschinen entweder neues Serotonin produzieren oder frei um das Neuron herumtreibendes Serotonin recyceln. Dann müssen sie Vesikel herstellen, sie mit Serotonin füllen und nahe an den Ort des Geschehens bringen, also an die Spitze einer jeden Verzweigung. Das sind viele Prozesse, die da im Gleichgewicht gehalten werden müssen, und vieles könnte dabei schiefgehen – und der Serotoninstoffwechsel ist nur eines der Tausende Systeme in Ihrem Körper.

Ein typisches Neuron

• Neuronen sind die Grundbausteine des Nervensystems; ihre Hauptfunktion besteht darin, über winzige, Synapsen genannte Spalte miteinander zu kommunizieren. Zwar gibt es viele verschiedene Arten von Neuronen, doch ist ihr grundlegender Aufbau immer ziemlich ähnlich.

• Vom Zellkörper gehen Dendriten genannte Verästelungen aus, die Neurotransmitter von anderen Neuronen empfangen. (Manche Neurone kommunizieren mittels elektrischer Impulse direkt miteinander.)

• Etwas vereinfacht ausgedrückt, bestimmt die Summe aller exzitatorischen und inhibitorischen Signale, die ein Neuron Millisekunde um Millisekunde empfängt, ob es feuern wird oder nicht.

• Wenn ein Neuron feuert, verläuft eine elektrische Welle entlang seines Axons, der Faser, die sich in Richtung der Neuronen erstreckt, zu denen es Signale sendet. Hierdurch werden Neurotransmitter in die Synapsen, die es mit empfangenden Neuronen bildet, ausgeschüttet und Letztere entweder daran gehemmt oder dazu angeregt, im Gegenzug ebenfalls zu feuern.

• Die Fortleitung der Nervensignale wird durch Myelin beschleunigt, eine fetthaltige Substanz, welche die Axone isoliert.


Abb. 03 Ein (vereinfachtes) Neuron

• Die graue Substanz in Ihrem Gehirn setzt sich zum größten Teil aus den Zellkörpern von Neuronen zusammen. Auch weiße Substanz ist vorhanden, diese besteht aus den Axonen und den Gliazellen; Gliazellen leisten wichtige Funktionen für den Stoffwechsel, indem sie beispielsweise Axone mit Myelin umhüllen und Neurotransmitter recyceln. Neuronale Zellkörper sind wie 100 Milliarden durch ihre axonalen „Kabel“ miteinander verbundene Ein- und Ausschalter in einem komplizierten Netzwerk in Ihrem Kopf.


Abb. 04 Eine Synapse (im Nebenbild vergrößert dargestellt)

Die Schwierigkeiten, ein Gleichgewicht zu bewahren

Damit Sie gesund bleiben, muss ein jedes System in Ihrem Körper und Geist zwei im Widerstreit zueinander stehende Bedürfnisse ausgleichen. Auf der einen Seite muss es bei laufenden Transaktionen mit seiner lokalen Umgebung für Input offen bleiben (Thompson 2007); geschlossene Systeme sind tote Systeme. Auf der anderen Seite muss jedes System auch eine grundlegende Stabilität bewahren, muss um einen guten Sollwert herum und innerhalb bestimmter Spannweiten zentriert bleiben – nicht zu heiß, nicht zu kalt. Beispielsweise müssen vom präfrontalen Kortex (PFC) geleistete Hemmung und vom limbischen System ausgehende Erregung sich gegenseitig ausgleichen: zu viel Hemmung, und Sie fühlen sich im Inneren taub, zu viel Erregung, und Sie fühlen sich überwältigt.

Signale der Bedrohung

Damit jedes Ihrer Systeme im Gleichgewicht bleibt, registrieren Sensoren seinen Zustand (wie das Thermometer in einem Thermostat) und senden Signale an Regulatoren, um das Gleichgewicht wiederherzustellen, wenn das System den zulässigen Bereich verlässt (d. h. um den Ofen an- oder abzustellen). Der größte Teil dieser Regulation geschieht außerhalb Ihres Gewahrseins. Einige zu Korrekturmaßnahmen aufrufende Signale aber sind so wichtig, dass sie in das Bewusstsein aufsteigen. Wenn es Ihrem Körper beispielsweise zu kalt wird, fühlen Sie sich durchgekühlt; wenn es zu heiß wird, fühlen Sie sich wie in einem Backofen.

Diese bewusst erlebten Signale sind unangenehm, zum Teil deshalb, weil sie ein Gefühl der Bedrohung mit sich bringen – einen Aufruf, das Gleichgewicht wiederherzustellen, bevor die Dinge zu schnell zu weit den rutschigen Abhang hinuntergleiten. Der Aufruf kann sanft kommen, mit einem Gefühl des Unbehagens, oder lautstark, mit Alarm, sogar Panik. Ganz egal, wie er kommt, er mobilisiert Ihr Gehirn dazu, zu tun, was auch immer erforderlich ist, um Sie wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Diese Mobilisierung geht gewöhnlich mit Gefühlen des Verlangens einher; diese reichen von stillen Sehnsüchten bis hin zu einem verzweifelten Zwanggefühl. Interessanterweise ist das Wort für Verlangen im Pāli – der Sprache des frühen Buddhismus – tanhā, dessen Wurzel „Durst“ bedeutet. Das Wort „Durst“ drückt die Macht der Bedrohungssignale aus, negative körperliche Reaktionen zu verursachen, selbst dann, wenn die Signale nichts mit Leib und Leben zu tun haben, wie zum Beispiel die Möglichkeit, zurückgewiesen zu werden. Bedrohungssignale sind genau deshalb wirksam, weil sie unangenehm sind – weil sie Sie zum Leiden bringen, manchmal ein bisschen, manchmal sehr. Sie wollen, dass sie aufhören.

Alles verändert sich ständig

Gelegentlich verschwinden Bedrohungssignale tatsächlich für eine Weile – genauso lange, wie jedes System im Gleichgewicht bleibt. Aber da die Welt sich immer verändert, gibt es unaufhörlich Störungen in den Gleichgewichten Ihres Körpers, Ihres Geistes und Ihrer Beziehungen. Die Regulatoren Ihrer Lebenssysteme, von der molekularen Basis bis hinauf zur interpersonellen Spitze, müssen ständig versuchen, von Natur aus instabilen Prozessen eine statische Ordnung überzustülpen.

Denken Sie an die Vergänglichkeit der physischen Welt, die von der Unbeständigkeit von Quantenteilchen bis zu unserer Sonne reicht, die eines Tage zu einem roten Riesen anschwellen und die Erde schlucken wird. Oder denken Sie an die Turbulenz in Ihrem Nervensystem; zum Beispiel werden Bereiche im PFC, die das Bewusstsein unterstützen, fünf- bis achtmal in der Sekunde aktualisiert (Cunningham und Zelazo 2007).

Diese neurologische Instabilität liegt allen Geisteszuständen zugrunde. Beispielsweise gehört zu jedem Gedanken eine vorübergehende Aufteilung des strömenden neuronalen Verkehrs in eine kohärente Anordnung von Synapsen, die sich rasch in fruchtbare Unordnung auflösen muss, um anderen Gedanken ein Auftauchen zu ermöglichen (Atmanspacher und Graben 2007). Beobachten Sie nur einen einzigen Atemzug, und Sie werden erleben, dass die mit ihm verbundenen Empfindungen sich kurz nach ihrer Entstehung verändern, sich auflösen und verschwinden.

Alles verändert sich. Das ist die universelle Natur unserer äußeren Realität und unserer inneren Erfahrung. Deshalb nehmen die gestörten Gleichgewichte, solange Sie leben, kein Ende. Aber um Ihnen zu helfen, zu überleben, versucht Ihr Gehirn weiterhin den Fluss aufzuhalten, strengt sich an, um dynamische Systeme in einem bestimmten Zustand zu halten, in dieser wechselhaften Welt feste Muster zu finden und dauerhafte Pläne für sich wandelnde Bedingungen zu konstruieren. Infolgedessen jagt Ihr Gehirn ewig dem gerade vergangenen Augenblick nach, in dem Versuch, ihn zu verstehen und zu kontrollieren.

Es ist, als lebten wir an der Kante eines Wasserfalls und jeder Moment stürzte sich auf uns – ausschließlich und immer jetzt am Rand erlebt – und wäre dann, schwupp, über die Kante und weg. Aber das Gehirn klammert sich immer an das, was gerade vorbeigerauscht ist.

Nicht so angenehm oder schmerzhaft

Um ihre Gene weiterzugeben, mussten unsere tierischen Vorfahren oftmals am Tag richtig entscheiden, ob sie auf etwas zugehen oder es meiden wollten. Heute nähern oder entziehen sich Menschen Geisteszuständen ebenso wie physischen Objekten; zum Beispiel streben wir nach Selbstwert und schieben Scham von uns weg. Gleichwohl bedienen sich das menschliche Annähern und Vermeiden, trotz der hohen Entwicklung des Menschen, eines neuronalen Schaltkreises, der fast genau so ist wie der, den ein Affe nutzt, um nach Bananen zu suchen, oder eine Eidechse, um sich unter einem Felsen zu verstecken.


Abb. 05 Sie sehen eine potentielle Bedrohung oder Chance

Der Gefühlston einer Erfahrung

Wie entscheidet Ihr Gehirn, ob Sie sich etwas nähern oder es meiden sollten? Sagen wir, Sie wandern durch einen Wald; Sie gehen um eine Kurve und sehen plötzlich genau vor sich auf dem Boden ein kurvenreiches Gebilde. Um einen komplexen Prozess zu vereinfachen: In den ersten paar Zehntelsekunden wird das von diesem kurvenreichen Objekt abprallende Licht zum okzipitalen Kortex geschickt (der für visuelle Informationen zuständig ist), um zu einem bedeutungsvollen Bild weiterverarbeitet zu werden (siehe Abbildung 5). Dann sendet der okzipitale Kortex Darstellungen dieses Bildes in zwei Richtungen: für eine Einschätzung, ob es sich um eine potentielle Bedrohung oder Chance handelt, zum Hippocampus und für eine differenziertere – und zeitaufwendigere – Analyse zum PFC und zu anderen Teilen des Gehirns.

Für den Fall aller Fälle vergleicht Ihr Hippocampus das Bild umgehend mit seiner Liste der wichtigsten „Erst-springen-später-denken“-Bedrohungen. Schnell findet er kurvenreiche Gebilde auf seiner Gefahrenliste, was ihn dazu veranlasst, eine Warnung hoher Priorität an Ihre Amygdala zu senden: „Pass auf!“ Die Amygdala – die wie eine Alarmglocke funktioniert – schickt dann eine allgemeine Warnung durch Ihr gesamtes Gehirn und zudem auf dem schnellsten Weg ein spezielles Signal an Ihre für die Kampf-oder-Flucht-Reaktion zuständigen neuronalen und hormonalen Systeme (Rasia-Filho, Londero und Achaval 2000). Wir werden die Details der Kampf-oder-Flucht-Kaskade im nächsten Kapitel untersuchen; hier kommt es uns auf die Tatsache an, dass Sie in weniger als einer Sekunde nach Erblicken des kurvenreichen Gebildes alarmiert zurückspringen.

Zwischenzeitlich hat der leistungsstarke, aber relativ langsame PFC Information aus dem Langzeitgedächtnis hervorgezogen, um sich darüber klar zu werden, ob das verdammte Ding nun eine Schlange oder ein Stock ist. Während ein paar weitere Sekunden verstreichen, konzentriert sich der PFC auf die Reglosigkeit des Objekts – und auf die Tatsache, dass mehrere vor Ihnen laufende Leute an ihm vorbeigegangen sind, ohne irgendetwas zu sagen – und schlussfolgert, dass es nur ein Stock ist.

Im gesamten Verlauf dieser Episode war alles, was Sie erlebt haben, entweder angenehm, unangenehm oder neutral. Als Sie anfänglich den Weg entlangspazierten, gab es neutrale oder angenehme Anblicke, dann unangenehme Angst vor einer potentiellen Schlange und schließlich die angenehme Erleichterung angesichts der Feststellung, dass es sich nur um einen Stock handelte. Dieser Aspekt der Erfahrung – ob sie angenehm, unangenehm oder neutral ist – wird im Buddhismus als ihr Gefühlston bezeichnet (und in der westlichen Psychologie als ihr hedonischer Tonus). Der Gefühlston wird hauptsächlich durch Ihre Amygdala hervorgerufen (LeDoux 1995) und dann weiträumig verbreitet. Es handelt sich hierbei um einen einfachen, aber wirksamen Weg, Ihrem Gehirn als Ganzes zu sagen, was in jedem einzelnen Moment zu tun ist: sich angenehmen Karotten nähern, unangenehme Stöcke meiden und bei allem anderen einfach weitergehen.

Die wichtigsten neurochemischen Stoffe

Dies sind die wichtigsten chemischen Stoffe in Ihrem Gehirn, die Einfluss auf die neuronale Aktivität haben; sie besitzen viele Funktionen, hier haben wir die für dieses Buch relevanten aufgelistet.

Primäre Neurotransmitter

• Glutamat – erregt empfangende Neuronen

• GABA – hemmt empfangende Neuronen

Neuromodulatoren

Diese Substanzen – manchmal auch Neurotransmitter genannt – beeinflussen die primären Neurotransmitter. Weil sie innerhalb des Gehirns weiträumig freigesetzt werden, haben sie eine mächtige Wirkung.

• Serotonin – reguliert Stimmung, Schlaf und Verdauung; die meisten Antidepressiva zielen darauf ab, seine Wirkung zu erhöhen

• Dopamin – ist an Belohnungen und Aufmerksamkeit beteiligt; fördert Annäherungsverhalten

• Noradrenalin – alarmiert und erregt

• Acetylcholin – fördert Wachsamkeit und Lernen

Neuropeptide

Diese Neuromodulatoren sind aus Peptiden aufgebaut, einer speziellen Art von organischem Molekül.

• Opioide – dämpfen Stress, bieten Linderung, senken Schmerz und verursachen freudige Gefühle (z. B. Runner’s High); dazu gehören Endorphine

• Oxytocin – fördert fürsorgliches Verhalten gegenüber Kindern und Bindung bei Paaren; wird mit glückseliger Nähe und Liebe in Verbindung gebracht; Frauen haben mehr Oxytocin als Männer

• Vasopressin – unterstützt die Paarbindung; kann bei Männern Aggressivität gegenüber sexuellen Rivalen fördern

Weitere neurochemische Stoffe

• Cortisol – wird während der Stressreaktion von den Nebennieren ausgeschüttet; stimuliert die Amygdala und hemmt den Hippocampus

• Östrogen – die Gehirne von Männern und Frauen enthalten beide Östrogenrezeptoren; beeinflusst die Libido, die Stimmung und das Gedächtnis

Karotten hinterherlaufen

Zwei wichtige neuronale Systeme sorgen dafür, dass Sie ständig – nach der Art des Esels im Gleichnis Esel-Möhre – Karotten hinterherlaufen. Das erste System basiert auf dem Neurotransmitter Dopamin. Die Aktivität der Dopamin ausschüttenden Neuronen nimmt zu, wenn Sie auf Dinge treffen, die mit Belohnungen aus der Vergangenheit zusammenhängen – wenn Sie beispielsweise eine Nachricht von einer guten Freundin erhalten, die Sie ein paar Monate nicht gesehen haben. Diese Neuronen kommen ebenfalls auf Touren, wenn Sie auf etwas treffen, das in der Zukunft Belohnungen einbringen könnte – wenn Ihre Freundin zum Beispiel sagt, dass sie Sie zum Mittagessen einladen möchte. In Ihrem Geist produziert diese neuronale Aktivität ein motivierendes Gefühl der Begierde: Sie möchten sie zurückrufen. Wenn das Mittagessen dann stattfindet, macht ein Teil Ihres Gehirns, welcher der cinguläre Kortex genannt wird (etwa fingergroß, an der Innenseite einer jeden Hemisphäre gelegen), ausfindig, ob die Belohnungen, die Sie erwartet haben – Spaß mit ihrer Freundin, gutes Essen –, tatsächlich eintreten (Eisenberger und Lieberman 2004). Tun sie dies, die Dopaminwerte stabil. Wenn Sie aber enttäuscht sind – vielleicht ist Ihre Freundin in schlechter Stimmung –, sendet der cinguläre Kortex ein Signal aus, das die Dopaminwerte senkt. Ein abfallender Dopaminspiegel wird von der subjektiven Erfahrung als ein unangenehmer Gefühlston registriert – als Unzufriedenheit und Missmut –, der ein Verlangen (im weitesten Sinne) nach etwas stimuliert, das die ursprünglichen Werte wiederherstellt.

Das zweite System, das auf mehreren anderen Neuromodulatoren basiert, ist die biochemische Quelle der angenehmen Gefühlstöne, die von den tatsächlichen – und erwarteten – Karotten im Leben ausgehen. Wenn diese „chemischen Freudenstoffe“ – natürliche Opioide (einschließlich Endorphinen), Oxytocin und Noradrenalin – in Ihre Synapsen strömen, stärken sie die aktiven neuronalen Schaltkreise und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass diese in Zukunft zusammen feuern werden. Stellen Sie sich ein Kleinkind vor, das versucht, einen Löffel Pudding zu essen. Nach vielen Fehltreffern bekommen seine perzeptuell-motorischen Neuronen es endlich hin, wodurch Wellen chemischer Freudenstoffe ausgelöst werden, die bei der Festigung der synaptischen Verbindungen helfen, welche die speziellen Bewegungen hervorriefen, die den Löffel in seinen Mund gleiten ließen.

Im Wesentlichen lenkt dieses auf Freude aufbauende System die Aufmerksamkeit auf das, was es ausgelöst hat, veranlasst Sie dazu, erneut nach diesen Belohnungen zu streben, und stärkt die Verhaltensweisen, mit denen es Ihnen glückt, sie zu bekommen. Es arbeitet Hand in Hand mit dem auf Dopamin basierenden System. Beispielsweise fühlt es sich aus zweierlei Gründen gut an, seinen Durst zu löschen: weil der Unmut über einen niedrigen Dopaminwert schwindet und weil der auf den chemischen Freudenstoffen basierende Genuss von kaltem Wasser an einem heißen Tag eintritt.

Annäherung beinhaltet Leiden

Diese zwei neuronalen Systeme sind für das Überleben notwendig. Zusätzlich können Sie sie für positive Zwecke nutzen, die nichts mit der Weitergabe von Genen zu tun haben. Beispielsweise könnten Sie Ihre Motivation, kontinuierlich etwas Gesundes zu tun (z. B. sich zu bewegen), dadurch erhöhen, dass Sie wirklich achtsam gegenüber den damit verbundenen Belohnungen sind (wie z. B. Gefühlen der Vitalität und Kraft).

Aber das Greifen nach dem Angenehmen kann Sie auch zum Leiden bringen:

• Begierde an sich kann eine unangenehme Erfahrung sein; selbst mildes Sehnen ist auf subtile Weise unangenehm.

• Wenn Sie Dinge nicht haben können, die Sie begehren, ist es natürlich, dass Sie sich frustriert, enttäuscht und entmutigt fühlen – vielleicht sogar hoffnungslos und verzweifelt.

• Wenn eine Begierde erfüllt wird, sind die damit verbundenen Belohnungen häufig gar nicht so großartig. Sie sind in Ordnung, aber sehen Sie sich Ihre Erfahrung genau an: Ist der Keks wirklich so lecker – insbesondere nach dem dritten Happen? War die aus der guten Arbeitsbeurteilung gezogene Befriedigung derart intensiv und lang anhaltend?

• Wenn die Belohnungen dann tatsächlich ziemlich groß sind, ist für viele ein hoher Preis zu zahlen – mächtige Desserts sind ein eindeutiges Beispiel. Denken Sie auch an die Belohnungen dafür, Anerkennung zu erhalten, einen Streit zu gewinnen oder andere dazu zu bringen, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten. Wie sieht das Kosten-Nutzen-Verhältnis wirklich aus?

• Selbst wenn Sie bekommen, was Sie möchten, es wirklich großartig ist und nicht viel kostet – der Maßstab –, muss sich jede angenehme Erfahrung unweigerlich verändern und enden. Selbst die besten von allen. Sie werden regelmäßig von Dingen getrennt, die Sie genießen. Und eines Tages wird diese Trennung dauerhaft sein. Freunde gehen ihrer Wege, Kinder verlassen das Haus, Karrieren enden und schließlich kommt und geht Ihr eigener letzter Atemzug. Alles, was beginnt, muss auch enden. Alles, was zusammenkommt, muss sich auch zerstreuen. Erfahrungen sind folglich nicht dazu in der Lage, gänzlich befriedigend zu sein. Sie sind eine unzuverlässige Basis für wahres Glück.

Um eine Analogie des thailändischen Meditationsmeisters Ajahn Chah zu verwenden: Wenn das Aus-der-Fassung-Geraten über etwas Unangenehmes so ist, wie von einer Schlange gebissen zu werden, ist das Greifen nach dem Angenehmen so, wie den Schwanz der Schlange zu packen; früher oder später wird sie einen trotzdem beißen.

Stöcke sind stärker als Karotten

Bislang haben wir über Karotten und Stöcke so gesprochen, als wären sie gleichrangig. Aber in Wirklichkeit sind Stöcke normalerweise mächtiger, weil Ihr Gehirn eher für das Vermeiden als für das Annähern gemacht ist. Das liegt daran, dass es die negativen, nicht die positiven Erfahrungen waren, die generell den stärksten Einfluss auf das Überleben hatten.

Stellen Sie sich zum Beispiel vor, wie unsere Säugetiervorfahren vor 70 Millionen Jahren in einem weltweiten Jurassic Parc Dinosauriern auswichen. Ständig blickten sie über ihre Schulter, auf der Hut vor dem leichtesten Knacken im Gebüsch, bereit, zu erstarren, wegzurennen oder anzugreifen, je nach Situation. Die Schnellen und die Toten. Wenn sie eine Karotte verpassten – eine Chance auf Nahrung oder Paarung vielleicht –, boten sich ihnen normalerweise später weitere Gelegenheiten. Wenn es ihnen aber misslang, einem Stock – z. B. einem Raubtier – auszuweichen, wurden sie wahrscheinlich getötet und hatten keine Chance mehr auf irgendwelche zukünftigen Karotten. Diejenigen, die lebten, um ihre Gene weiterzugeben, schenkten negativen Erfahrungen große Aufmerksamkeit.

Lassen Sie uns sechs Arten und Weisen untersuchen, auf die Ihr Gehirn Sie weiterhin Stöcken ausweichen lässt.

Wachsamkeit und Angst

Wenn Sie wach sind und nichts Besonderes tun, aktiviert Ihr sich im Ausgangsruhezustand befindendes Gehirn ein „Standardnetzwerk“. Eine seiner Funktionen scheint darin zu bestehen, ständig in Ihrer Umgebung und Ihrem Körper nach Bedrohungen zu spüren (Raichle et al. 2001). Dieses grundlegende Gewahrsein wird häufig von einem Hintergrundgefühl der Angst begleitet, das Sie wachsam sein lässt. Versuchen Sie ein paar Minuten lang ohne den kleinsten Anflug von Vorsicht, Unbehagen oder Spannung durch ein Geschäft zu laufen. Das ist sehr schwierig.

Dies ergibt deshalb einen Sinn, weil unsere Säugetier-, Primaten- und menschlichen Vorfahren sowohl Beute als auch Räuber waren. Außerdem gab es in den meisten sozialen Primatengruppen schon immer sehr viel Aggressivität, ausgehend von männlichen wie von weiblichen Gruppenmitgliedern (Sapolsky 2006). Und in den Gruppen der hominiden und dann menschlichen Jäger und Sammler der letzten Millionen Jahre war Gewalt eine führende Todesursache bei Männern (Bowles 2006). Wir wurden aus gutem Grunde ängstlich: Es gab so viel zu fürchten.

Sensibilität gegenüber negativer Information

Das Gehirn entdeckt negative Information normalerweise schneller als positive. Nehmen Sie Gesichtsausdrücke, für ein soziales Tier wie uns ein primäres Zeichen für Bedrohung oder Chance: Furchteinflößende Gesichter werden viel schneller wahrgenommen als glückliche oder neutrale, wahrscheinlich aufgrund eines durch die Amygdala ausgelösten Schnellverfahrens (Yang, Zald und Blake 2007). Selbst wenn Forscher furchteinflößende Gesichter für die bewusste Wahrnehmung unsichtbar machen, leuchtet die Amygdala auf (Jiang und He 2006). Das Gehirn wird von schlechten Neuigkeiten angezogen.

Hohe Speicherpriorität

Wenn ein Ereignis als negativ markiert worden ist, stellt der Hippocampus sicher, dass es für einen späteren Zugriff sorgfältig abgespeichert wird. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Ihr Gehirn fungiert bei negativen Erfahrungen wie Klettband und bei positiven wie Teflon – obwohl die meisten Ihrer Erfahrungen wahrscheinlich neutral oder positiv sind.

Negatives übertrumpft Positives

Negative Ereignisse haben normalerweise eine größere Auswirkung als positive. Zum Beispiel ist es leicht, sich aufgrund von ein paar Misserfolgen Gefühle erlernter Hilflosigkeit anzueignen, aber schwer, diese Gefühle abzulegen, selbst bei vielen Erfolgen (Seligman 2006). Menschen tun mehr, um einen Verlust zu verhindern, als um einen vergleichbaren Gewinn zu erlangen (Baumeister et al. 2001). Verglichen mit Lottogewinnern brauchen Unfallopfer normalerweise länger, um zu ihrer ursprünglichen Zufriedenheit zurückzukehren (Brickman, Coates und Janoff-Bulman 1978). Schlechte Information über eine Person hat mehr Gewicht als gute Information (Peeters und Czapinski 1990) und innerhalb von Beziehungen sind typischerweise etwa fünf positive Interaktionen nötig, um die Auswirkungen einer einzigen negativen zu überwinden (Gottman 1995).

Zurückbleibende Spuren

Selbst wenn Sie eine negative Erfahrung vergessen haben, hinterlässt sie doch eine unauslöschliche Spur in Ihrem Gehirn (Quirk, Repa und LeDoux 1995). Dieser Rest liegt auf der Lauer, bereit, wieder aktiv zu werden, sollten Sie jemals aufs Neue ein Angst auslösendes Ereignis wie das vorherige erleben.

Teufelskreise

Negative Erfahrungen schaffen Teufelskreise, indem sie Sie pessimistisch werden lassen und dazu führen, dass Sie überreagieren und dazu neigen, selber negativ zu werden.

Vermeidung beinhaltet Leiden

Wie Sie sehen, hat Ihr Gehirn eine eingebaute „Negativitätstendenz“ (Vaish, Grossman und Woodward 2008), die Sie auf Vermeidung ausrichtet. Diese Neigung bringt Sie auf unterschiedlichste Art und Weise zum Leiden. Erst einmal ruft sie ein unangenehmes Hintergrundgefühl der Angst hervor, das bei einigen Menschen recht intensiv sein kann; Angst erschwert es zudem, die Aufmerksamkeit zum Zwecke der Selbsterkenntnis oder für kontemplative Praxis nach innen zu richten, da das Gehirn ständig am Absuchen ist, um sicherzustellen, dass es keine Probleme gibt. Die Negativitätstendenz fördert oder intensiviert andere unangenehme Emotionen wie Wut, Sorge, Depression, Schuldgefühl und Scham. Sie streicht Verluste und Misserfolge der Vergangenheit heraus, spielt gegenwärtige Fähigkeiten herunter und bauscht zukünftige Hindernisse auf. Infolgedessen tendiert der Geist fortwährend dazu, ungerechte Urteile über den Charakter, das Verhalten und die Möglichkeiten eines Menschen zu fällen. Das Gewicht dieser Urteile kann Sie wahrhaft zermürben.

Im Simulator

Im Buddhismus heißt es, dass Leiden durch Verlangen erzeugt wird, das durch die Drei Gifte zum Ausdruck kommt: Habgier, Hass und Verblendung. Dies sind starke, althergebrachte Begriffe, die ein breites Spektrum an Gedanken, Worten und Taten abdecken, einschließlich der flüchtigsten und subtilsten. Habgier ist das Greifen nach Karotten, während Hass die Abneigung gegen Stöcke ist; zu beiden gehört das Verlangen nach mehr Freude und weniger Schmerz. Verblendung ist das Festhalten an Unwissenheit über die Art, wie die Dinge wirklich sind; dazu gehört zum Beispiel, nicht zu sehen, wie sie miteinander verbunden sind und sich verändern.

Virtuelle Realität

Manchmal sind diese Gifte unübersehbar; die meiste Zeit jedoch operieren sie im Hintergrund Ihres Gewahrseins, feuern leise vor sich hin und verdrahten sich. Sie tun dies, indem Sie die außergewöhnliche Kraft Ihres Gehirns nutzen, sowohl die innere Erfahrung als auch die äußere Welt darzustellen. Beispielsweise sehen die blinden Flecke in Ihrem linken und rechten Gesichtsfeld draußen in der Welt nicht wie Löcher aus; Ihr Gehirn füllt sie vielmehr auf, ganz so, wie Fotosoftware die roten Augen von Menschen abdunkelt, die in den Blitz geschaut haben. Genau genommen ist vieles von dem, was Sie „da draußen“ sehen, tatsächlich „hier drinnen“ von Ihrem Gehirn angefertigt worden, dazugemalt wie computergenerierte Grafiken in einem Film. Nur etwa 20 Prozent des an Ihren Okzipitallappen (Hinterhauptslappen) gelangenden Inputs kommt direkt aus der äußeren Welt; der Rest kommt von inneren Gedächtnisspeichern und perzeptuellen Verarbeitungsmodulen (Raichle 2006). Ihr Gehirn simuliert die Welt – jeder von uns lebt in einer virtuellen Realität, die ausreichende Ähnlichkeit mit der echten hat, um zu verhindern, dass wir gegen Möbel laufen.

Im Inneren dieses Simulators – dessen neuronales Substrat in der Mitte des oberen mittleren Bereiches des PFC angesiedelt zu sein scheint (Gusnard et al. 2001) – laufen fortwährend Minifilme ab. Diese kurzen Clips sind die Bausteine eines großen Teils der bewussten geistigen Aktivität (Niedenthal 2007; Pitcher et al. 2008). Bei unseren Vorfahren förderte das Abspielen von Simulationen vergangener Ereignisse das Überleben, weil es das Lernen erfolgreicher Verhaltensweisen stärkte, indem es ihre neuronalen Feuermuster wiederholte. Auch die Simulation zukünftiger Ereignisse förderte das Überleben, indem sie unsere Vorfahren dazu in die Lage versetzte, mögliche Ausgänge miteinander zu vergleichen – um die beste Methode zu wählen – und potentielle sensomotorische Vorgänge für unmittelbares Handeln startbereit zu machen. Über die letzten drei Millionen Jahre hat sich die Größe des Gehirns verdreifacht; zu einem großen Teil hat diese Expansion die Fähigkeiten des Simulators verbessert, was auf den Nutzen hinweist, den er für das Überleben hat.

Simulationen bringen Sie zum Leiden

Das Gehirn produziert heute weiterhin Simulationen, auch wenn sie nichts mehr mit dem Am-Leben-Bleiben zu tun haben. Beobachten Sie sich selbst dabei, wie Sie Tagträumen nachgehen oder ein Beziehungsproblem noch einmal durchgehen, und Sie werden die Clips spielen sehen – kleine Spulen simulierter Erfahrungen, normalerweise nur ein paar Sekunden lang. Wenn Sie sie genau betrachten, entdecken Sie mehrere beunruhigende Dinge:

• Es liegt in der Natur des Simulators, dass er Sie aus dem gegenwärtigen Augenblick reißt. Sie folgen bei der Arbeit einer Präsentation, machen eine Besorgung oder meditieren, und plötzlich ist Ihr Geist tausend Meilen weit weg und hat sich in einem Minifilm verfangen. Jedoch finden wir wahres Glück, wahre Liebe oder Weisheit ausschließlich im gegenwärtigen Moment.

• Im Simulator erscheinen Freuden gewöhnlich ziemlich groß, ganz gleich, ob Sie gerade erwägen, ein zweites Törtchen zu essen, oder sich die Reaktion auf einen Bericht vorstellen, den Sie bei der Arbeit erstellt haben. Aber was fühlen Sie tatsächlich, wenn Sie den Minifilm im realen Leben spielen? Ist es so angenehm, wie es dort oben auf der Leinwand versprochen wurde? Normalerweise nicht. In Wahrheit sind die meisten Belohnungen des täglichen Lebens nicht so intensiv wie die, die im Simulator hervorgezaubert werden.

• Im Simulator ablaufende Clips beinhalten viele Überzeugungen: Natürlich wird er X sagen, wenn ich Y sage … Es ist offensichtlich, dass sie mich hängen lassen. Manchmal werden sie explizit ausgesprochen, einen Großteil der Zeit aber sind sie implizit, in den Handlungsstrang mit eingebaut. Sind diese expliziten und impliziten Überzeugungen in Ihren Simulationen tatsächlich wahr? Manchmal ja, aber häufig nein. Minifilme halten uns durch ihre vereinfachende Sicht der Vergangenheit und durch ihr Wegdefinieren realer Möglichkeiten für die Zukunft – wie neuen Wegen, für andere da zu sein, oder dem Träumen großer Träume – davon ab, weiterzukommen. Die in ihnen enthaltenen Überzeugungen sind die Stäbe eines unsichtbaren Käfigs, die Sie in einem Leben gefangen halten, das kleiner ist als das, das Sie tatsächlich haben könnten. Es ist, als wären Sie ein Zootier, das in einem großen Park in Freiheit gesetzt wird, sich aber immer noch innerhalb der Grenzen seines alten Geheges zusammenkauert.

• Im Simulator laufen schlimme Ereignisse aus der Vergangenheit immer wieder ab, wodurch unglücklicherweise die neuronalen Verknüpfungen zwischen einem Ereignis und den mit ihm einhergehenden schmerzhaften Gefühlen gestärkt werden. Auch sagt der Simulator bedrohliche Situationen in Ihrer Zukunft voraus. Aber in Wirklichkeit stellen sich die meisten dieser besorgniserregenden Ereignisse niemals ein. Und bei denen, die Realität werden, ist das Unbehagen, das Sie empfinden, häufig milder und kürzer als erwartet. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie würden aus dem Bauch heraus reden: Dies könnte einen Minifilm auslösen, der mit Zurückweisung endet und damit, dass Sie sich schlecht fühlen. Aber klappt es nicht in Wirklichkeit normalerweise recht gut, wenn Sie aus dem Bauch heraus reden, und fühlen Sie sich dabei letztendlich nicht ziemlich gut?

Kurz gesagt holt der Simulator Sie aus dem gegenwärtigen Moment heraus und bringt Sie dazu, Karotten hinterherzujagen, die nicht wirklich so großartig sind, und gleichzeitig wichtigere Belohnungen (wie Zufriedenheit und inneren Frieden) zu ignorieren. Seine Minifilme sind voller einschränkender Überzeugungen. Abgesehen davon, dass sie schmerzhafte Emotionen verstärken, veranlassen sie Sie dazu, Stöcken auszuweichen, die Ihnen in Wirklichkeit niemals begegnen oder die nicht wirklich allzu schlimm sind. Und der Simulator tut dies Stunde für Stunde, Tag für Tag, selbst in Ihren Träumen – ständig baut er neue neuronale Struktur, von der ein großer Teil Ihr Leiden vermehrt.

Selbstmitgefühl

Jeder Mensch leidet gelegentlich, und viele Menschen leiden sehr viel. Mitgefühl ist eine natürliche Reaktion auf Leiden, einschließlich Ihres eigenen. Selbstmitgefühl ist nicht Selbstmitleid, sondern Wärme, Anteilnahme und gute Wünsche – genau wie Mitgefühl für eine andere Person. Weil Selbstmitgefühl emotionaler ist als Selbstachtung, ist es mächtiger, was die Verringerung der Auswirkung schwieriger Situationen, die Bewahrung des Selbstwertgefühls und den Aufbau von Widerstandskraft angeht (Leary et al. 2007). Auch öffnet es Ihr Herz, denn wenn Sie sich Ihrem Leiden verschließen, ist es schwierig, für das Leiden anderer empfänglich zu sein.

Zusätzlich zu dem alltäglichen Leiden des Lebens umfasst auch der Pfad des Erwachens selber schwierige Erfahrungen, die ebenfalls Mitgefühl erfordern. Um glücklicher, weiser und liebender zu werden, müssen Sie manchmal gegen alte Ströme in Ihrem Nervensystem anschwimmen. Beispielsweise sind die drei Säulen der Praxis in mancherlei Hinsicht unnatürlich: Tugend bewirkt das Zurückhalten von emotionalen Reaktionen, die in der Serengeti gut funktioniert haben, Achtsamkeit mindert nach außen gerichtete Wachsamkeit, und Weisheit durchschneidet Überzeugungen, die uns einst geholfen haben, zu überleben. Es läuft der evolutionären Schablone zuwider, die Ursachen des Leidens aufzuheben, sich mit allem eins zu fühlen, mit dem sich verändernden Augenblick mitzufließen und von Angenehmem wie Unangenehmem unberührt zu bleiben. Selbstverständlich heißt das nicht, dass wir es nicht tun sollten! Es heißt nur, dass wir verstehen sollten, womit wir konfrontiert sind, und Mitgefühl mit uns selber haben sollten.

Die Wurzel des Mitgefühls ist Mitgefühl für sich selber.

Pema Chödrön

Folgendes sind Wege, Selbstmitgefühl zu nähren und seine neuronalen Schaltkreise zu stärken:

• Entsinnen Sie sich des Zusammenseins mit jemandem, der Sie wirklich liebt – das Gefühl, Fürsorglichkeit zu empfangen, aktiviert den starken Schaltkreis des Bindungssystems in Ihrem Gehirn und macht ihn bereit, Mitgefühl zu schenken.

• Denken Sie an jemanden, für den Sie natürlicherweise Mitgefühl empfinden, zum Beispiel an ein Kind oder einen Menschen, den Sie lieben – dieser einfache Strom des Mitgefühls erregt seine neuronale Basis (einschließlich des Neuropeptids Oxytocin, der Insula [die den inneren Zustand Ihres Körpers wahrnimmt], und des PFC) und „wärmt sie auf“ für das Selbstmitgefühl.

• Beziehen Sie sich selbst in dieses Mitgefühl mit ein – seien Sie sich Ihres eigenen Leidens bewusst und weiten Sie Anteilnahme und gute Wünsche auf sich selbst aus; spüren Sie, wie Mitgefühl in wunde Stellen in Ihrem Inneren hinunterrieselt, wie es fällt wie sanfter Regen, der alles berührt. Die Handlungen, die mit einem Gefühl verbunden sind, stärken dieses (Niedenthal 2007); legen Sie also Ihre Handfläche mit der Zärtlichkeit und Wärme an Ihre Wange oder an Ihr Herz, wie Sie sie einem verletzten Kind geben würden. Sagen Sie sich im Geiste Sätze wie: Möge ich wieder glücklich sein. Möge der Schmerz dieses Augenblicks vorübergehen.

• Öffnen Sie sich insgesamt dem Gefühl, dass Sie Mitgefühl empfangen – tief im Inneren Ihres Gehirns spielt die tatsächliche Quelle guter Gefühle keine große Rolle; ob das Mitgefühl also von Ihnen stammt oder von einer anderen Person – lassen Sie das Gefühl, getröstet und umsorgt zu werden, in sich einsinken.

KAPITEL 2Hauptpunkte

• Drei grundlegende Strategien haben sich herausgebildet, um uns bei der Weitergabe unserer Gene zu helfen: das Schaffen von Trennungen, das Stabilisieren von Systemen und das Sichnähern an Chancen bei gleichzeitigem Meiden von Bedrohungen.

• Obwohl diese Strategien zu Überlebenszwecken sehr wirksam sind, bringen sie Sie doch auch zum Leiden.

• Das Bemühen, Trennungen aufrechtzuerhalten, steht im Widerspruch zu den unzähligen Arten und Weisen, auf die Sie in Wirklichkeit mit der Welt verbunden und von ihr abhängig sind. Als Folge davon können Sie sich auf subtile Weise isoliert, entfremdet oder überwältigt fühlen oder so, als lägen Sie mit der Welt im Kampf.

• Wenn die Systeme innerhalb Ihres Körpers, Ihres Geistes und Ihrer Beziehungen instabil werden, erzeugt Ihr Gehirn unangenehme Signale der Bedrohung. Weil sich alles immer verändert, kommen diese Signale immer wieder.

• Ihr Gehirn malt Ihre Erfahrungen mit einem Gefühlston aus – angenehm, unangenehm oder neutral –, damit Sie sich dem nähern, das angenehm ist, meiden, was unangenehm ist, und bei dem, was neutral ist, einfach weitergehen.

• Im Besonderen haben wir uns so entwickelt, dass wir unangenehmen Erfahrungen große Aufmerksamkeit schenken. Diese Negativitätstendenz schafft Angst und Pessimismus und sorgt dafür, dass gute Nachrichten übersehen werden und schlechte Nachrichten hervorgehoben werden.

• Das Gehirn hat die wunderbare Fähigkeit, Erfahrungen zu simulieren, aber dafür gibt es einen Preis: Der Simulator reißt Sie aus dem aktuellen Augenblick und bringt Sie dazu, Freuden hinterherzujagen, die so großartig nicht sind, und sich Schmerzen zu erwehren, die aufgebauscht werden oder nicht einmal real sind.

• Mitgefühl für Sie selber hilft Ihnen, Ihr Leiden zu verringern.

Das Gehirn eines Buddha

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