Читать книгу Die Leiche im Paradies - Rita Hampp - Страница 6

ZWEI

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Es ist nur ein Traum, dachte Lea und wälzte sich von einer Seite zur anderen. Nur ein Traum. Nur ein Traum. Ruhig atmen!

Aber es ging nicht. Ihre Lunge war voller Wasser. Die große Welle hielt sie am Meeresboden fest, saugte sie geradezu in sich auf, rollte sie hin und her. Luft, Luft, wenigstens einmal auftauchen und die Lungen mit klarer, reiner Luft füllen! Immer dringender wurde das Bedürfnis und schwemmte den letzten Rest klaren Bewusstseins aus ihr heraus. Sie schlug um sich, versuchte verzweifelt aufzutauchen. Aber je mehr sie in Panik geriet, desto unausweichlicher schloss sich das Wasser um sie herum.

Mit letzter Kraft stieß sie einen dumpfen Schrei aus. Es war eigentlich kein Schrei, sondern vielmehr ein Keuchen, ein Stöhnen, ein Herauspressen all ihrer Lebensenergie. Aber es genügte.

Schweißnass fuhr sie in ihrem Bett hoch und schnappte nach Luft. Sie war wach. Sie lebte. Ruhig. Einatmen, ausatmen.

Allmählich beruhigte sich ihr Puls. Erleichtert ließ sie sich in die Kissen zurückfallen. Es war nur wieder dieser schreckliche Alptraum gewesen, der sie seit Jahren quälte. Die Abstände waren größer geworden, seitdem sie begonnen hatte, etwas dagegen zu unternehmen. Neben dem Boxtraining hatte der Rettungskurs bei der DLRG viel geholfen, wie auch meditieren und ihre ganz private Übung, in der Badewanne unterzutauchen und die Luft möglichst lange anzuhalten.

Aber die Frage, warum dieser Traum sie immer wieder heimsuchte, blieb unbeantwortet. Es gab kein frühkindliches Trauma, sie hatte eine gute Jugend gehabt, niemals ein schlechtes Erlebnis mit Wasser. Ganz im Gegenteil. Sie hatte es geliebt, mit ihren Eltern an die Ostsee zu fahren, im Sand zu buddeln und im kühlen Wasser zu planschen.

Mit einem energischen Ruck schob sie die Bettdecke weg und stand auf. Es war kurz vor sechs. Sie war froh, so früh aufgewacht zu sein. Draußen überschlugen sich die Vogelstimmen. Es war bereits hell, wenn es die Sonne auch noch nicht über den Gipfel des Merkurs geschafft hatte.

Mechanisch begann Lea mit ihrem morgendlichen Stretching, dann schlüpfte sie in ihre Joggingsachen. Sie freute sich darauf, in der Lichtentaler Allee ihre Runden um die Klosterwiesen zu drehen. Zwar waren sie kein Vergleich zu den geliebten langen Wegen, die sie in Würzburg am Mainufer oder im schattigen Steinbachtal entlanggetrabt war, aber auch hier, in der weltberühmten alten Parkanlage, war es trotz der Überschaubarkeit um diese Zeit einfach herrlich. Manchmal lag noch Tau auf der Wiese, und nur ganz wenige Unentwegte wie sie waren an einem Samstag so früh unterwegs. Es war dann friedlich und unwirklich schön. Wenn sie Glück hatte, schickte die Sonne ihre ersten Strahlen genau dann auf die Wiese und tauchte die umstehenden Linden in goldenes Licht.

Wenn sie zurückkam, würde sie bei Frau Campenhausen klingeln und fragen, ob es schon etwas Neues gab. Mienchen hatte gestern zur Beobachtung in der Tierklinik bleiben müssen, nachdem ihre Bauchverletzung genäht und ihr rechtes Vorderbein geschient worden war. Jetzt hieß es hoffen, dass es keine weiteren inneren Verletzungen oder Komplikationen geben würde.

Plötzlich bemerkte Lea, dass der Polizeifunk, der wie immer im Hintergrund lief, aufgeregter als sonst klang. Sie drehte den Ton lauter, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, was um sechs Uhr früh an einem Samstagmorgen im Mai in diesem »verschnarchten Dorf«, wie der »Spiegel« Baden-Baden oft nannte, Aufregendes los sein sollte. Alle Skeptiker hatten Recht behalten. Hier passierte einfach nichts, was ihren journalistischen Ehrgeiz stillen konnte. Aber zumindest für die nächsten sechs Wochen hatte sie ihren Ein-Jahres-Job noch. Vielleicht zog sie doch eine große Geschichte an Land und sicherte damit ihre Stelle für länger? Gleich nach dem Frühstück würde sie Trixi Völker anrufen und nachfragen, um was die Frau denn nun so ein großes Geheimnis machte. Vielleicht war das die Story, die sie brauchte.

Eher mit halbem Ohr hörte sie in das Kauderwelsch der Polizei hinein, während sie ihre Joggingschuhe zuband. Doch dann erstarrte sie mitten in der Bewegung. Was war das? Ja, ganz deutlich:

»Weibliche Leiche, vermutlich ermordet, alle verfügbaren Kräfte zum Fundort, Spielplatz am Paradies, Chef wird gerade verständigt.«

Ihr Herz begann zu jagen. Irgendwo hatte sie den Begriff Paradies schon einmal gehört oder gelesen. Vielleicht in dem Reiseführer, den sie sich als Einstimmung auf Baden-Baden gekauft hatte. Aber zum Nachsehen blieb keine Zeit. Vielleicht erwischte sie einen Streifenwagen, dem sie zum Fundort folgen konnte.

Sie schleuderte ihre Joggingsachen von sich, zwängte sich in ihre Jeans und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Als sie sich im Bad im Spiegel sah, erschrak sie. Der Alptraum hatte seine Spuren hinterlassen. Normalerweise sah sie ja ganz passabel aus. Sie war zwar kein Model, aber sie hatte fröhliche braune Augen, ihre halb langen, glatten braunen Haare schimmerten golden, wenn die Sonne darauf schien, und mit ihrem klaren Teint brauchte sie zum Glück kein Make-up. Das hätte ohnehin nicht zu ihrem sportlichen Typ gepasst. Heute aber, nach dieser Nacht, sah sie so blass und müde aus, dass ein wenig Auffrischung gut getan hätte. Kurz entschlossen hielt sie den Kopf unter den kalten Wasserhahn.

Ohne sich um ihre tropfenden Haare zu kümmern, griff sie zu ihrem Rucksack, der immer mit allem Nötigen gepackt neben der Tür stand, fand auf Anhieb Handy und Autoschlüssel und stürmte aus der Wohnung.

Unten im Hausflur stieß sie mit Frau Campenhausen zusammen, die, noch im schwarzen Morgenrock und mit Lockenwicklern in den weißen Haaren, gerade ihre Zeitung aus dem Briefkasten fischte. Sie sah traurig aus. Bestimmt hatte auch sie nicht viel geschlafen.

Trotzdem lächelte sie, als sie Lea sah. »Morgen, Kind, so früh schon so eilig?«

»Man hat eine Leiche gefunden.«

»Wie schrecklich. Wo denn und wie? Ermordet?«

»Vermutlich. Genaues weiß ich noch nicht. Wie geht es Mienchen?«

»Ich will nach dem Frühstück in der Klinik anrufen. Vor acht möchte ich niemanden stören.«

Lea winkte ihr zu und war schon fast zur Haustür draußen, da kam sie noch einmal zurück. Frau Campenhausen kannte sich hier doch aus. »Sie sagen, die Leiche liege ›auf dem Spielplatz am Paradies‹. Wissen Sie, wo das sein könnte?«

»Ach herrje, eine Leiche im Paradies? Aber natürlich kenne ich das. Das ist die alte Wasserkunstanlage am Merkur.«

»Wo genau?«

»Die Anlage zieht sich den halben Berg hoch. Ganz oben, über einer großen Grotte, liegt der Spielplatz. Sie fahren am Friedhof vorbei, ganz hoch bis zu den Streuobstwiesen, dann biegen Sie links in die Heslichstraße, und schon sind Sie da. Im Paradies – meine Güte, was für ein romantischer Ort, um zu sterben! Die ganze Stadt liegt einem zu Füßen.«

Lea warf Frau Campenhausen dankbar eine Kusshand zu und quetschte sich in ihren rotweißen Mini. Es war nicht weit. Wenn sie Glück hatte, konnte sie ein paar Aufnahmen schießen, bevor der Polizei einfiel, alles abzuriegeln.

*

Es dauerte eine ganze Weile, bis Kriminalhauptkommissar Maximilian Gottlieb begriff, dass sein Handy und sein Festnetzanschluss um die Wette klingelten. Es war gestern spät geworden, mit zu viel Sentimentalität und noch mehr Spätburgunder vom hoch prämierten Weingut Kopp aus Ebenung, und deshalb war er eigentlich noch gar nicht ansprechbar.

Er versuchte, die Augen aufzumachen, kniff sie aber gleich wieder zusammen. Es war eindeutig zu hell. Er hatte wohl gestern vergessen, die Vorhänge zuzuziehen, und die Morgensonne schien nun durch das Dachfenster genau auf das Sofa, auf dem er irgendwann eingenickt war.

Er versuchte einen kurzen Check: Kopfschmerzen, aber sie hielten sich im Rahmen. Verspannungen am Rücken. Anflug von schiefem Hals wegen der hohen Lehne. Bohrender Hunger, aber den hatte er ja schon seit Tagen. Was ihm den Rest gab, waren jedoch diese Telefone.

Ächzend rappelte er sich hoch. Die Kopfschmerzen verstärkten sich. Mit einem dumpfen Geräusch landete das Saxophon auf dem Boden.

»Ja, ja«, murmelte er. Es war zehn nach sechs, bei Gott. Was fiel den Jungs ein, ihn um diese Uhrzeit zu wecken?

Mit einem Schlag war er hellwach.

Es konnte nur einen Grund geben.

Bitte nein, betete er im Stillen, keine Leiche, nicht heute. Nicht mit diesem Brummkopf! Er würde keinen klaren Gedanken fassen können nach einem Abend wie diesem, seinem Geburtstag, den er nun schon zum fünften Mal in Folge allein gefeiert hatte. Zweiundfünfzig war er geworden, und er hatte sich einer Gefühlsduselei hingegeben, als sei er zwanzig. Das hatte er jetzt davon.

Er versuchte es noch einmal mit einem Stoßgebet: Lass es nur ein Einbruch sein, egal, wo.

Aber deswegen würde niemand den stellvertretenden Kripochef so früh aus dem Bett werfen.

Schwerfällig humpelte er zum Telefon und atmete tief durch, bevor er abnahm.

»Wer, wo, was, wann«, meldete er sich. Dann hörte er eine Weile zu.

»Nein, Hanno, keinen Wagen. Das ist ja quasi vor meiner Haustür. Ich bin in fünf Minuten da. Und sichert schon mal alles großräumig ab.«

Sein Adrenalinpegel schnellte nach oben. Schluss mit dummen Gedanken! Er durfte keine Zeit mehr verlieren, sondern musste sofort los. Wie gut, dass er in seinen Kleidern eingeschlafen war. Instinktiv griff er an seine Hemdtasche und war beruhigt. Wenn er schon nicht frühstückte, so durften wenigstens die Zigaretten nicht ausgehen.

Als er vor die Haustür trat, war er erstaunt, wie warm und freundlich die Welt vor halb sieben schon sein konnte. Diesmal blieb er zwar nicht wie sonst stehen, um die atemberaubende Sicht auf den Merkur, das alte Schloss, die ganze Stadt im Tal, die Rheinebene bis zu den Vogesen im Elsass hinüber zu genießen. Aber auch im Laufschritt war er wieder einmal froh, dass er vor vier Jahren, als er sich aus Stuttgart in die ruhige Polizeidirektion Baden-Baden hatte versetzen lassen, diese kleine Dachwohnung in der Staufenbergstraße gemietet hatte. Sie hatte zwar keinen Balkon, keinen Lift, keine gute Schallisolierung und war weit weg vom Stadtkern, aber die Aussicht war einfach umwerfend.

Gottlieb trabte durch die Streuobstwiesen. Es waren nur dreihundert Meter bis zum Leichenfundort. Er kannte das Paradies sehr gut. Dort saß er abends oft, wenn er keine Zeit oder keine Lust hatte, mit dem Auto zu seinem eigentlichen Lieblingsplatz in Iffezheim am Rhein zu fahren. Das Paradies hatte seinen Namen zu Recht, wie er fand. Ganz oben auf dem Spielplatz stand unter alten Platanen eine Bank, von der aus man weit hinunter ins Tal genau auf die Stiftskirche blicken konnte. Der Spielplatz, den die Stadt auf dem Plateau angelegt hatte, war in den Abendstunden gewöhnlich leer. Er war ohnehin nicht üppig ausgestattet, eine Schaukel, eine Rutsche, ein riesiger Sandkasten mit einer halbrunden Palisadenwand. Aber mehr brauchte es auch nicht, denn es wohnten kaum Kinder in dieser ruhigen Villengegend.

Das Paradies war ein Geheimtipp, sogar für die Einheimischen, denn es war mühsam, die Anlage zu erreichen. Man musste den Berg schon zu Fuß hinaufkommen, den Bus nehmen oder genau wissen, wo man das Auto parken sollte. Aber wer mit dem Auto kam, fuhr sowieso gleich weiter hoch, zur Talstation der Standseilbahn, die einen bequem ganz nach oben auf den Gipfel des Merkurs brachte.

So hatte Gottlieb diese Bank immer für sich gehabt, wenn er dort auf seinem Weg aus der Stadt nach Hause kurz Station machte. Manchmal plätscherte gerade in diesem Augenblick das Wasser über die zahlreichen Becken und Bassins in mehrstufigen krebsschwanzartigen Kaskaden zu Tal. Er genoss dann das Glück, ein paar Minuten in Ruhe und Frieden dort zu sitzen und zu beobachten, wie die Sonne langsam zwischen den symmetrisch angeordneten Villen links und rechts der Anlage versank, die Vögel still wurden und in der Altstadt unter ihm die ersten Lichter angingen.

Von Idylle war jetzt allerdings keine Spur, und sein Blutdruck schoss wie in einem Dampfkessel bis zur Explosionsgrenze hoch.

»Warum ist hier nichts abgesperrt«, blaffte er einen der Uniformierten an, »und wo ist Kriminalkommissar Appelt?«

Doch ehe jemand antwortete, sah er vollkommen rot. »Verdammt noch mal, wer ist die Frau da, und wer hat die durchgelassen!«

Natürlich wusste er, wer sie war: Lea Weidenbach vom Badischen Morgen. Eigentlich hatte er nichts gegen sie. Eine attraktive Frau mit festem Händedruck, wie er es mochte. Außerdem hatte sie immer gute Laune und eine schlagfertige Bemerkung auf den Lippen. Sie war hoch engagiert, manchmal etwas zu kritisch, und ließ sich von niemandem etwas vorschreiben. Das imponierte ihm. Normalerweise. Aber nicht jetzt und hier! Es war nicht zu fassen. Da trampelte eine Journalistin am Rand des Sandkastens herum, machte Aufnahmen von einer Leiche, von der er im Moment nur die Beine sah, und niemand hinderte sie daran, auch die letzten Spuren zu verwischen.

»Kommen Sie sofort da raus!«, rief er ihr zu.

Sie nickte, hob aber ihre Kamera höher und drückte nach allen Seiten ab. Fundort, Panorama, Polizei im Einsatz. Verdammt. Das würde Ärger mit dem Präsidium geben. Die Uniformierten ohne Mütze, er als zerknautschter Rübezahl. Unwillkürlich fuhr er sich durch den struppigen Vollbart und versuchte, so grimmig dreinzuschauen, wie er nur konnte.

Die Weidenbach umrundete vorsichtig den Sandkasten und balancierte über irgendetwas in seine Richtung. Da erst bemerkte er, dass etliche Täfelchen mit Nummern im Boden steckten: Wenigstens die Spurensicherung war bereits an der Arbeit.

»Schöner Schnappschuss von Ihnen, Herr Gottlieb. Ich verspreche, dass ich das Foto nicht bringe, wenn Sie mir sagen, wer die Frau ist.«

Das war typisch Weidenbach.

Normalerweise würde er ihr eine passende Antwort geben. Aber dazu war er heute nicht in der Lage. »Weg mit Ihnen, aber dalli«, brummte er. »Lassen Sie mich meine Arbeit tun.«

Sie lachte ihm zu und schlenderte zu den beiden elegant gekleideten Frauen, die etwas abseits standen und ihre großen Hunde zu bändigen versuchten. Seine Kollegin Sonja Schöller war bereits bei ihnen, den Notizblock in der Hand.

»Wer sind die?«, murmelte er, eher zu sich selbst.

»Die Zeuginnen. Sie haben die Leiche entdeckt und uns informiert. Um exakt fünf Uhr siebenundfünfzig.« Hanno Appelt. Endlich.

»Wo warst du? Weshalb ist hier nichts abgesichert, und warum habt ihr die Weidenbach durchgelassen?«

Wie üblich prallte alles an Appelt ab. Nichts Unangenehmes drang zu ihm durch. Doch auch er hatte eine Schwäche, und er meinte sogar, niemand hätte sie bis jetzt bemerkt.

»Wieso ist die Schöller hier? Die hat doch gar keinen Bereitschaftsdienst«, ließ Gottlieb seine kleine Stinkbombe hochgehen und freute sich, dass Appelt einen roten Kopf bekam. Wenn der glaubte, eine Affäre mit der Kollegin verheimlichen zu können, musste er früher aufstehen.

Aber das reichte jetzt. Sie hatten eine Aufgabe hier.

»Also, wie ist die Sachlage?«

»Die Zeuginnen haben wie jeden Morgen ihre Hunde ausgeführt. Keine Ahnung, warum so früh. Das klärt Kollegin Schöller gerade. Ähm, wir, wir haben uns zufällig getroffen, und ich dachte, du könntest jeden Mann und jede Frau hier brauchen.«

»Weiter, weiter.«

»Die Hunde haben die Leiche gefunden. Und leider auch das Gelände ziemlich zerwühlt. Brauchbare Spuren dürfte es nicht mehr geben. Die Weidenbach war übrigens schon vor mir hier. Keine Ahnung, wie sie davon Wind bekommen hat. Garantiert gibt es einen Maulwurf unter uns.«

Appelt las zu viele Spionagegeschichten. Aber Gottlieb konnte ihm keinen Vorwurf machen. Er selbst hatte einen Narren an den Büchern von Mankell gefressen und hatte sich doch letzte Woche tatsächlich dabei ertappt, wie er überlegte, ob er wie sein schwedischer »Kollege« Wallander an Diabetes leiden könnte. Außerdem galt neuerdings sein erster Blick dem Wetter, etwas, das ihm früher vollkommen schnuppe gewesen war.

»Die Weidenbach hört wahrscheinlich den Polizeifunk ab«, sagte er. »Aber jetzt: Wer ist die Tote? Und was ist passiert? Erkenntnisse?«

»Vielleicht gehen wir zu ihr.«

Gottlieb hatte gewusst, dass er dem nicht ausweichen konnte. Aber er hatte aus irgendeinem irrationalen Grund bis jetzt gehofft, dass ihm der Anblick erspart bleiben würde. Nichts auf der Welt fürchtete er mehr als das, was gleich auf ihn zukommen würde. Sein Magen zog sich zusammen, ein Schweißtropfen perlte ihm langsam die Wirbelsäule hinunter. Seit über vier Jahrzehnten quälte ihn das Bild einer Frauenleiche, die mit verdrehten Beinen und Armen und offenen milchigen Augen am Fuß einer Kellertreppe lag, den Kopf in einer Pfütze von schwarzem Blut. Niemals hatte er je wieder einen solchen Anblick ertragen wollen. Das war schizophren, das wusste er selbst. Denn wer Polizist wurde, der musste damit rechnen, mit solchen Situationen konfrontiert zu werden, viel öfter sogar, als er es bislang erlebt hatte.

Ganz bewusst hielt er die Luft an und straffte seine Schultern, so wie es ihm der Therapeut vor zig Jahren beigebracht hatte. Dann bewegte er sich mit steifen Beinen zum Sandkasten. Es waren nur ein paar Meter, aber sie kamen ihm vor wie die Ewigkeit. Die Leiche war von der halbrunden Palisadenwand abgeschirmt, und sie lag dahinter wie in einem Himmelbett, über sich das Dach der mächtigen Platanen, unter sich der weiche, helle Sand. Ihre Gliedmaßen waren zum Glück nicht verdreht, sondern ordentlich ausgestreckt. Sie blutete auch nicht, aber ihr Anblick war dennoch unerträglich. Das ganze Entsetzen ihrer Todesqual war ihr noch ins Gesicht geschrieben, Sandkörner lagen in ihren weit aufgerissenen Augen. Am liebsten hätte er sich über sie gebeugt und ihr die Lider geschlossen. Aber das sollte besser die Rechtsmedizin tun. Er zwang sich, auf Details zu achten und so sein Entsetzen in den Griff zu bekommen.

Die Frau war klein, vielleicht knapp über einen Meter sechzig. Er schätzte sie auf Mitte bis Ende dreißig, aber das Nasenpiercing und die rot gefärbten Stoppelhaare konnten auch täuschen. Sie trug saubere, hautenge Jeans und ein blau-weißes Ringelhemd. Um den Hals zeichneten sich deutliche Male ab.

»Vermutlich erdrosselt«, bemerkte Appelt.

Das hatte er selbst bereits gedacht, aber er sagte nichts, um Appelt in seinem Eifer nicht zu enttäuschen.

»Wann ist die Rechtsmedizin hier?«

»Gegen acht, meinen sie.«

»Gegen acht?«

»Die kommen aus Freiburg, wie du weißt. Das kann dauern.«

Kollege Endres von der Spurensicherung kniete neben der Toten und sprach leise in sein Diktiergerät.

»Irgendetwas, das ich noch wissen muss?«, fragte Gottlieb ihn.

»Also, bei den engen Jeans würde ich ein Sexualdelikt fürs Erste ausschließen. Die kriegt man nicht so leicht runter oder rauf. Aber nach der Obduktion wissen wir mehr. Sie hatte nichts dabei, keine Handtasche, keine Schlüssel, keine Papiere. Die Kollegen sollten die Gegend durchkämmen.«

Gottlieb nickte und verbiss sich eine ärgerliche Bemerkung über diese Einmischung. Seinem Chef Säuerle hätte Endres solche Ratschläge nicht gegeben. Offenbar trauten die Kollegen ihm wenig zu. Dabei hatte er im Laufe seiner Dienstzeit mit Sicherheit mehr Mordfälle gelöst, als je in Baden-Baden passiert waren.

»Ruf Decker her«, befahl er Appelt, »wir bilden eine Soko. Ich brauche ihn.«

»Lukas ist in Bochum, beim Ruhr-Marathon.«

»Er war. Soll sofort herkommen.«

Lukas Decker war das Küken des Kommissariats, gerade erst von der Polizeischule gekommen, hellwach und ein Computergenie. Er dachte in anderen Bahnen als die älteren Kollegen, und frischen Wind brauchten sie dringend. Sie wären damit zu viert und würden sich, jeder auf seine Weise, wunderbar ergänzen. Die beste Voraussetzung, einen Mordfall aufzuklären.

*

Zwölf Stunden später saß die Soko Paradies im spartanischen Besprechungsraum des Polizeipostens in der Stadtmitte.

»Fassen wir zusammen«, begann Gottlieb und versuchte, nicht an Hamburger und Cheeseburger zu denken, nach denen sein Magen seit Stunden schrie. »Die Tatzeit lässt sich bis zur Obduktion nur ungefähr schätzen, vermutlich gestern zwischen zwanzig und vierundzwanzig Uhr. Der Auffindeort ist nicht der Tatort. Die Leiche wurde dort hingeschafft und abgelegt. Schleifspuren und Reifenabdrücke haben wir gesichert, alles andere war leider zerwühlt und zertrampelt. Außerdem können wir die Todesursache konkretisieren: Erdrosseln mit einem geflochtenen Gegenstand, vermutlich einem Gürtel. Den Rest bekommen wir in ein paar Tagen aus Freiburg, wenn wir Pech haben, sogar erst nächste Woche.«

Decker richtete sich fragend auf, und Gottlieb wusste, was er wollte.

»Das ist hier so in Baden. Freiburg ist zuständig. Die machen alles, aber langsam. Angeblich unterbesetzt.« Einen Seitenhieb auf den sprichwörtlichen Unterschied zwischen den bedächtigen Badenern und den flinken Schwaben verkniff er sich.

Decker sackte wieder in sich zusammen und malte weiter geheimnisvolle Zeichen auf seinen Notizblock.

»Weiter: Nach wie vor haben wir keine Ahnung, wer die Frau ist, wo sie umgebracht wurde, woher sie stammt. Nicht mal einen Hinweis auf ihre Nationalität.«

»Asien und Afrika können wir ausschließen, oder?«

Das war typisch Appelt.

»Sehr witzig. Jedenfalls haben wir weder Papiere noch Handtasche noch Schlüssel gefunden. Wir haben alles weiträumig abgegrast. Sie trug außer dem Nasenpiercing keinen Schmuck. Auch ihre Kleidung ließ keine Rückschlüsse zu, woher sie stammt. Wir haben landesweit noch keine Vermisstenmeldung, die auf sie passt.«

Sonja Schöller meldete sich wie in der Schule. »Wir müssen am Paradies anfangen. Das ist doch kein zufälliger Ort, an dem ein Mörder die Leiche ablegt wie zum Beispiel ein einsames Waldstück oder ein Parkplatz an der Autobahn.«

»Genau«, sagte Appelt, »daran habe ich auch schon gedacht. Das Paradies kennt kaum jemand. Man kann noch nicht mal direkt dort parken. Außerdem stehen an drei Seiten des Platzes Häuser. Es gibt kein Gebüsch, hinter dem man sich schnell verstecken kann, falls man gestört wird. Der Täter hätte also jederzeit überrascht werden können. Warum macht er es trotzdem? Vielleicht gerade weil er sich dort gut auskennt? Ein Anwohner also?«

»Stopp«, unterbrach Gottlieb ihn. »Ganz langsam. Sonja, wie weit bist du mit der Befragung der Nachbarschaft?«

»Bis jetzt keine Verdächtigen. Es war Freitagabend, die meisten haben im Familienkreis ferngesehen und sind dann ins Bett gegangen. Zwei Witwen konnten keine Zeugen dafür benennen, dass sie den ganzen Abend allein zu Hause waren, aber na ja. Die sind sehr alt, die hätten eine Leiche kein Stück weit bewegen können. Gesehen hat natürlich auch niemand etwas. Die Anwesen haben die Wohn- und Schlafzimmer zur Gartenseite hin. Das einzige Ehepaar, das vom Schlafzimmer im ersten Stock direkt auf den Sandkasten sehen könnte, hat gegen Mitternacht noch den Hund ausgeführt. Zu dem Zeitpunkt lag die Leiche definitiv noch nicht dort.«

Appelt sah zufrieden aus. »Na, das grenzt die Zeit doch schon etwas ein. Jemand hat sie also zwischen Mitternacht und sechs Uhr dorthin gebracht.«

Gottliebs Magen meldete sich wieder, diesmal mit größtem Nachdruck. Auch die anderen wirkten unkonzentriert.

»Feierabend, es ist gleich acht. Morgen früh um sieben geht es weiter.«

Auch am Sonntag kamen sie mit den Ermittlungen nicht von der Stelle. Vor allem die Identität der Toten konnte immer noch nicht geklärt werden. Gottlieb rief eine Pressekonferenz ein und gab Fotos heraus. Sie mussten auf Hinweise aus der Bevölkerung warten.

Er war skeptisch, ob die Bevölkerung tatsächlich helfen konnte. Ihre Chance war wohl eher der Fundort. Beim Paradies endete die Spur, oder vielleicht begann sie dort? Wie auch immer: Diese Spur würde über kurz oder lang direkt zum Täter führen, davon war er fest überzeugt.

Noch nie hatte er sich so geirrt.

Die Leiche im Paradies

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