Читать книгу Die Leiche im Paradies - Rita Hampp - Страница 8

VIER

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Maximilian Gottlieb war außer sich.

»Wie kommt das in die Zeitung? Woher weiß die das? Wieso wissen wir das nicht?«

Er klatschte den Badischen Morgen auf den Konferenztisch und sah die Kollegen seiner Soko an, einen nach dem anderen. Ein Haufen betretener Gesichter.

Es war acht Uhr, und die Telefone standen nicht still. Oberstaatsanwalt Pahlke hatte um Rückruf gebeten. Presse, Rundfunk, Fernsehen, Agenturen verlangten aufgeregt Auskunft über das, was er selbst nicht wusste.

»Um elf ist Pressekonferenz. Länger kann ich die Meute nicht hinhalten. Ich brauche jedes Fitzelchen Information. Hanno, du kümmerst dich um das Umfeld von der Völker. Sie stammt aus Leipzig, also sieh zu, was du von dort bekommst. Sonja, ans Telefon. Mach den Freiburgern Volldampf. Vor allem dieser Fingerabdruck im Bad interessiert mich. Der sah groß aus, wie von einem Mann. Und Lukas, du kommst mit mir. Wir knöpfen uns Mennicke vor. Todesursache, Feinde, letzte Begegnungen, Beerdigung, Erben. In zwei Stunden treffen wir uns wieder hier, um die ersten Ermittlungen abzugleichen. Macht euch auf einen langen Tag gefasst. Ich will nie wieder aus der Zeitung erfahren, was wir selbst hätten ermitteln können.«

Am meisten ärgerte Gottlieb sich über sich selbst. Er hatte seine Leute gestern nach der Durchsuchung der Wohnung heimgeschickt, weil er gedacht hatte, alles für den Tag Notwendige sei erledigt, der Rest habe Zeit bis zum nächsten Morgen. Trixi Völker war nicht im Fahndungscomputer, hatte keine Punkte in Flensburg, hatte sich in der Stadt ordnungsgemäß angemeldet, nachdem sie im Januar 2003 aus Leipzig hergezogen war. Und sie hatte vor vier Wochen Arbeitslosengeld beantragt. Davor hatte sie sich beim Finanzamt als Freiberuflerin registrieren lassen. Selbständige Diplom-Archivarin, stand in den Akten. Er hatte immer gedacht, Archivare seien in Institutionen angestellt, insofern hatte er sich über die Berufsbezeichnung gewundert, sie aber achselzuckend zur Kenntnis genommen.

Er hatte überhaupt alles nur noch zur Kenntnis genommen, ärgerte er sich jetzt. Er hatte Feierabend verkündet, sich bei McDonald’s zwei Plastikschüsseln Salat gekauft und war nach Iffezheim an den Rhein gefahren. Es gab nahe der Staustufe eine Bank, auf der er am allerliebsten saß, lieber noch als auf der im Paradies, die ihm ohnehin seit Samstag vergällt war, weil er mit einer ungeklärten Leiche im Rücken nicht abschalten konnte. Hier am Rhein war er von Anfang an am liebsten gewesen. Wenn er auf das träge Wasser blickte, den Schubverbänden und Containerschiffen nachsah und das leise Rauschen der Pappeln hinter sich hörte, dann war das Glücksgefühl pur für ihn, das ihn leicht werden ließ wie Zuckerwatte.

Er genoss diese absolute Ruhe in den Abendstunden, und zu seinem größten heimlichen Vergnügen gehörte es, genau dann das Handy abzuschalten. Einmal eine Stunde nicht erreichbar sein – das war unbezahlbarer Luxus für einen Polizeibeamten. Er gönnte sich das nicht oft. Meistens schaltete er das Handy nach fünf Minuten wieder ein, weil ihm sein Gewissen keine Ruhe ließ. Aber gestern hatte er es wirklich ausgeschaltet gelassen. Manchmal brauchte er das Gefühl, losgelöst zu sein vom Alltag, damit er hinterher wieder besser funktionieren konnte. Er hatte es mühsam lernen müssen, dieses Abschalten und Loslassen, die Gedanken treiben lassen. Hätte er es früher gekonnt, vielleicht wäre er dann noch mit Klara zusammen.

Er hatte sich zurückgelehnt und beobachtet, wie die Sonne langsam golden, dann rot wurde und in Zeitlupe auf der französischen Seite versank. Die Vögel jubilierten noch einmal auf, besonders die Amseln sangen ein letztes Abendlied, dann wurde es langsam still.

Nein, Klara hätte er nicht halten können. Wahrscheinlich war es von Anfang an ein Fehler gewesen, dem Traum von einem harmonischen Familienleben nachzurennen. Wenn er abends oder spät nachts völlig erschöpft heimgekommen war, war er viel zu erschlagen gewesen, um noch ein guter, geduldiger, liebevoller Zuhörer und Ehemann zu sein. Er hätte am liebsten ein Glas Trollinger getrunken, die Füße hochgelegt und schweigend den Tag verdaut, einsam, ausgepowert. Es war ihm zu viel geworden, sich dann noch Klaras Vorwürfen über seine Unzuverlässigkeit, über längst überfällige und versprochene Reparaturen oder Verwandtschaftsbesuche zu stellen. Was war nur aus ihnen geworden. So kindisch glücklich und hoffnungsvoll waren sie in die Ehe gestartet. Und zuletzt waren sie als zwei enttäuschte, griesgrämige Erwachsene aufgewacht. Klara als Frau, die sich leer fühlte und sich auf die Suche nach dem Sinn des Lebens begeben wollte, und er als einsamer Steppenwolf, der sich in die Provinz verkroch, um seine Wunden zu lecken.

War er jetzt glücklicher? Zufriedener und ausgeglichener auf jeden Fall. Er liebte diese ungestörten Stunden am Rhein oder die Nächte mit seinem Saxophon und vielleicht auch mal einem Gläschen zu viel, er genoss die Stille, in der er wieder Kraft tanken konnte. An freien Wochenenden gab es zwar Augenblicke, in denen er Angst bekam, dass das Leben an ihm ungenutzt vorbeizog, doch dann half er sich mit einem Abstecher ins Büro, und alles war wieder gut.

Wäre er doch gestern nur dort geblieben, statt sich an den Rhein zu flüchten! Natürlich war ihm noch der Satz der Weidenbach durch den Kopf gespukt, dass die Völker Beweise für ein Komplott gegen ihren Onkel hatte vorlegen wollen. Er hatte sogar nach etwaigen Beweisen in der Wohnung suchen lassen. Dann aber hatte er sich damit zufrieden gegeben, dass die Kollegen »negativ« gemeldet hatten. Er hatte einfach nicht weitergedacht. So ein Fehler würde ihm in diesem Fall nicht mehr unterlaufen, das versprach er sich.

»Mord im Paradies – führt die Spur zu Mennicke?« – diese Überschrift wurmte Gottlieb unglaublich. Die Weidenbach hatte genüsslich von dieser Todesanzeige berichtet und die Frage gestellt, woran er wohl gestorben sei und ob sein Tod mit dem Mord an seiner Nichte in Verbindung stand. Dann hatte sie behauptet, dass kein Verantwortlicher mehr nach 20 Uhr ans Telefon gegangen war, um ihre Fragen zu beantworten. Kein Verantwortlicher! Damit meinte sie ihn! Natürlich hatte sie das Recht gehabt, Kritik zu üben, daran gab es nichts schönzureden. Üblicherweise wollten Journalisten ein Statement, um ihre Recherchen auf offizielle, seriöse Füße zu stellen. Wenn sie ihm aufs Band gesprochen hätte, hätte er noch rechtzeitig mit ihr reden können. So aber hatte sie ihm jede Gelegenheit genommen, ihren wilden Spekulationen solide polizeiliche Ermittlung gegenüberzustellen.

*

Als er um elf vor die Presse trat, fühlte er sich erheblich wohler. Die Weidenbach war weit übers Ziel hinausgeschossen mit ihrer übereilten Sensationsschreibe, das würde er gleich belegen. Diese Runde würde, was die Presse anging, klar an ihn gehen. Ganz anders sah es mit den Ermittlungen selbst aus, da traten sie auf der Stelle. Aber das würde er niemandem hier im Saal auf die Nase binden.

Er fixierte die Weidenbach, die auf ihrem angestammten Platz in der ersten Reihe saß, mit strengem Blick und stellte wieder einmal fest, wie gut sie aussah, so frisch und natürlich, mit einem offenen Gesicht und großen, klaren, intelligenten Augen, die wiederum ihn wachsam musterten.

»Frau Weidenbachs Artikel hat uns hier so schnell zusammengebracht«, begann Gottlieb und versuchte, neutral zu klingen. Er hob die Zeitung hoch. Blitzlichter flammten auf, und die Weidenbach verwandelte sich in eine Mischung aus Stolz und Fragezeichen.

»Ich kann dazu zwei Dinge anmerken.« Wieder machte Gottlieb eine Kunstpause und sah in die Runde. Normalerweise hielt Ingolf Säuerle solche Konferenzen ab, und er hatte ihn nie darum beneidet. Doch heute genoss er es fast, mit der Macht der Informationen zu spielen.

»Erstens: Trixi Völker ist nicht die Nichte von Horst Mennicke. Zweitens: Horst Mennicke starb am 28. März in der Pflegeabteilung der Seniorenresidenz Imperial an nichts anderem als an Altersschwäche. Er war einundneunzig.«

Gelächter. Die Weidenbach lief rot an. Bestimmt ärgerte sie sich jetzt, dass sie nicht genauer recherchiert hatte. Das konnte er ihr gut nachfühlen. Und deshalb wollte er sie erlösen. Er kramte noch einen Augenblick betont umständlich in seinen Zetteln, um sie wenigstens noch ein bisschen zappeln zu lassen, dann fuhr er versöhnlich fort: »Frau Weidenbach hatte allerdings in einer Hinsicht Recht: Es existiert eine Zeitungsanzeige, in der Trixi Völker den Tod Horst Mennickes bekannt gibt. Warum sie das getan hat, versuchen wir noch herauszufinden. Unsere Nachforschungen gestalten sich etwas schwierig, weil Mennicke die letzten Jahre sehr zurückgezogen gelebt hat und äußerst öffentlichkeitsscheu war. Aber das wissen Sie von der Presse und vom Fernsehen wahrscheinlich aus eigener Erfahrung. Viel gibt es zu diesem Herrn von unserer Seite daher nicht zu sagen. Es hat uns wertvolle Zeit gekostet, dieser blinden Spur nachzugehen. Wir würden uns ab sofort lieber wieder mit unserer eigentlichen Arbeit beschäftigen, nämlich den Mord an Trixi Völker aufzuklären.«

Gespanntes Schweigen.

»Dazu brauchen wir Ihre Mithilfe. Am Eingang geben wir ein relativ neues Bild von ihr aus und möchten Sie bitten, es zu veröffentlichen. Wir suchen dringend Personen, die sie kannten, die wissen, wo sie gearbeitet hat, und die am Tag des Mordes, also am siebten Mai, mit ihr Kontakt hatten. Im Supermarkt, im Bus, beim Frisör, egal.« Dass die Frau in Leipzig einen Ehemann hatte, der aber nicht auffindbar war, verschwieg er. Wer wusste schon, welche Rückschlüsse die Journalisten daraus ziehen würden.

Jemand vom Südwestrundfunk meldete sich. »Gibt es etwas Neues zu Todesursache und -zeitpunkt?«

»Den Spuren am Hals nach wurde sie von vorne erdrosselt, mit einem schmalen geflochtenen Gegenstand, wahrscheinlich einem Gürtel. Tatzeitpunkt: Zwischen 20 Uhr und Mitternacht. Wir haben an ihr merkwürdigerweise keine Anhaltspunkte von Gegenwehr gefunden. Der Fundort ist höchstwahrscheinlich nicht mit dem Tatort identisch. Schleifspuren und schwache Reifenabdrücke deuten darauf hin, dass sie aus einem Auto gezogen und zum Sandkasten geschleppt wurde.«

Die Weidenbach stand auf. »Wieso gehen Sie bei Mennicke von natürlichem Tod aus? Gab es eine Obduktion, oder ist das Ihre persönliche Mutmaßung aufgrund seines Alters?«

Teufel, die Frau ließ sich nicht unterkriegen, wenn sie sich in etwas verbissen hatte. Das rang ihm schon wieder Respekt ab. Er hatte gehofft, dass sie nicht nachbohren würde, denn hier bewegte er sich auf dünnem Eis. »Wir haben den Totenschein des Hausarztes, die Krankengeschichte und die Bekundungen des Pflegepersonals. Es gibt, außer Ihren nebulösen Andeutungen, keinerlei Hinweise auf eine Straftat, die eine Obduktion angebracht erscheinen ließen. Oder liegen Ihnen etwa derartige Erkenntnisse vor, die Sie der Polizei vorenthalten?«

Sie setzte sich und schrieb weiter mit, was er zu berichten hatte. Aber sie ärgerte sich, daran gab es keinen Zweifel.

*

Lea gestikulierte zornig, als sie mit Franz Abraham das Polizeigebäude verließ.

»Nichts am Tod von Mennicke dran? Das sehe ich aber anders. Trixi Völker sprach von einem Komplott gegen ihren Onkel, als der bereits tot war. Was soll sie sonst im Sinn gehabt haben, wenn nicht ein Mordkomplott? Das liegt doch auf der Hand – meine Güte, der hat mich ja abgekanzelt wie ein Schulmädchen.« Sie sah zur Uhr. »Komm, eine halbe Stunde nehmen wir uns. Gönnen wir uns bei ›Leo’s‹ einen Milchkaffee.«

Sie überquerten die Straße und stießen die Flügeltüren des Lokals auf. Wie immer empfing sie angeregtes Stimmengewirr. Sie konnten einen der begehrten Plätze am Fenster ergattern. Lea entspannte sich zusehends. »Leo’s« war eines ihrer Lieblingslokale in der Stadt, fröhlich, gemütlich, jung. Vor allem die großen Fotografien an den Wänden, die riesige Theke in der Mitte mit der imposanten Flaschensammlung und das dunkle Mobiliar machten den Charme des Bistros aus.

Als sie ihre großen roten Tassen vor sich hatten, knüpfte Franz das Gespräch weiter.

»Vielleicht hat Gottlieb Recht, Lea. Vielleicht sollten wir erst versuchen, mehr über Trixi Völker herauszufinden, und so vielleicht an ihren Mörder herankommen. Und dann werden wir vielleicht auch mehr über das Komplott erfahren.«

»Umgekehrt. Ich glaube, wenn wir das Komplott gegen Mennicke aufklären, dann haben wir auch Trixis Mörder. Gottlieb muss doch nach der Wohnungsdurchsuchung regelrecht auf den Beweisen sitzen, von denen Trixi gesprochen hatte. Warum sehen die von der Polizei sie nicht? Und dann der Tod von Mennicke. Warum exhumieren sie ihn nicht? Sie müssten doch selbst am besten wissen, dass man dem Totenschein nicht immer glauben kann. Altersschwäche? Nein, ich glaube, dass am Tod von Mennicke etwas nicht koscher war.«

»Aber dafür gibt es doch keinerlei Anhaltspunkte.«

Lea tastete wieder fahrig über ihren Rucksack. Dies war so ein Moment, in dem sie einen kräftigen Zug vermisste. »Franz, ich habe gelernt, mich auf mein Gefühl zu verlassen. Und das sagt mir, dass ich bei Mennicke anfangen soll und dann unweigerlich beim Mörder von Trixi landen werde. Also, wie komme ich an die Beweise in Trixis Wohnung?«

»Legal?«

»Na klar!«

Franz zuckte mit den Schultern und rührte wortlos in seiner Tasse. Dann nestelte er verlegen seinen Tabak aus der Hosentasche.

Lea trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Franz hatte mit seinem Schweigen Recht. In Trixis Wohnung kam sie fürs Erste nicht. Es musste einen anderen Weg geben. Immer quälender wurde die Vorstellung, dass die Frau noch leben könnte, wenn sie mit ihr am Freitagabend zusammengekommen wäre.

Der Tod von Trixi Völker hatte sie auch aus einem anderen Grund tief getroffen. Die Frau war, wie Gottlieb inzwischen herausgelassen hatte, neununddreißig Jahre alt gewesen, gerade mal zwei Jahre jünger als sie. Viel zu jung, um zu sterben. War es Trixi Völker ähnlich gegangen wie ihr selbst? Hatte sie sich auch wie in einem Hamsterrad gefühlt, Aufgaben nachrennend, ohne noch einen Blick für das Wesentliche im Leben zu haben? Was wäre, wenn sie selbst sterben müsste? Morgen schon könnte sie einem Verkehrsunfall zum Opfer fallen. Würde sie spurlos verschwinden, als habe es sie nie gegeben? Oder hatte sie ihre Aufgabe im Leben gefunden, die bis in die Nachwelt reichen würde? War es wirklich der Journalismus? Diese Artikel, die so viel Staub aufwirbelten und doch einen Tag später vergessen waren? Würde es ihr Romanprojekt sein? Was war überhaupt der Sinn des Lebens? Kinder, die einen Teil des eigenen Ichs weiter hinaus ins Leben trugen? Menschen, denen sie geholfen hatte und die sich liebevoll an sie erinnern würden? Gab es jemanden, dem sie wirklich fehlen würde? Selbst bei Justus war sie sich nicht sicher, so festgewurzelt, wie er in seiner Welt war. War nicht eher Glück, vollkommenes Glück, das, wonach jeder Mensch strebte? Wann wusste man, dass man es gefunden hatte?

Frau Campenhausen machte den Eindruck, dieses Glück erfahren zu haben. Sie führte, wie man so schön sagte, ein erfülltes Leben. Musste man also erst alt werden, um das Geheimnis des Glücks zu erfahren? Und: Starb es sich denn leichter, wenn man ein gutes Leben hinter sich wusste? Oder konnte man, wie in Horst Mennickes Fall, der Nachwelt noch mit einundneunzig Jahren ein Rätsel aufgeben und somit über den Tod hinaus unvergesslich bleiben?

Mit einem Ruck landete Lea wieder in der Wirklichkeit.

Sie wusste plötzlich, wo sie nachhaken musste: bei Mennicke und den letzten Tagen seines Lebens.

*

Eine Stunde später saß Lea im Büro von Henriette Jablonka, der Leiterin der Seniorenresidenz Imperial. Das prächtige alte Haus war offenbar vor nicht allzu langer Zeit komplett und luxuriös renoviert worden, im Stil der feinen, teuren Villen, die das Stadtbild von Baden-Baden prägten. Es lag auf der Schattenseite der Stadt, bot aber einen hinreißenden Blick auf den alten Stadtkern und die berühmte Lichtentaler Allee. Die Allee hatte ihre Bedeutung als Promenadenstraße für vornehme Pferdedroschken längst verloren, aber die riesige alte Parkanlage diente auch heute noch Touristen aus aller Welt, besonders aus dem Osten Europas, als elegante Flaniermeile.

Frau Jablonka war die resolute Kompetenz in Person, stämmig, rotbackig, mit grauer Meckifrisur und wachen Augen hinter einer futuristischen Brille. Ihr Händedruck war genauso fest wie ihre Stimme.

»Ich gebe keine Auskunft über Herrn Mennicke. Er war uns ein lieber Gast, ein sehr lieber, der jede Öffentlichkeit ablehnte und dem seine Privatsphäre heilig war. Das wollen wir über seinen Tod hinaus respektieren, wie wir es die sechs Monate getan haben, die er bei uns war.«

Lea nickte betreten. Das hatte sie insgeheim befürchtet, aber sie wollte nichts unversucht lassen. Und harte Nüsse waren eigentlich ihre Spezialität. »Es geht mir auch mehr um seine Bekannte, Trixi Völker. Die Tote im Paradies«

Frau Jablonkas Augen wurden schmal. Sie tippte auf den Badischen Morgen, der vor ihr lag. »Das ist also von Ihnen? Spur führt zu Mennicke. Also wirklich!«

»Frau Völker hat mir kurz vor ihrem Tod versichert, sie hätte Beweise.«

»Wofür?«

»Das wissen Sie wahrscheinlich besser als ich.«

Ein nichts sagender Satz, der schon oft Wunder bewirkt hatte. Auch heute.

Die Jablonka fuhr zurück, ihr Blick wanderte nervös hin und her. Sie stand auf und ging zum Fenster, von dem aus man die Baufortschritte des Burda-Museums beobachten konnte. Im Herbst sollte die Einweihung sein.

Die Frau war verunsichert. Sofort weiterkitzeln. Manchmal brachten selbst harmlose Fragen überraschende Ergebnisse.

»Wie war das Verhältnis von Trixi Völker zu Horst Mennicke?«

Doch die Jablonka erholte sich schnell. »Ich bitte Sie zu gehen. Ich werde Ihnen keine Auskunft geben, und dabei bleibt es. Und wegen Ihrer ungeheuerlichen Andeutungen – ich werde mich beschweren. Ich kenne Herrn Reinthaler sehr gut und ebenso Ihren Verleger.«

Damit brachte sie Lea zur Tür.

Allerdings nur zur Bürotür, weil in diesem Moment das Telefon zu klingeln begann. »Sie kennen den Weg hinaus«, entließ die Heimleiterin sie und schloss die Tür.

Zunächst war Lea versucht zu lauschen, doch dann beschloss sie, dies als zweite Chance zu nutzen. Ohne zu zögern marschierte sie den Gang in die dem Ausgang entgegengesetzte Richtung, den Schildern zur Pflegeabteilung folgend.

»Na, zu wem wollen wir denn?«, hielt eine freundliche Stimme sie auf. Sie drehte sich um.

Eine hagere Person in Schwesternkleidung war in der Tür mit der Aufschrift »Pflegedienstzimmer« erschienen.

Lea wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte sich nicht erneut einen Korb holen, wenn sie den Namen Mennicke erwähnte.

Doch die Frau verzog ihre schmalen Lippen zu einem herzlichen Lächeln. »Ich bin Schwester Monika. Wollen Sie jemanden besuchen? Das wäre schön. Hier kommt so selten jemand vorbei.«

Sie blies eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem dünnen Dutt gelöst hatte. Schon suchten ihre Hände automatisch die Frisur nach einer Klammer ab, mit der sie den Ausreißer wieder befestigen konnten. Dabei strahlte sie Lea unverwandt aufmunternd an.

Lea sah sich vorsichtig um. Von der Jablonka keine Spur.

»Ich ermittle im Mordfall Paradies«, begann sie und ließ bewusst offen, für wen sie diese Ermittlungen führte. Wenn ihr Gegenüber vermutete, sie sei von der Polizei – umso besser.

Die Schwester reagierte eifrig. »Ich habe davon gelesen. Die Arme. So eine sympathische Frau. Sie hat sich einfach rührend um Onkel Mennicke gekümmert. Das hätten Sie sehen sollen: Jeden Tag war sie hier, hat ihn gewaschen, gekämmt, gefüttert und ihm kofferweise Dokumente gebracht. Sie haben sich so viel zu erzählen gehabt. Immer wenn ich am Zimmer vorbeikam, habe ich sie reden gehört. Manchmal haben sie Gedichte zusammen rezitiert, manchmal hat Frau Völker gesungen, und sehr oft haben sie gekichert wie die kleinen Kinder. Onkel Mennicke war zwar gebrechlich, aber bis zuletzt vollkommen klar im Kopf.«

»Onkel Mennicke?«

»Es gefiel ihm, wenn wir ihn so nannten, er hat uns darum gebeten. Ach, er fehlt uns. So ein liebenswürdiger, gütiger und kluger Mensch. Ich habe nie auch nur ein böses Wort von ihm gehört. Im Gegenteil. Er hat sich für alles bedankt, für die kleinste Selbstverständlichkeit. Und er war bescheiden. Unglaublich eigentlich bei all den Reichtümern, die er besaß, nicht wahr? Na ja, ich sollte lieber sagen, die er besessen hatte bis zum Auftauchen von diesem ...« Schwester Monikas Augen weiteten sich, und sie biss sich auf die Lippen.

»Bis zum Auftauchen von ...?«, half Lea nach.

»Schluss jetzt. Sie verlassen umgehend das Haus. Und Sie, Schwester Monika, schreiben mir ein Protokoll über das Gespräch. Ich will es zum Schichtwechsel auf meinem Schreibtisch haben.« Wie ein Racheengel war die Jablonka hinter ihnen aufgetaucht. Sie machte eine energische Handbewegung. »Dort ist der Ausgang, Frau Weidenbach. Und schlagen Sie sich den Gedanken aus dem Kopf, hier noch einmal herumschnüffeln zu können.«

Sie ließ Lea nicht einmal Zeit, sich von der netten Schwester zu verabschieden, geschweige denn, ihr eine Visitenkarte in die Hand zu drücken. Diese stand wie ein begossener Pudel da und hob hilflos die Schultern.

»Aber sie hat gar nichts gesagt«, beteuerte Lea so laut, dass Schwester Monika es hören konnte, und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Sie hat das Gleiche gesagt wie Sie, nämlich dass sie mir keine Auskunft gibt.«

Im Zurückblicken sah sie, wie Schwester Monika ihr dankbar zunickte und ihr ein letztes herzliches Lächeln schenkte, gepaart mit einer Spur Angst.

Dann stand sie wieder auf der Straße.

Um die Ecke parkte ihr Wagen. Franz wartete neugierig auf dem Beifahrersitz. »Wie war’s?«

»Du bist dran«, erwiderte sie müde und schnupperte argwöhnisch. »Hast du hier drinnen geraucht?« Sie wäre gestorben für eine Zigarette.

Franz bekam einen roten Kopf und kurbelte das Fenster herunter.

»Egal. Wir brauchen einen Kontakt im Imperial. Geh du hinten herum, ich habe durch die Fenster gesehen, dass dort die Transporter und die Wagen der Beschäftigten stehen. Gib dich als Zivi in spe aus, der eine Stelle im Pflegedienst sucht oder so was Ähnliches. Vielleicht schaffst du es, zu einer Schwester Monika in der Pflegeabteilung durchzudringen, eine kleine Frau, an der alles dünn ist außer ihrem Lächeln. Gib ihr einfach nur das hier.« Sie fingerte eine Visitenkarte aus dem Rücksack. »Reden wird sie sicherlich nicht mit dir. Dazu suchst du dir am besten jemanden von den jungen Hilfskräften. Lass dich aber bloß nicht von der Jablonka erwischen. Wenn eine runde Mamsell auf dich zurollt, dann ist Alarmstufe rot, hörst du, dann brichst du sofort ab und kommst in die Redaktion.«

Franz nickte und machte sich auf den Weg.

Es dauerte zwei Stunden, bis er zurück in der Redaktion war. Schwester Monika, so berichtete er, sei entsetzt gewesen, als er ihr Leas Visitenkarte gegeben hatte. Sie habe sowieso schon zu viel gesagt und wolle auf keinen Fall tiefer in die Sache hineingezogen werden. Welche »Sache« sie meinte, hatte sie nicht verraten, aber die Karte habe sie eingesteckt, mit spitzen Fingern, als könnte sie sich an ihr verbrennen.

Dann hatte Franz einige Zivildienstleistende getroffen, die im Hof eine Raucherpause einlegten. Einen von ihnen hatte er noch von der Schule gekannt, aber niemand konnte ihm weiterhelfen, denn alle waren erst seit dem 1. April im Imperial, und da war Mennicke schon tot gewesen.

Lea schnalzte ärgerlich mit der Zunge, dann beugte sie sich wieder über den Stapel Zeitungsausschnitte, die sie sich in der Zwischenzeit über Mennicke aus dem Archiv hatte kommen lassen. Dafür, dass er öffentlichkeitsscheu gewesen war, war das Material erstaunlich ausführlich. Es begann 1951 mit den Berichten von seiner Hochzeit. Im Alter von achtunddreißig Jahren hatte er seine langjährige Sekretärin geheiratet. Er war zu diesem Zeitpunkt Geschäftsführer der Stiftungen seines Vaters gewesen, der sein Geld als Kaffeeimporteur gemacht hatte. 1955 starb sein Vater und hinterließ ihm als alleinigem Erben ein riesiges Vermögen, das er fortan sorgsam hütete und mehrte. 1960 öffnete Mennicke die so genannte Alleevilla mit ihren unermesslichen Kunstschätzen für die Öffentlichkeit, und zwar jeweils zu den großen Ereignissen des Pferderennsports in der Stadt, zunächst also ausschließlich während der großen Rennwoche, dann, als 1972 das Frühjahrsmeeting dazukam, zweimal im Jahr. Zehn Jahre später machte er Schlagzeilen, weil er bei Sotheby’s einen Rubens für fünf Millionen Mark ersteigerte.

Zur gleichen Zeit, Anfang der achtziger Jahre, kam es zum Streit mit den Stadtvätern, als er der Stadt seine Alleevilla mit all den wertvollen alten Meistern und der kostbaren Bibliothek als Museum schenken wollte, man von ihm aber als Gegenleistung verlangte, für die nächsten fünfzig Jahre den Unterhalt der Räume sowie einen Kurator zu finanzieren und außerdem noch eine Tiefgarage zu bauen, die die zu erwartenden Besucherströme aufnehmen sollte. Verschnupft zog er sein Angebot zurück, gründete eine Stiftung für seine Kunstschätze und weigerte sich trotz mehrfacher Bitten, die Alleevilla wie früher wenigstens während der Rennwochen zu öffnen.

Als 1985 seine Frau starb, zog er sich vollkommen aus der Öffentlichkeit zurück. Mitte der neunziger Jahre gab es das hartnäckige Gerücht, er habe sich mit einer erklecklichen Spende am Bau des Festspielhauses beteiligt. Da aber war er bereits so publikumsscheu, dass der Badische Morgen nur Mutmaßungen anstellte unter dem Hinweis, der Spender habe gedroht, das Geld zurückzuziehen, wenn sein Name in der Öffentlichkeit bekannt würde. Die vorletzte Meldung datierte von seinem neunzigsten Geburtstag, an dem er die Delegation der Stadt unter Vorsitz der Oberbürgermeisterin weggeschickt hatte, als diese ihm die Verdienstmedaille der Stadt verleihen wollte. Über seinen Tod war nur ein kleiner Bericht erschienen. Seine Beerdigung war den verschiedenen Presseorganen nur kleine Notizen wert gewesen. Offenbar hatte man sich seinem Wunsch nach Privatheit gebeugt.

Nachdenklich blätterte Lea die Zeitungsausschnitte noch einmal durch. Es sah nicht so aus, als habe Mennicke Feinde gehabt, einmal abgesehen von den verbohrten Stadtvätern vor über zwanzig Jahren. Das Komplott, von dem Trixi Völker ihr berichten wollte, musste also eher im engen Umfeld von Mennicke geschmiedet worden sein. Aber wie? Und von wem?

Lea schob die Artikel zusammen und legte sie in den Archivordner zurück.

Dann drehte sie sich um und gab Franz ein Zeichen. »Hol deine Kamera, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Sie mussten sich dringend diese Alleevilla ansehen.

Die Leiche im Paradies

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