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Die Revolution im Tübinger Stift

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Zunächst aber herrschte Begeisterung. Und wen wundert es, daß sich der Jubel besonders stark und laut unter den Studenten erhob, waren sie es doch, die berechtigterweise glauben konnten, daß diese Welt, die da aufzudämmern schien in Frankreich, die ihre werden könnte. Eine neue, eine interessantere Welt, die sie noch jederzeit bereit und fähig waren, einzutauschen gegen die karge Gedankenwelt. Denn ihre Lehrer waren ja gerade erst dabei, sie allein ans Denken, sie ausschließlich ans philosophische und theologische Denken zu gewöhnen. Doch was ist ein theoretisches Denken, was alle Geheimnisse der Abstraktion gegen eine erdverbißne Geburt, die sich jenseits des Rheins gerade vollzog?

Da jedoch in Deutschland – und erst recht im Tübinger Stift – zur entscheidenden Stunde Entscheidendes nicht zu machen war, jedenfalls nichts Sichtbares, nichts Praktisches für diese ganz neue Welt, die da geboren wurde, mühsam, verfolgte man die Ereignisse wenigstens in den Zeitungen, den deutschen und den französischen, und feierte mit jeder neuen Nachricht, die da kam von dieser Revolution, die Zukunft. Man formte Träume, Träume aus Licht – und den französischen Nachrichten. Natürlich waren es die Studenten, die nicht wußten, wohin mit ihrer Begeisterung, und so rannten sie zunächst einmal durch die Stadt. Sie suchten in den Straßen, in den Gasthäusern der Tübinger Umgebung nach Ideen, Gründen, Begründungen und Tatsachen für die neue Zeit, die da anzubrechen versprach – eine Zeit ohne Kompromisse und Unzulänglichkeiten – so hofften jedenfalls die Studenten und mit ihnen die meisten bürgerlichen Intellektuellen in Deutschland. Das »revolutionäre Treiben« der Stiftler aber sprach sich in der kleinen Stadt bald herum, so daß sich der Herzog veranlaßt sah, im Kloster zu erscheinen, um in landesväterlicher Liebe den Studenten zu sagen, daß er besorgt sei, da sich die Stiftler trotz aller väterlichen Fürsorge undankbar zeigten und »ihre Laufbahn nicht in der vorgeschriebenen Ordnung und Anständigkeit und mit dem gebührenden Fleiße fortsetzen«, zumal das künftige Wohl des Vaterlandes – seines Landes – und der Kirche – seiner Kirche – dadurch in eine Gefahr komme, die er abzuwenden gedenke.1

Was aber ist vergeßlicher als Dankbarkeit, sollte man den Herzog fragen, insbesondere wenn man sie von Jugendlichen fordert. Ein Vorzug, den die Jugend besitzt, ist ja gerade der, daß ihr Lebensentwurf noch nicht endgültig festgeschrieben ist, daß ihre Möglichkeiten zu leben auch darin bestehen, gegen die vorgeschriebene Ordnung und Anständigkeit zu leben, eben weil diese Ordnung nicht die ihrige ist und es nicht unabänderlich werden muß. Doch was tun, wenn vorerst nichts Wesentliches, nichts Eingreifendes zu machen ist. Vielleicht – den Geist wachhalten. Das Gedächtnis trainieren. Vielleicht die Theorien, die diese Revolution vorbereiteten, noch einmal studieren, sich neu einlesen in die wichtigsten Sätze. Hören auf die Worte und Sätze, über die man vordem hinweggelesen hat. Überlegen, warum sie jetzt anders klingen. Danach vielleicht das Wesentliche und Unwesentliche an den Dingen neu bemessen und die Rangordnung des Wichtigen nochmals überprüfen. Vielleicht neben Sophokles und Platon, neben Rousseau, Schiller und Kants »Praktischer Vernunft« doch die »Reine Vernunft« lesen, schließlich diskutieren andere Stipendiaten das Buch von Kant schon einige Zeit. Vielleicht ist doch etwas an ihm, was Hegel jetzt besser verstehen kann.

Oder Locke und Hume lesen, sich ansehen, was Hume über den Zweifel zu sagen hat. Oder sollte er sich verlieben in die recht attraktive Tochter eines Theologieprofessors, die Auguste heißt. Er machte beides, sich verlieben und Kants »Kritik der reinen Vernunft« studieren, was eine recht vernünftige Relation werden konnte – zumal Fräulein Hegelmeier im Hause einer Weinstube wohnte, so daß Hegel seine gerade erst angenommene Gewohnheit, sich in Zweifelsfällen auch mit Wein und Bier zu besprechen, nicht unbedingt aufgeben mußte. Lange hält man nämlich die Liebe zur ganzen Menschheit nicht aus, wenn man nicht zugleich wahrnehmbar zu lieben vermag, fernab von aller Verstiegenheit und Abstraktion. Zu lange hält man es eben nicht durch, für die ganze Menschheit zu leben, zu leiden, zu hoffen, wenn nicht hin und wieder eine konkrete Person ins eigene Leben tritt, auf die man hoffen kann, eine, mit der man leben und leiden kann, fernab von allen platonischen Entzugserscheinungen. Und so hielt es Hegel dann auch: War das Motto des Sommers 1790 noch der Wein, so beschloß er, das Motto dieses Sommers wird das der Liebe sein.2

Aber das reicht ja alles nicht, reicht nicht aus, reichte im Falle von Hegel tatsächlich nur für einen Sommer, bis er Enttäuschung registrieren und in Reflexion auf die Hegelmeier sich schon wieder fragen mußte: »Wo fließt mir rein des Lebens Strom?«3

Was bloß machen, was nur tun?

Er beschloß, intensiver zu studieren. Ganz ohne Fleiß, ganz ohne Arbeit war ja das theologische Seminar nicht zu bewältigen. Und nach Wochen der Gewöhnung macht es ja dann auch Freude, der Lösung einer theoretischen Fragestellung näherzukommen.

Da sitzt man dann ganz ohne Zwang und merkt, daß im Zimmer am Schreibpult alles viel sicherer ist als auf der Straße, als auf dem Marktplatz oder gar in den Seminarräumen des Stifts. Daß man im Zimmer viel weniger diesen Erziehungsmaßnahmen ausgesetzt ist, die vom Einzelnen nicht selten als Anmaßung, wenn nicht gar als Misshandlungen gedeutet werden.4 Ärgerlich ist nur, daß man abends, allein mit sich, »alle Magisters- und Doktors-Titel, samt hochgelahrt und hochgeboren« zum Teufel wünscht.5

Was also tun? Auf keinen Fall aufgeben, auf keinen Fall resignieren, sondern nach Wegen suchen, weitersuchen, zumal Frankreich der alten Welt gerade zeigt, daß auch anderes, Neueres möglich ist. Also weitersuchen. Weitergehen und mit Klugheit handeln. Das Maß nicht überschreiten, wodurch den Stiftlern jegliche Möglichkeit des Wirkens genommen würde. Weiterlernen. Sich anpassen. Sich durch Anpassen nicht anpassen. Sich nicht ganz entzweien mit der deutschen Wirklichkeit, um ihre völlige Entzweiung vorzubereiten. Den Anmaßungen dieser Wirklichkeit ausweichen. Im Ausweichen diese Wirklichkeit angreifen. Den Anmaßungen, der Knechtung zuvorkommen, indem man gegen Scheinknechtungen nicht protestiert. Die erste Anmaßung aushalten, nicht protestieren, um der zweiten desto sicherer entgehen zu können. Den Angriffen der Stiftsleitung zuvorkommen, indem man sie durch Pseudoangriffe zwingt, die Reihenfolge ihrer Erziehungsmaßnahmen zu ändern. Geduld üben, indem man sich ungeduldig, ja hastig gibt und damit die Nerven der Professoren für Unwichtiges überreizt, so daß letztlich sie zugeben müssen, ohne Geduld reagiert zu haben. Sie bei Bedarf ablenken, umlenken, sie auf Dinge aufmerksam machen, die nicht wesentlich sind. Auf jeden Fall die Balance halten, sich nicht jede Möglichkeit der tätigen Wirkung nehmen lassen. Also Aufwand und Nutzen gut berechnen. Klug sein, nicht sprechen – so wahr es auch sei – wenn man nicht sicher ist, daß ein Zweck dadurch erreicht wird.6

Sich mit der alten Wirklichkeit nicht ganz entzweien. Auch dann, wenn diese Wirklichkeit hauptsächlich verachtenswert ist? Auch dann. Denn wem nutzt es, auf Barrikaden zu gehen, hinter denen nichts zu verteidigen ist. Was sollten Revolutionäre revolutionieren in einem Land, in dem keine revolutionäre Situation bestand, in dem das Bürgertum, soweit überhaupt vorhanden, in Kleinstaaten zersplittert, ohne den für die Bürger so notwendigen einheitlichen Markt existierte? Wie sollten sie ihren Willen, ihr Interesse artikulieren, ständig bedrängt und beengt durch die örtliche Fürstenherrschaft, von der sie doch abhängig waren. In Deutschland bestanden die Bürger als einheitliche Klasse noch gar nicht. In Kleinstaaten blieben ihre Möglichkeiten zur Entfaltung gering.

Aber die Studenten erwarteten etwas, und zwar mit wesentlich größerer Ungeduld als die Bürger in Deutschland. Sie hofften, daß die gewaltigen Veränderungen in Frankreich nicht ohne Auswirkungen auf Deutschland bleiben würden, daß alles nur eine Frage der Zeit sein werde. In ihrer Hoffnung wurden sie bestärkt durch den Verlauf des ersten Koalitionskrieges, vor allem durch den ersten Sieg der Franzosen bei Valmy über die Preußen. Denn soviel verstanden die Stipendiaten des Herzogs schon von Politik, daß sie wußten: Gewännen die Österreicher und Preußen diesen Krieg, würden schlimme Zeiten bevorstehen. »Der Mißbrauch fürstlicher Gewalt wird schröcklich werden … bete(t) für die Franzosen, die Verfechter der menschlichen Rechte.«7 Und nun hatten die Franzosen gegenüber den Preußen zunächst gesiegt, auch wenn sie Preußen noch nicht besiegt hatten – und das sicherlich nicht so sehr durch Gebete als vielmehr durch kluge militärische Strategie.

Doch für die Studenten war dieser erste Sieg Anlass zur Freude. Sie fanden sich in ihren Hoffnungen auf eine baldige Veränderung bestärkt. Ihr Glaube an die Franzosen, ihr Glaube an eine nicht ferne bessere Zukunft bekam neue Impulse, zumal sich in der Entwicklung der Französischen Revolution selbst eine neue Etappe abzuzeichnen begann: Die Herrschaft der Konstituante wurde abgelöst durch den Konvent, durch die Herrschaft der republikanischen Gironde-Bourgeoisie, die in weltbürgerlich-revolutionärem Idealismus glaubte, Frankreich die Rolle eines Erlösers aller feudal unterdrückten Völker aufdrängen zu müssen. Und das Resultat dieses missionarischen Strebens: der Zusammenschluß einer gewaltigen europäischen Koalition gegen die revolutionäre Nation. Aber das war zu Beginn dieser neuen Etappe nicht abzusehen, schon gar nicht von den Studenten im Tübinger Stift. Für die Studenten war die weitere Entwicklung der französischen Ereignisse Anlaß genug zu glauben, daß die ersehnten Veränderungen unmittelbar bevorstehen. In dieser Annahme wurden sie noch bestärkt, weil sie aufgrund der deutschen Rückständigkeit den sozialen und politischen Charakter der Kämpfe in Frankreich gar nicht wahrnehmen konnten. Ganz im Sinne der deutschen Aufklärung nahmen sie nur den abstrakten Ausdruck dieser Kämpfe auf. Und losgelöst von dem wirklichen politischen Geschehen, bekamen Worte wie Freiheit, Gleichheit, … einen anderen, einen durch die Denkweise von Theologie und Philosophiestudenten bestimmten Sinn, wodurch sie dann auch meinen konnten, die Neubestimmung von Begriffen wie Tugend, Moralität oder Gott sei für die kommende Veränderung in Deutschland bereits ein enormer Gewinn.

Der Glaube an die Zukunft schloß die Studenten zusammen. Er ließ sie hoffen, daß bald etwas geschieht, ein zu langes Abwarten sich nicht mehr riet. Also besser, sich doch schon erheben, um an den Grenzen der Wirklichkeit sich in die kommende Zeit hineinzuweben? Unter den alten Verhältnissen die neuen vorbereiten? Der Zukunft etwas nachhelfen? Also doch schon etwas tun für den Anbruch des Neuen. Schließlich muß man vorbereitet sein auf bessere Zeiten. Immer nur abwarten, abwägen, sich zaghaft zeigen? Dann doch besser etwas tun für die Menschheit, für ihre bessere Zukunft. Schließlich braucht diese neue Zeit auch neue Intellektuelle, Kühnere, Maßlosere, die »dem Vaterland und der Welt ein Beispiel geben, daß wir nicht geschaffen sind, um mit uns nach Willkür spielen zu lassen?«8 So entstand unter den Studenten der Plan, einen Klub zu gründen. Nicht öffentlich, nein, nach Regeln der Konspiration.

Hegel kamen die Überlegungen seiner Freunde recht. Zum einen war sein politisches Interesse in der Zeit des Stifts merklich größer als sein theologisches und philosophisches, oder präziser, Theologie und Philosophie interessierten Hegel in diesen Jahren vornehmlich unter politischen Gesichtspunkten, so daß er nicht nur im Stift in viele Auseinandersetzungen verwickelt war, sondern auch mit dem Vater die heftigsten Debatten hatte, der in Fragen der Französischen Revolution ein entschiedener Aristokrat war. Zum anderen war der Gedanke, sich an der ganzen Menschheit zu orientieren, Hegel genehm. Denn der Glaube an eine bessere Zeit ist ein recht verläßlicher. Das bewies ihm seine gerade gescheiterte Liebe zu Fräulein Hegelmeier. Die Zukunft, wenn man sie nur weit genug ausdehnt, bietet weniger Möglichkeiten für Enttäuschungen. Und schließlich tat man in Frankreich bereits Entscheidendes für sie. Da kann ein politisch denkender Stipendiat nicht untätig bleiben; da muß man vorbereitet sein.

Hegel wurde also aktives Mitglied und ein begeisterter Redner in diesem Klub, den die Studenten gründeten in jenen Tagen, in denen sie zu hoffen und zu träumen wagten, weit über die Grenzen hinaus, die ihren Lehrern denkbar waren. Nicht etwa aus Verlegenheit oder aus dem Verlangen, sich abzulenken, entstand Hegels Engagement in diesen Jahren, sondern aus politischem Interesse, das Hegel seit Beginn der Französischen Revolution ergriffen hatte, und zwar entscheidend. In diesem Klub wurden Hegel, Hölderlin und Schelling Freunde und sollten es bleiben vorerst. Hier diskutierte man die tagespolitischen Ereignisse, die auch für Deutschland Zukunft versprachen. Hier lehnten sich die Studenten auf gegen die Willkür und das Ungefähre im Denken und diskutierten die Probleme der Vorlesungen zeitnah. Im Klub lasen sie Klopstocks Oden, Schillers »Räuber« und Schubarts Gedichte. Sie versuchten, Kants »Kritiken« zu begreifen und sie von transzendenten Mächten, die noch trennten, zu befreien. Sie studierten wieder Rousseaus »Gesellschaftsvertrag«, seinen »Emil« und suchten in seinen »Bekenntnissen« nach Gleichnissen. Sie schworen sich, sich nicht verbrauchen zu lassen im Kampf für Erbärmlichkeiten – in Kämpfen, die für denkende Menschen nur Beleidigungen darstellten. Sie wollten grundsätzliche Kämpfe austragen, Kämpfe, die die entscheidende, die wesentliche Veränderung bringen sollten, Kämpfe, in deren Resultat Enge, Beschränktheit, Despotismus flieht, fliehen muß, ohne Frist. Sie schworen sich, stets die Größe zu besitzen, das Alte aufzugeben, wenn es sich als nicht mehr notwendig erwies.

»Gegen die Tyrannen!« – »Tod dem Gesindel!« – »Tod der schrecklichen Politik, die die absolute Macht über die Herzen beansprucht!« – »Es lebe die Freiheit!« – »Es lebe Jean-Jaques Rousseau!« – »Vaterland und Freiheit!« – »Gäbe es ein. Volk von Engeln, würde es sich demokratisch regieren!« wurde zu dieser Zeit in Hegels Stammbuch geschrieben.9

Berechtigterweise mußten die Studenten Sorge haben, daß beim Bekanntwerden ihrer Wünsche und politischen Zielsetzungen einige Professoren und Ämter erhebliche Beunruhigung zeigen würden. Die Stipendiaten trafen deshalb vielerlei Vorsichtsmaßnahmen, damit ihre Tätigkeit im Klub auch wirklich geheim blieb. Sie tarnten ihre Zusammenkünfte als »Unsinnscollegium«. Das würden ihre Professoren begreifen und nicht verdächtig finden, zunächst. Das entsprach den Denkschablonen ihrer Lehrer, denn mehr als Unsinn trauten die meisten Professoren und Repetenten den Studenten ja doch nicht zu. Warum die Erwartungen der Stiftsleitung also unnütz übersteigen? Warum die Repetenten überfordern?

Sich mit der alten Wirklichkeit nicht ganz entzweien. Klug handeln, sich anpassen, sich im Anpassen nicht anpassen, das war die Strategie der Stipendiaten. Verharmlosen, was eigentlich nicht harmlos ist. Öffentlich machen, was die Öffentlichkeit nicht erfahren soll, indem man die Nuancen etwas verdreht. Soll doch erst jemand kommen und beweisen, daß in diesem Klub nicht auch Unsinn getrieben wurde. Die Denkstrukturen der Vorgesetzten benutzen, um im Schein von Nichtigkeiten Wichtigeres zu vollbringen. Und so wußten dann nicht einmal die Repetenten – die unmittelbaren Aufseher der Studenten – etwas Wesentliches von diesem Klub, obwohl ihnen bekannt war, das da »eine Gesellschaft« existiere, »welche wöchentlich ein oder ein paarmal auf der Krankenstube oder einer Senioratsstube in der Abendrekreation mit allerlei lustigen Einfällen, u. Vorlesung komischer Gedichte u. prosaischer Aufsätze sich u. andere (die ums Geld den Zutritt hatten) die Zeit vertrieb. Man nannte diese Versammlung das Unsinnscollegium.« So wußten die Repetenten zwar von dem Klub, »denn man sprach ganz unverholen davon, vermutheten aber nichts anstössiges dabei, u. hielten (sich) nicht für berechtigt, eine unschuldig scheinende Freude der Stipendiaten, die nicht gerade mit Tumult verbunden war, zu stöhren«.10

Das Maß an Gutgläubigkeit, das diese Repetenten aufbrachten, besaßen andere nicht. Und so kam es, wie es letztlich zu erwarten war in einer Stadt, in der es pflichtbewußte Bürger gab, die um der Ordnung willen alles hörten, alles sahen, in einem Ort, in dem der Herzog natürlich auch seine Spitzel hielt – die nun mal existieren, solange Regierungen sich fürchten vor ihrem Volk; es kam, wie es wohl kommen mußte, es kam heraus.

Nach einigen Monaten erhielt das Konsistorium Privatbriefe, in denen es hieß: im Stipendium werden »Comoedien gespielt, welche irreligieusen und höchstprofanen Inhalts wären. Es existire ein Clubb, in welchem über Religion gespottet, u. verdiente Männer lächerlich gemacht werden. An öffentlichen Orten, in Wirtshäusern, werden von Stipendiaten Lästerungen über die Religion ausgestossen, Christus ein Betrüger genannt, mit Mahomed in eine Classe gesezt p.«11

Sie hatten sich geschworen, ihr Geheimnis zu wahren. Sie hatten versucht, leise zu sprechen, und zeitweise gelang ihnen dies auch, vor allem im Stipendium, wo die Repetenten und Lehrer ständig in ihrer Nähe waren. Da schwiegen sie und zeigten ein fast zu argloses Gesicht. Aber das änderte sich, sobald sie draußen waren, außerhalb des Stifts, wo sie glaubten, lauter sprechen zu können über ihr Geheimnis. Lange konnten die Studenten ihr Denken und Tun also nicht geheimhalten. Dafür bedrängte es sie zu sehr; war ihr Zusammenschluß in diesem Klub doch ihr erster gemeinsamer Versuch, sich etwas einzumischen, um mitwirken zu können an der Gestaltung der Zeitgeschichte, die sich vor den Grenzen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als Weltgeschichte abzeichnete. Ihr Unterfangen überstieg ja bereits erheblich das Normalverhalten der deutschen Intellektuellen, indem hier Begeisterung umschlug in politisch organisiertes Handeln. Der Aufruhr im Tübinger Stift war die erste gemeinsame Rebellion der Studenten, ihre erste größere Empörung gegen eine Rolle, die ihnen aufgedrängt werden sollte: die Rolle der Zuschauer, der reflektierenden Beobachter in einer welthistorisch entscheidenden Situation. Denn es stimmt ja nicht, es ist ja nicht wahr, anzunehmen, daß es Menschen gäbe, die geboren werden als Zuschauer, als Beobachter, als Philosophen. Sie werden es, werden es vornehmlich dann, wenn die historischen Umstände eingreifendes Handeln nicht erlauben, objektiv, unabhängig vom Wollen der Einzelnen nicht erlauben. Die Bildung des Klubs war ja keinesfalls nur Ausdruck jugendlichen Tatendrangs, sie war doch vor allem Protest, eben weil die Studenten nicht gewillt waren, die Rolle der Zuschauer, der reflektierenden Beobachter widerspruchslos anzunehmen. Und weil es ihre erste gemeinsame Rebellion gegen die historischen Grenzen war, an die sich die Studenten noch nicht mit aller Notwendigkeit gebunden sahen, war sie dementsprechend naiv, ja angesichts anderer Versuche, zum Beispiel der Gründung der Mainzer Republik, im Grunde harmlos. Man studierte vor allem in diesem Klub, studierte die Theorien der Französischen Revolution, die nach Ansicht der Studenten das entscheidende Faktum für die revolutionären Veränderungen jenseits des Rheins waren, eine Illusion, die sie mit dem größeren Teil der bürgerlichen Intelligenz in Deutschland gemeinsam hatten.

Was nach Bekanntwerdung der »revolutionären Umtriebe« im Tübinger Stift folgte, war abzusehen. Zunächst gab es neue, immer neue Briefe, die nun von Übertreibungen lebten, Übertreibungen frühzeitig durch die Umstände gealterter Bürger, die ihren Verhältnissen Spannung verliehen, indem sie das Leben anderer mitlebten, die mitmischten, sich einmischten, anonym natürlich, namenlos entsprechend ihrem eigenen Dasein. Es kamen Briefe mit Verdächtigungen und Denunziationen von Leuten, die erschrocken waren über ihre eigene Phantasie, über ihre eigenen Gedankengänge erschrocken und, um nicht selbst verdächtigt zu werden, andere verdächtigten. So gab man vor, »von sicherer Hand« zu wissen, »daß die Stimmung des Stipend. äusserst demokratisch sei, daß der Königsmord u. die Anarchie in Frankreich öffentl. gebilligt werden.«12 Peinliche Untersuchungen im Stift blieben nicht aus. Sie verliefen nach den bekannten Schemen: zunächst freundlich, mit jenem unverbindlichen Lächeln von Professoren und Erziehern, das Verständnis für die Studenten auszudrücken pflegt. Dann folgten Verhöre, in denen einzelne Stipendiaten und Repetenten »vertraulich, und mit aller Klugheit … ausgefragt« wurden.13 Auf diese Vertraulichkeiten folgten Repressalien und die Einführung der schon lange diskutierten Statuten für das Stift, denn der Herzog, dem das Tübinger Kloster in allem unterstand, legte nun mal »großen Werth auf strenge Ordnung und Gesetzlichkeit«, und »Autorität hielt er für das sicherste Mittel, sie zu bewirken.14 An Ordnung, wissenschaftlichem Ernst und Sittlichkeit fehlte es im Stipendium nach Ansicht des Konsistoriums schon lange, ehe die revolutionären Umtriebe der Stipendiaten bekannt wurden. »Eckel vor dem soliden, mühsamen Studio, oberflächliche Kenntnisse, Journalengelehrsamkeit, Verachtung der Theologie, Hang mit heterodoxen Meinungen zu prahlen, ohne sie geprüft zu haben … Erschlaffung und Trägheit, Hang zu Frivolität und Wohlleben, Geringschätzung der Gesetze, Unbotmäßigkeit, falscher Freiheitssinn, Mangel an praktischer Lebensklugheit, wenig Lebensart, entweder Blödigkeit oder Dreistigkeit, Abneigung gegen den geistlichen Stand, Wunsch, das nicht zu sein und zu scheinen, was man ist und sein sollte«, so hieß es in einem Gutachten über den Zustand im Stift schon zur Zeit, als Hegel sein Studium gerade begann.15

Was die Studenten von den neuen Statuten zu erwarten hatten, artikulierte Hölderlin in einem Brief an seine Schwester: »… widersinnische, zwecklose Gesetze«, unter denen die »besten Kräfte zugrunde gehen« werden.16 Aber die Statuten kamen. Sie waren längst beschlossen. Der Herzog selbst begab sich ins Stipendium, um sie zu verkünden. Auf ihre Einhaltung wurde jetzt nach Bekanntwerden der revolutionären Umtriebe der Studenten mit Nachdruck geachtet, zumal sich die Stiftsleitung besorgter zeigte als der Herzog selbst, daß die neuen Statuten nun schon zu spät kamen, da viele Stipendiaten »von dem Freyheits Schwindel« bereits angesteckt waren.17 Diese Maßnahmen bewirkten zunächst bedrückende Ruhe im Stift. Aber notwendige Entwicklungen lassen sich nicht aufhalten durch Regeln und Verordnungen, das ahnten nicht nur Hegel, Hölderlin und Schelling, sondern auch viele andere Stipendiaten, darauf setzten sie ihr Vertrauen und ihre Zuversicht.

Präludien zu Hegel

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