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99 Stufen
ОглавлениеAbseits von den Hauptstraßen der Residenz lag das Tübinger Kloster — die Landesuniversität von Württemberg — in dem Hegel fünf Jahre zubringen sollte. Die Universität war klein und wenig bedeutend. Sie hatte nur 200-300 Studenten, zumeist Theologen bzw. zukünftige Gymnasiallehrer. Im Grunde war die Universität eine jener zahlreichen Landesuniversitäten in Deutschland, deren Aufgabe primär die Ausbildung der notwendigen Kräfte für den Staats-, Kirchen und Schuldienst des Landes war. Tübingen bedeutete so im geistigen Geschehen der Zeit wenig. Das sollte sich dann ändern, nachdem zunächst Hegel und Hölderlin im selben Jahr immatrikuliert wurden und zwei Jahre später der erst fünfzehnjährige Schelling ins Stift eintrat. Das Kloster: es bestand damals aus zwei parallelen Flügeln, verbunden durch einen Kreuzgang; der hintere Flügel an einen Berg gelehnt, aber durch einen tiefen Graben von der höher liegenden Gasse getrennt; hier war die Kirche, der Chor gen Morgen gewendet. Der andere Flügel enthielt das Refektorium und die Zellen, an denen der Neckar vorbeifließt. In diesem Gebäude, so hieß es, wollte man durch maßvolle äußerliche Beschränkung die Stiftler zu innerer Freiheit in der Wissenschaft erziehen. Zucht, Gehorsam und Einordnung waren daher oberstes Gesetz; die Kleidung (eine Art geistliche Kleidung) vorgeschrieben, die Teilnahme am Gottesdienst (gemeinsames Morgengebet, sonntags gemeinsamer Kirchgang), Ausgang und Studienzeiten waren genau festgelegt (man hatte sich jeweils an der Pforte zu melden), das Betreten von Wirtshäusern war verboten, Tanzen, Rauchen etc., Teilnahme an den Vorlesungen war Pflicht und nicht minder die Teilnahme an den Disputationen und Repetitionen, und Repetenten und ihre Famuli überwachten überall ihre Durchführung und führten darüber Buch. Aber nicht nur das: Einmal im Semester wurde über das Benehmen der Studenten an das Konsistorium nach Stuttgart berichtet, das seinerseits zu den Berichten Stellung nahm und evtl. Strafen festsetzte: ja, der Herzog selbst ließ sich die Listen vorlegen, und er zögerte nicht, bisweilen nach Tübingen zu kommen, um inmitten der Studentenschaft Lob und Tadel auszusprechen … Aber Verbote sind auch dazu da, übertreten zu werden, Verordnungen kann man umgehen oder sich öffentlich gegen sie auflehnen.
Über den Mauern der Kirche war noch ein mächtiger Bau von zwei hochragenden Stockwerken, der so gewaltig über dem Hof emporstieg, daß die Bewohner der oberen »Sphäre« — so hießen die Gänge — 99 Stufen zu ersteigen hatten. 99 Stufen mußten die herzoglichen Stipendianten bewältigen, um sich in die Spektren der Theologie einzulesen. Eine angemessene Höhe hatten sie zu erreichen, um sich in die Metaphysik einzuüben. 99 Stufen, um sich in den recht dunklen, kaum heizbaren Zimmern die spekulativen Lehrsätze einzuprägen. Dabei saßen sie im Winter so gedrängt beisammen, daß der eine am Ofen von der Hitze geplagt wurde und der andere am Fenster fror. Daß der eine hinter dem Ofen nicht Licht genug hatte, um zu lesen oder zu schreiben, der andere näher der Tür von jedem Aus- oder Eingehenden Beschwerlichkeit litt. Dadurch wird mancher veranlaßt, so hieß es in diesem Bericht an den Herzog weiter, »sich lieber auf einer kalten Kammer in der Entfernung von andern aufzuhalten; um der Kälte willen bedient man sich eines Kohlenfeuers oder errichtet gar einen eigen mächtigen, gefährlichen Ofen, man raucht Tabak, es finden sich andere dabei ein, und so entsteht dann wohl auch ein Spiel«,1 was die Stiftleitung nicht korrekt fand, so weit über der Erde.
99 Stufen, wie viele liegen zwischen Wissen und Nichtwissen? Doch mit dieser Frage sah sich Hegel erst gegen Ende seines Studiums konfrontiert.