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Diese Biografie ist keine Biografie
ОглавлениеEine junge Frau erhält von höchster Stelle den Auftrag, eine Hegel-Biografie zu schreiben. Davon gibt es, wie alle wissen, die sich mit dem Thema beschäftigen, viele. Hier und jetzt jedoch bestehen besondere Erwartungen. Hegel ist einer der geistigen Väter der zu dieser Zeit herrschenden Auffassung, wenn auch einer, der auf dem Kopf stand. Für diese Auffassung musste Hegel durch den Klassiker vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Ein Klassiker, das wissen diejenigen, die in dieser Zeit das Sagen haben sehr gut, ist nur groß durch große Vorgänger. Eine Biografie darf, ja soll den Vorgänger stark, aber überwindbar darstellen.
Für die junge Frau, Rita Kuczynski, ist die Welt Klang. Sie ist auch Musikerin. Davon hatte sie gerade lange genug abgesehen. Sie schreibt also an diesem Text und ist sich nach dem ersten Rausch klar: Das ist es sicher nicht, was die Auftraggeber lesen wollten. Sie ist sich bewusst: Diese Biografie ist keine Biografie, sondern ein Bericht vom Klang des Werdens hegelschen Denkens, ein Musikstück in Worten.
Sie wendet sich an ihren Mentor, den Philosophen Wolfgang Heise, und beichtet. Der sagt: Schreib weiter! Und als sie zum Ende kommt, wird Heise von der „Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel beim Kulturministerium“, faktisch der Zensurbehörde der DDR, gebeten, ein Gutachten für eine eventuelle Veröffentlichung zu erstellen. Er schreibt in das Gutachten, natürlich auch mit dem Ziel, dass das Buch eine Druckgenehmigung erhalte: „Der literarischen Gattung nach entstand ein Unikum, weder ein philosophischer Essay noch ein historischer Roman … weder Dokumentation noch freie Erfindung … eine Gemüt- und phantasievolle Rekonstruktion eines Lebensmonologs des jungen Hegel …“ Er bescheinigt der Autorin „… die sprachliche Intensität und sprachliche Musikalität des inneren Monologs, einen den jüngeren Generationen verlorenen Zugang zu Hegel.“ Seine Sprache wird plötzlich selbst von der Musik des Textes ergriffen: „Dieser subjektive Weg ist freilich anschaulich nur, insofern das Abstrakte vergegenwärtigt wird: hier die Beziehung von Ich und Welt …“
Vorsichtshalber fügt Heise hinzu, dass es sich hier um Hegels „Verhältnis zur kirchlichen Ideologie und Autorität“ handle. Doch: „Nun ist es freilich noch niemandem hinreichend gelungen in der Wissenschaft, die individuelle Erfahrung der Epoche, vermittelt durch den sozialen Kommunikationszusammenhang und die konkrete Gegenständlichkeit des Erfahrenen zu rekonstruieren.“ Der Autorin, so weiß Heise, ist es gelungen. Doch das spricht er klugerweise nicht aus. Ihre „Darstellung ist ein Versuch, Dialektik nicht nur im Geburtsprozess als Methode der Welterkenntnis, sondern zugleich als Weg, das eigene Verhältnis zur Umwelt und Wirklichkeit produktiv zu gestalten, darzustellen.“
Da Wolfgang Heise in diesen Zeiten einer der wenigen international anerkannten Philosophen aus der DDR ist, hatte die Zensurbehörde wenig Lust auf Streit. Und so tat die Behörde das, was sie in diesem Fall immer tat, sie setzte das Buch auf die Liste der Bücher, für die leider zu wenig Papier da war, ließ tausend Exemplare drucken und vergaß den Fall.
Nun kommt dieses Kleinod wieder in den Druck, so wie es geschrieben wurde. Dieser Text gibt allen eine Chance, die versuchen, Hegel zu verstehen, die versuchen, seinen Entwicklungsprozess nachzuvollziehen. Hegel ist hier ein ganz junger Mensch, so wie wir, ganz in Zweifel und hin- und hergerissen, getrieben von der Notwendigkeit, beeinflusst von den Stürmen der Welt um ihn herum, so wie wir, auf dem Weg, tätig zu werden, so wie wir …
Hier steht der Text, es gibt keinen besseren Weg. Lesen Sie ihn.
Bernd Floßmann, Berlin im Januar 2019