Читать книгу Bis dass der Tod euch vereint - R.J. Simon - Страница 5
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ОглавлениеAls Brigitte damals, vor ein paar Monaten, der Beginn ihrer Romanze mit Dominik in den Sinn kam, spazierte sie gerade mit ihm die Promenade von San Remo entlang. Sie genoss dabei die Sonne, das Meer und die gute würzige gesunde Seeluft. Es war, wie so ziemlich jeder Tag hier in der Region ein Wetter, bei dem man sich einfach wohl fühlte. Als Mädchen hätte es sich Brigitte nicht ausmalen können, dass es ihr einmal so gut erginge, wie noch zu jener Zeit. Bis Brigitte Dominik kennen lernte, glaubte sie in ihrer Versicherung alt zu werden und ein Leben voller Arbeit und Entbehrungen führen zu müssen, wie ihre Eltern das taten. Erst mit ihrer Hochzeit begann für Brigitte ein sorgenfreies Leben im Luxus, ohne Geldsorgen und der Möglichkeit, aus dem aufreibenden profanen Arbeitsleben zu entkommen.
„He, träumst du, mon Coeur?“, hörte Brigitte plötzlich Dominik an ihrer Seite, der sie aus ihren Erinnerungen riss. „Ich habe dich gefragt, ob wir ein wenig in das Spielcasino gehen wollen? Wir sind nämlich gerade da. Dort drüben ist es.“
Die erste Frage beantwortete Brigitte damit, dass sie gerade über etwas nachgedacht hätte. Die zweite überlegte sie laut: „Spielcasino? Ja, warum eigentlich nicht?“ Sie lächelte Dominik wie immer an und nickte nachdrücklich.
Sie unterwanderten die Bahngleise, die das Casino von der Promenade trennten, durch die Unterführung und gingen Arm in Arm auf die hohe, weiß getünchte Wand des Baues zu, der ganz hell in der Sonne leuchtete. Vor dem monumentalen Gebäude wehten die Fächerblätter der Palmen, vom zarten Wind bewegt, leicht hin und her.
Wären sie die Straße am Spielcasino vorbei weitergegangen, stießen sie direkt auf die Corso Imperatrice. Dort steht die russisch-orthodoxe Kirche, mit ihren wunderschönen, teilweise vergoldeten Zwiebeltürmen und Kuppeln. Die sah sich Brigitte auch immer wieder gerne an. Dieses kunstvolle und antike Gotteshaus einer anderen Kultur, versetzte einen in ein Märchen aus Tausend und einer Nacht. Sie wollte aber Dominik den Gefallen tun, und mit ihm in das Casino gehen.
Brigitte stieg also mit Dominik die breiten, steinernen Stufen zum Portal empor. Die Treppen bedeckte in der Mitte ein roter Teppichstreifen, der den Prunk der Pforte unterstrich. Den großzügigen Eingang bildeten mehrere Vierkantsäulen, die arkadenartig in Bögen endeten und wie die übrige Front des einladenden Baues die Farbe von reinem, weißem Schnee hatten.
Der Empfangsdiener, mit seinem schön verzierten Dienstanzug, hielt den beiden ankommenden Gästen die Türe weit offen. An der Kasse zahlte Dominik den Eintrittspreis von 16 000 Lire pro Person. Es gab dabei keinerlei Wartezeit, da im Moment kein übertriebener Andrang herrschte. Der Obolus enthielt gleichzeitig je einen Chip im Wert von 10 000 Lire, den man auf alle Fälle verspielen musste, denn diesen bekam man nicht zurückgetauscht.
An der Kasse mussten sie zudem die Pässe zur Erfassung und Überprüfung vorzeigen. Das war eine Sicherheitsmaßnahme, die eventuellen Verbrechen vorbeugen sollte und sich auch bewährte. Immerhin wurden in dem Spielcasino erhebliche Beträge umgesetzt, die so manche zwielichtige Gestalt auf kriminelle Gedanken bringen konnten. Brigitte und Dominik führten ihre Ausweise sowieso mit sich, denn sie überfuhren die französisch-italienische Grenze, um nach San Remo zu gelangen. Sie befanden sich somit auf der italienischen Seite der Côte d Azur, an der Ligurischen Küste.
Die Ausweise erhielten sie dann sofort mit ihren Billets zurück. Auf den Karten war jeweils ihr Vor- und Zuname vom Computer aufgedruckt. Darunter stand das Besucherdatum mit ausgeschriebenem Monat. Den Kopf der Eintrittskarte zierte das Wappen des Casinos. Ebenso unterschieden sich die Bonuschips, die Brigitte und Dominik dazu bekamen, von den normalen Spielchettons dadurch, dass diese nicht mit dem Wappen versehen waren.
Brigitte ging neben Dominik weiter die Treppen hinauf in die erste Etage, wo sich die Spielsalons befanden. Überall prangten von der Decke mächtige Kronleuchter, die jedoch am hellen Tag noch nicht ihr verzauberndes Licht abgaben. Nachdem ein weiterer Angestellter den Kontrollabschnitt abgetrennt hatte, betraten sie den großen, öffentlichen Spielsaal.
Dort bot sich ein Bild, die Besucher betreffend, das in jedem Spielkasino das gleiche war, egal wo auf dieser Welt es sich befand. Die Einrichtungen selbstverständlich unterschieden sich enorm. Aber das Prinzip des Ablaufs, die Aufteilung der Säle und die Gäste machten im Aussehen und Verhalten keine Unterschiede.
Die Roulettetische, auf denen die bunten Chips von einem Croupier mit seinem Schieber von der Bank weg, oder zu ihr hin geschoben wurden, sind überall die gleichen. Um die Tische herum sitzen ebenso die entsprechenden Damen und Herren, von denen nur die Gesichter austauschbar sind. Mit den Spielsüchtigen und Touristen, die immer wieder aufs Neue ihr Glück suchen und herausfordern. Manche davon schreiben sogar stundenlang die Zahlenfolgen mit, um dadurch zu einem System zu finden. Lediglich die Eleganz und Seriosität der Etablissements und damit der Herrschaften, weist vereinzelt Unterschiede auf.
Um diese Zeit, als Dominik mit Brigitte das Casino betrat, bestimmte noch kein überfülltes Treiben das Geschehen. Am Abend aber bekam man an den Spieltischen, ob beim Bakkarat, Roulette oder den Würfelspielen, kaum noch einen Platz. Denn dann herrschte Hochsaison, während der die Spieler und die Schaulustigen oft in Zweierreihen die Glückstische belagerten.
Dominik wechselte an der Bank ein paar Geldscheine in Spielchips um. Brigitte sah nicht wie viele und das Umrechnen in Lire bereitete ihr seit eh und je Schwierigkeiten, so dass sie es erst gar nicht versuchte. Brigitte wollte Dominik nicht kontrollieren, er wusste selbst, was er tat und wie viel Geld er zum Verspielen opfern wollte. Aber es schien ihr kein kleiner Betrag gewesen zu sein.
Brigitte hatte in der Zwischenzeit an einem der Roulettetische Platz genommen, um dort auf Dominik zu warten. Sie konnte frei auswählen, denn die Stühle waren kaum belegt. Dominik kam vom Geldwechseln zu ihr zurück, stellte sich einen Stuhl zurecht und setzte sich genau ihr gegenüber hin. Mit seinem üblichen Lächeln, das er immer zeigte, wenn er etwas im Schilde führte, überreichte Dominik ihr genau die Hälfte der orangenen Plastikscheiben. Dann sagte Dominik zu Brigitte immer noch lächelnd: „Mal sehen wer zuerst keine mehr hat!“ Mit seinen Worten ließ er seine Chips in der Hand hüpfen und deutete auf den kleinen Stapel vor Brigitte.
„Aber ohne zu schummeln. Jeder von uns beiden setzt bei jeder Spielrunde mindestens einen Chip. Wer zuerst alle verspielt hat, ist der Verlierer“, erklärte Dominik ihr den kleinen Wettstreit.
„Also gut“, gab sich Brigitte mit den Regeln einverstanden. Sie nahm ihr Spielkapital und häufte es in zwei kleinen Stapeln vor sich auf. Im Kopf errechnete sie kurz den Wert in Lire, der nun vor ihr lag. Es handelte sich um 20 000 Lirechips, von denen sich zehn vor ihr türmten. Das ergab 200.000 Lire zuzüglich des Bonuschips von 10 000 Lire, den sie noch mit der Eintrittskarte in der Hand hielt. Also zumindest in Lire eine stattliche Summe.
Nun begann eine neue Runde und beide stiegen in das Spiel mit ein, indem sie sich als Startzeichen zunickten. Dominik klärte noch einmal: „Ab jetzt gilt es, ohne aussetzen, bis einer keine Chips mehr hat.“
Brigitte setzte ihren ersten, den Gratischip, auf irgendeine Zahl, die ihr gerade einfiel. Sie wusste von diesem Spiel eigentlich nur, wie man setzen kann und dass man meistens verlor. Aber auch, dass man ein Vermögen gewinnen kann, wenn einem ungeheueres Glück zuteil wurde. Obwohl Anfängern nachgesagt wird, sie hätten zu Beginn ein unverschämtes Glück und Brigitte sich selbst die Daumen drückte, fiel die Kugel natürlich auf eine andere Zahl. Somit ging ihr erster Einsatz verloren.
Dominik kannte sich besser aus. Er setzte je einen Jeton auf „gerade“ und „ungerade“. Im französischen Roulette „Pair“ und „Impair“. Das bedeutete, dass Dominik gewann, gleich, ob eine gerade oder eine ungerade Nummer von der Schicksal spielenden Kugel gezeigt wurde. Gewinnen war zu viel gesagt. Dominik erhielt bei jedem Spiel lediglich seinen Einsatz zurück. Denn, während er einen Chip verlor, erzielte der jeweils andere einen einfachen Gewinn, so dass sich Gewinn und Verlust genau aufhoben.
Auf diese Weise konnte man sein Geld nicht vermehren, aber es ging auch keines verloren. Außer wenn die Null fiel, denn die gilt weder als gerade noch als ungerade, wären beide Chips bei der Bank gelandet. Über die gesamte Dauer des Duells geschah das aber nicht. Die Null, Zero, fiel nicht einmal. So blieb Dominiks Kapital durchgehend unverändert.
Brigitte merkte nach einigen Spielrunden, dass sie im Gegensatz zu Dominik einen Chip nach dem anderen verlor und ihr Stapel stetig kleiner wurde. Dominiks Häufchen dagegen blieb konstant. Sie konnte kaum glauben, dass er immer gewinnen sollte. Um ihm auf die Schliche zu kommen, beobachtete Brigitte dann genauer, wie er seine Jetons platzierte und durchschaute so sein System. Das war wieder typisch für Dominik.
Jetzt noch auf die gleiche Methode umzustellen wäre unsinnig gewesen. Brigitte hätte genau in der Art wie Dominik, mit rot und schwarz, setzen können. Aber der riesige Vorsprung den Dominik mittlerweile besaß, würde unverändert bleiben, so dass das keinen Sinn ergab. Brigitte vertraute deshalb lieber auf die Gunst, die Anfängern nachgesagt wird, und setzte ihren drittletzten Chip auf die Zahl 21, ihr Geburtsdatum.
Der Croupier sagte für jeden am Tisch gut verständlich sein berühmtes „Rien ne va plus“, -nichts geht mehr, als keine weiteren Einsätze gemacht werden durften und die Kugel kullerte und sprang. Die kleine, schwere Kugel rollte und rollte. Brigitte starrte genau wie bei den vorherigen Spielen voller Spannung und Hoffnung auf den weißen Ball, der sich entgegengesetzt der Drehrichtung des Tellers bewegte. Brigitte fixierte die Kugel so mit ihren Augen, als ob sie selbst unter Hypnose stand und diese mit ihrem Willen beeinflussen könnte.
Langsam zog das Kügelchen seine Bahnen enger. Es kreiste immer tiefer und näherte sich allmählich den Zahlenmulden, von denen es in einer liegen bleiben würde. In dem großen Saal war es ganz still. Gespräche wurden kaum geführt und wenn, dann nur im Flüsterton, weil jeder der Anwesenden auf seine Zahl oder Karte beharrte. Das Geräusch, das die rollende und dann springende Kugel verursachte, war klar zu vernehmen. Brigitte sah und hörte nichts anderes, als ihre Kugel, die ihre Zahl zeigen musste.
Die ungeheure Spannung, unter der Brigitte stand als sich das Ende des Spiels abzeichnete, strotzte jeder Beschreibung. Da sie nun auch den Trick von Dominik durchschaut hatte, wollte sie unbedingt gewinnen. Brigittes Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Bei jeder vorherigen Runde hoffte Brigitte in ungeahntem Maße, dass ihre Zahl fallen würde, auf die sie setzte. Bis jetzt ohne Erfolg. Nun, da sie wusste, dass sie bedingungslos verlor, wenn nicht ihre Zahl kam, steigerte sich ihre Spannung um ein weiteres.
Die Roulettekugel näherte sich nun den Grübchen, und sprang bei der Berührung mit dem ersten kreuz und quer durch den Kessel über den Teller. Nach vier, fünf Sprüngen, die von einem hellen „Klick-Klicke-di-klick“ begleitet wurden, blieb das Kügelchen in einer der Zahlenlücken still liegen. So kreiste es die letzten Runden in der sich ausdrehenden Scheibe mit. Brigitte verfolgte die Drehbewegung des elfenbeinenen Rundes mit stierem Blick, um vorzeitig die Zahl zu erkennen, die das Kügelchen zeigte. Die Geschwindigkeit war allerdings für ihr ungeübtes Auge zu schnell und die vorbei fliegenden Zahlen verwischten so zu einem undeutlichen Durcheinander.
Nach großer Anstrengung konnte Brigitte die Zahl endlich lesen, als der Teller fast stillstand. Die Zeitspanne von dem Punkt ab, an dem die Kugel entschied, welche Zahl gewann, bis zum Erkennen der Nummer, kam ihr wie eine kleine Ewigkeit vor. Da sagte der Croupier sie auch schon gut verständlich an: „Siebzehn“, schon wieder verloren!
Der Casinoangestellte schob routiniert und emotionslos die verlorenen Chips mit seinem Werkzeug zur Bank und die Gewinne zu den entsprechenden Personen hin. Brigitte sah ihrer kunststoffenen Scheibe enttäuscht hinterher. Dominik gewann wieder, wie schon die ganze Zeit über einen Jeton, während er einen anderen dafür opferte.
Bei der nächsten Runde würde Brigitte ihren vorletzten Chip setzen. Dominik schaute bereits demonstrativ triumphierend auf ihr schwindendes Kapital. Sein siegessicheres Grinsen erwiderte Brigitte mit einem kalten Lächeln, das ihr Missfallen verbergen sollte. Dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach dieses kleine Duell verlieren würde, ärgerte sie schon. Doch sollte das von Dominik unbemerkt bleiben. Brigitte zeigte sich davon ungerührt und behielt ihre Gefühlsregung für sich.
Wiederum platzierte Brigitte ihren Einsatz auf die einundzwanzig. Die Lotterie ging erneut von vorne los. Ein neues Spiel, neues Glück! Wie schon neunmal zuvor dieselbe Spannung, dieselbe Hoffnung und wohl auch bald dieselbe Enttäuschung. Brigitte fand sich innerlich mit ihrer Niederlage ab. Wenn ihr das auch auf die Stimmung schlug.
Die Kugel spielte wiederholt ihre unbestechliche Rolle. Brigitte verfolgte ihr Rollen und Springen diesmal fast resignierend. Das Bällchen beendete sein Werk, blieb liegen und Brigitte glaubte ihren Augen und Ohren nicht trauen zu können, als sie sah und hörte, dass der Spielgott ihr hold gewesen war.
Die Kugel war tatsächlich in das Loch mit der Nummer einundzwanzig gefallen. Der Croupier verkündete die Gewinnzahl simultan, als Brigitte sie selbst erkennen konnte, mit derselben Monotonie, wie all die anderen Zahlen davor. Für Brigitte aber war es eine mit Tusch und Paukenschlag begleitete Ansage. Bedeutete das doch noch ihren Sieg gegen Dominik.
Damit übertraf sie Dominik bei Weitem. In Folge ihres Treffers wurde Brigitte das Fünfunddreißigfache ihres Einsatzes ausbezahlt. Somit wuchs ihr Stapel Jetons im Handumdrehen um weit mehr als das Dreifache gegenüber dem von Dominik an. Und das alles mit einem Schlag und ihrer vorletzten Chance. Das war knapp aber ehrlich gewonnen.
Dominik brach sein stilles Schmunzeln abrupt ab. Ihm froren glatt die Gesichtszüge ein, als er tatenlos mitansehen musste, wie seine Brigitte von der Bank drei große Stapel Chips zugeschoben bekam. Mit dieser plötzlichen Wende der Kapitalverhältnisse rechnete er absolut nicht. Das war die Überraschung des Tages für ihn.
In dieser Situation war es Brigitte möglich frech zu werden. Durch den Haupttreffer wehte Wind in ihre erschlafften Segel, der sie voran trieb und somit neuen Mut gab. Brigitte ging ab sofort in ihrer Taktik mit Dominik konform. Sie setzte je einen Chip auf rot und je einen auf schwarz. Zusätzlich forderte Brigitte ihr Glück aber weiterhin mit einer einzelnen Zahl heraus.
Auf rot und schwarz setzte Brigitte nur, um Dominik zu zeigen, dass sie seine Masche durchschaute. Da sich diese beiden Farben in dem Spiel aufhoben, genau wie bei Dominik Pair und Impair, hätte sie ebenso gut weiter nur auf eine Zahl setzen können. Brigitte verlor bei jeder Runde den Chip, der auf der Einundzwanzig lag. Die beiden anderen verhielten sich wie die zwei von Dominik und brachten keinen Verlust ein.
Da Brigitte nun aber über fast die vierfache Menge an Jetons als Dominik verfügte, war ihr Vorsprung zu ihm eminent. Sie konnte rechtzeitig die verlierende Zahl weglassen und dann stetig jede weitere Runde als unentschieden für ihr Konto fortführen. Sie brauchte vor Dominik lediglich einen Chip im Vorteil zu sein um damit ohne Zweifel gewinnen zu können. Der Abstand von einer Spielmarke bliebe unverändert, denn auch wenn die Null fiele würden beide, sie und Dominik, all ihre gesetzten Chips verlieren. So dass irgendwann, wenn die Null oft genug gekommen wäre, Dominik seinen letzten verlöre und Brigitte noch einen letzten besäße.
Insgeheim hoffte Brigitte natürlich, dass sie ein weiteres Mal den Hauptgewinn erzielen würde. Solange sie noch zusätzlich auf eine Zahl setzte, bestand zumindest die Möglichkeit dafür. Es war ein unglaublich gutes Gefühl gewesen, als der Croupier ihr den Gewinn zuschob. Das hätte Brigitte gerne noch einmal erlebt.
Als Dominik nach ein paar weiteren Durchgängen den Wink mit dem Zaunpfahl von Brigitte erkannte, erhob er sich, nahm seine gesamten Chips und ging um den Tisch herum zu seiner Frau. Wieder lächelnd schloss er sie in den Arm, küsste sie auf die Stirn und sagte achselzuckend: „O.K, du hast gewonnen ma chérie. Ich gebe auf.“
Zum Zeichen seiner Unterlegenheit und um Brigittes Sieg zu bestärken, legte Dominik die eigenen Spielchips zu den ihren. Mit dieser Geste symbolisierte er, dass er keine mehr, sie jedoch alle besaß. Damit erklärte Dominik sie als Siegerin, ohne Groll gegen sie zu erheben. Im Gegenteil, dass Brigitte am Ende gewann war ihm lieber gewesen, als dass sie verloren hätte.
Dominik belohnte ihren Sieg sogar noch, indem er ihr vorschlug: „Ich sage dir, was wir jetzt tun werden: Du wechselst die ganzen Dinger um“, mit dem Zeigefinger deutete er dabei auf den Haufen Plastik, „und für das Geld darfst du dir kaufen, was dein Herz begehrt!“
Mit dieser Offerte gab Brigitte sich sofort einverstanden. Von der Bank ließ sie sich den Gegenwert der Plastikplättchen in barem Geld ausbezahlen. Brigitte war über die Menge Scheine, die sie dafür erhielt, sehr überrascht. Das Bündel Lirescheine, den Brigitte entgegen nahm, steckte sie in die Brieftasche. Die wiederum bewahrte Brigitte sorgfältig in ihrer Handtasche auf.
Anschließend sagte sie zu Dominik gewandt, weil Brigitte dachte, er hätte sich in der Summe um die es hier ging, geirrt: „Versprochen ist versprochen!“
Der nickte nur mit einem kurzen Lachen, denn Dominik erkannte den Wert seiner Zusage genau und fügte hinzu: „Wenn ich was verspreche, halte ich es auch. Das weißt du doch.“
Er nahm Brigitte in den Arm und Seite an Seite gingen sie fröhlich hinaus ins Freie. Sie war glücklich, weil sie den Wettkampf gewann und über die Siegesprämie, die Dominik spendierte. Seine gute Laune ergab sich aus der Tatsache heraus, dass er ihr sichtlich eine Freude bereitete. Dominik machte es Spaß Brigitte ab und zu eine derartige Erheiterung zukommen zu lassen. Er freute sich, wenn sie glücklich und froh war. Diese Eigenschaft Dominiks blieb all die Jahre unverändert erhalten.
Sich dem Spielcasino empfehlend, wandten sich die zwei nach dem Stufenabgang nach rechts. Um noch etwas den zu Ende gehenden Tag an der herrlichen Luft zu genießen, bummelten sie gemütlich die Corso Imperatrice in Richtung Russische Kirche entlang. Da verspürte Dominik das drückende Gefühl von Hunger in seiner Magengegend.
„Hör zu mein Glücksengelchen“, sprach er Brigitte an, „was würdest du jetzt zu einer Einladung zum Essen sagen? Ich habe nämlich Hunger. Und du?“
Mit gespieltem, ernstem Gesicht sah Brigitte ihren Mann an und entgegnete auf die ihr gestellte Frage, mit der tiefsten Bassstimme, die sie zustande brachte: „Wie ein Wolf du armer Verlierer. Aber kannst du dir das jetzt überhaupt noch leisten, eine Einladung?“
„Ärgere mich nur mit meiner Niederlage mon petit loup. Ich werde nie wieder ein Spielkasino betreten.“
„Ist das ein Versprechen, hoch und heilig?“
„Nein.“
Dominik lachte ausgelassen und Brigitte stimmte mit ihrem hellen, fröhlichen Lachen mit ein. Guter Dinge griff Dominik das Thema wieder auf, um es zu klären. „Also suchen wir uns das nächstbeste Lokal, um eine Kleinigkeit zu uns zu nehmen.“ Dabei wusste Brigitte dass es so nicht sein würde. Ihr Mann ging nicht in jedes Restaurant. Er hatte schon einen gehobenen Anspruch an die Gastronomie.
Das gutgelaunte Paar passierte einige Gaststätten, die aber nach Dominiks Ansicht eher für den normalen Touristenrummel geeignet waren. In direkter Nachbarschaft zur Promenade und den bekannten Sehenswürdigkeiten stellten sich die Lokale alle auf die kargen Bedürfnisse der Ausflügler ein, behauptete Dominik. Das Management war darauf ausgerichtet, so viele Gäste wie möglich in kürzester Zeit zu bewirten. Das war nicht sein Stil.
In diesem Punkt trat wieder Dominiks Extravaganz hervor. Für ihn reichte ein gutes Wirtshaus mit ordentlicher Küche nicht aus. Es musste ein exquisites Restaurant, mit dem entsprechenden Ambiente, einem erstklassigen Service und hervorragender Küche sein. Von wegen „nächstbestes Lokal.“
Brigitte hingegen stellte kleinere Ansprüche in diesem Zusammenhang. Für sie war wichtiger, dass ihr Essen gut schmeckte und sie es ohne großes Tamtam in gemütlicher Atmosphäre genießen konnte. Dabei musste es sich nicht um luxuriöse In- Gerichte handeln, die lediglich ein pompöser Namen auszeichnete. Und die, nur weil sie sündhaft teuer waren, automatisch den Anspruch auf guten Geschmack auf sich beziehen durften. Für Brigitte genügte oft schon ein ausgewogener, frischer Salatteller.
Auf Dominiks Anregung hin schlugen sie also den Weg ins Innere der Stadt ein. Weg von der Strandpromenade, den Pracht- und Vorzeigestraßen und somit abseits vom ordinären Touristenrummel. Dort, wo man mehr auf Qualität als auf Quantität achtete, vermutete er die feineren Speiselokale. Brigitte folgte ihm ohne Kommentar. Wenn auch für ihre Ansprüche ein ganz gewöhnliches Lokal gut genug gewesen wäre, ersparte sich Brigitte diesbezüglich eine Bemerkung. Das wäre sinnlos gewesen und hätte nur eine unnötige Diskussion ausgelöst.
Dominik stieß dann bald auf das Gesuchte und fand, was seinen Wünschen entsprach. Das Restaurant, das er erstaunlich zielsicher aufspürte, machte von außen wirklich einen guten Eindruck. Nach der Speisekarte im Schaukasten neben dem Eingang, versprach es eine exzellent geführte Küche zu haben.
Von Brigitte gefolgt trat Dominik ein. Der Gastraum war nicht voll, aber dennoch gut besucht. Auf den ersten Blick erkannte man, dass die Gäste an den Tischen keine Touristen waren. Die Männer trugen durchweg Anzug mit Krawatte und die Garderobe der Damen war dementsprechend. Dem Verhalten nach zu urteilen, handelte es sich um Geschäftsleute, Chefs oder Manager mit ihren Begleiterinnen und Geschäftspartnern. High Society eben. Oder einfach nur um solche Personen, die sich dafür hielten.
Der Empfangskellner begrüßte sie beim Eintreten und fragte höflich, wie viele Personen sie seien. Dominik antwortete ihm: „Zwei“. Der Kellner führte sie ohne Zögern an einen, seitlich an der Wand stehenden, großzügigen Zwei- Personen- Tisch, gegen den Dominik keinerlei Einwände hatte. Der Ober war Brigitte beim platznehmen behilflich und rückte ihr den Stuhl zurecht, während Dominik geduldig wartete, bis sie zufriedenstellend saß und sich dann ihr vis-a-vis niedersetzte.
Geschmackvoll, ja geradezu idyllisch war der Gastraum eingerichtet und gestaltet. Die Atmosphäre mutete nostalgisch an, mit ihren dörflichen Attributen. Auf jedem Tisch ragte eine schlanke weiße Kerze aus einem hölzernen Halter, deren gelblicher Schein Romantik und Gemütlichkeit ausstrahlte. Die makellos weiße Decke wurde von dunkel gebeizten Holzbalken durchzogen. Auch an den Wänden, die bis in Kopfhöhe mit Holzkassetten verkleidet waren, durchzogen die restliche weiß verputzte Hälfte, gerade und schräge rustikale Holzbalken. Ähnlich wie bei alten Fachwerkbauten. So teilte sich auch der gesamte Raum durch diese dicken, fast schwarzen Holzpfosten und Verstrebungen, die als Raumteiler und kleine Mäuerchen fungierten, in mehrere Parzellen auf.
Überall an den Mauerwerken hingen altertümliche, aus der Landwirtschaft und dem Landleben stammende Gegenstände, wie zum Beispiel das hölzerne Rad einer Pferdekutsche. Aber auch alte, mit Bauernmalerei versehene Milchkannen, zierten Ecken und Winkel. Joche, die mit Strohblumen oder getrockneten Feldsträußen geschmückt waren, setzten Farbtupfer in das stilvolle Bild. Kleinere Dinge aus dem Landleben wie Hufeisen, Sicheln, Dreschflegel oder alte Petroleumlampen, verteilten sich quer im ganzen Lokal an und auf den Balken. Ebenso konnte man in fast jedem Winkel, die durch die vielzähligen Holzbalken reichlich vorhanden waren, Zier- und Strohblumengestecke sehen.
In einer kleinen dunklen Nische gleich neben der Theke, trat durch einen versenkten Spot in der Decke angestrahlt, eine sehr alte, aus Holz bestehende Weinpresse ins Licht. Zu den vollen Stunden schlug eine große, historische Standuhr, die eine weitere Ecke ausfüllte, ihr liebliches Glockenspiel. Die Besonderheit an dieser Uhr waren die Gewichte, die aus Kieselsteinen bestanden. Die Ruhe, die nur von leisen Unterhaltungen geprägt war, wurde durch das beruhigende Ticken des Pendels unterstrichen.
Über den Tischen hingen zur Beleuchtung, bis auf halber Höhe von der Decke herab Lampen, deren Schirme aus Kupfer bestanden und mit Blumenreliefs versehen waren. Also wirklich insgesamt ein gemütliches Örtchen mit Atmosphäre, gab Brigitte zu. Man kam sich vor wie in einer altertümlichen Scheune. In einem der Touristenlokale wäre es sicherlich nicht so schön gewesen, gestand sie ein.
Der Ober kam nach einem angemessenen Zeitraum wieder an den Tisch von Brigitte und Dominik zurück, um ihre Bestellung aufzunehmen. Die aufwendigen Speisekarten übergab er ihnen bereits nach der Begrüßung mit der gebotenen Zurückhaltung. Brigitte wählte, nach Empfehlung des Ganymed nach ihrem Wunsch auf eine Kleinigkeit, einen Toast „Gourmet“. Dieses vereinigte Schweinelendchen überbacken mit einem Spiegelei und einer feinen Tomatencremesauce auf einem kross gebackenen Toast.
Dominik bestellte für sich ein Rinderfiletsteak mit Buttererbsen, kandierten Nüssen sowie Bratkartoffeln und einem Spargelsalat. Zusammen für sie beide ließ er noch eine gute Flasche Roséwein servieren.
Nachdem Brigitte und Dominik das wirklich ausgezeichnete Mahl genossen hatten, der Hunger gestillt und die Rechnung beglichen war, machten sie sich auf den Nachhauseweg. Mittlerweile setzte die Dämmerung bereits ein und Dominik schaltete das Licht am Wagen ein, öffnete das Schiebedach und fuhr in Richtung Frankreich los. Brigitte genoss die etwa zweistündige Fahrt, den lauen Wind vom Meer, der über das offene Dach in den Innenraum strömte und den Sonnenuntergang, bei dem es schien, als ob der glutrote Ball direkt in die Fluten des Meeres eintauchen würde. Es fehlte nur noch das Zischen und Brodeln, wenn das Wasser die Sonne auslöschte.
Dominik befuhr die Küstenstraße, weil diese viel schöner und gemütlicher zu befahren ist, als die trostlose Autobahn, die weiter oben auf dem Kamm der Bergketten die Küste entlang verläuft. Die Aussicht von der Betonpiste aus kann zudem nicht im Geringsten bei dem Anblick, den man auf der Bundesstrasse hat, mithalten. Dominik war kein Raser. Obwohl der Daimler, in dem sie saßen, leicht über 200 km/Stunde schaffte und somit die Dauer der Fahrt über die Autobahn wesentlich kürzer gewesen wäre, genoss auch Dominik viel lieber, genau wie Brigitte, die Gegend, die Luft und die wunderschöne Aussicht, die die Küstenstraße bot. Darin waren sie sich ohne Zweifel einig. Und Zeit hatten sie. Kein Termin oder sonstige Verpflichtungen drängte sie zur Hetze.
Die feuerrote Kugel war schon fast gänzlich im Grau-blau des Meeres versunken, als sie die Grenze zu Frankreich erreichten. Die Zollbeamten tätigten ihren Job unsorgfältig und winkten die wenigen sich auf der Strasse befindlichen Fahrzuge fließend durch die Schlagbäume. Am tiefblauen Abendhimmel konnte Brigitte durch das offene Dach die ersten glitzernden Sterne beobachten. Sie faszinierte der Sternenhimmel immer wieder aufs Neue. Für Brigitte blinkten die unzähligen Himmelslichter am dunklen Firmament wie Diamanten in einer, mit schwarzem Samt ausgeschlagenen, Schatulle.
Als sie ihr Haus erreichten und auf das große Tor zufuhren, öffnete Dominik die elektrische Einfahrtspforte vom Auto aus ferngesteuert, passierte sie in langsamer Fahrt und sie schloss wieder selbstständig. Im Schritttempo rollte er den schmalen Weg zu den Garagen entlang, die sich direkt neben dem Haus befinden. Die Pinien, die den Weg säumten, wurden nur schwach und gespenstisch von den Autoscheinwerfern angestrahlt. Ansonsten war es düster und still.
Die kiesbestreute, sich in die Länge dehnende Strecke zwischen Tor und Villa hat natürlich ihren Vorteil. Denn dadurch, dass zwischen Haus und Straße eine gewisse Distanz liegt, sind in dem Gebäude und auf der Terrasse die Motorengeräusche der Autos und der Touristenbusse nicht zu vernehmen. Nur bei ganz ungünstigen Windverhältnissen, die sehr selten vorkommen, ist gelegentlich etwas davon zu hören. Aber auch dann nur leise und stark gedämpft.
Das Garagentor ließ Dominik unverschlossen, nachdem er seinen Wagen auf seinem Platz geparkt hatte. Er war der festen Überzeugung, dass falls überhaupt jemals jemand in das Grundstück eindringen würde, sich der- oder diejenigen sicherlich nicht nur an den Autos vergreifen, oder eben wegen diesen einbrechen würde. Da sind die, ungeschützt auf den Straßen abgestellten, problemloser zu haben.
Eventuelle Einbrecher würden sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorrangig Zutritt zum Haus verschaffen, um die Besitzer, also ihn und Brigitte ihrer Wertgegenstände zu entledigen. Wenn ein Dieb dann schon im Haus wäre, würde er auch so ohne Schwierigkeiten durch die Zweittür Zugang zu den Garagen finden. Von innen erwies es sich dann auch als kleineres Übel, das Garagentor zu öffnen, als umgekehrt. Also verriegelte Dominik dieses in den wenigsten Fällen und ersparte sich mit diesem Rückschluss als Rechtfertigung das ständige Öffnen und Schließen des Tores.
Bis er von der Garage zur Eingangstüre kam, beabsichtigte Brigitte dereinst diese schon einmal aufschließen. In dem Moment, als sie den Schlüssel ins Schloss einführen wollte, erschrak Brigitte jedoch bis ins Mark und rührte sich in der ersten Sekunde nicht mehr. Mit einem herzschlagartigen Schrecken stellte sie nämlich dabei fest, dass die Tür gar nicht verschlossen, sondern nur angelehnt war. Bei der Berührung mit dem Schlüssel schwang sie ohne Widerstand einen kleinen Spalt auf und Brigitte zuckte alarmiert zurück.
Voller Angst vor dem Ungewissen, was das nun zu bedeuten hatte, schlich Brigitte zwei Schritte zur Seite und wartete, bis ihr Gatte bei ihr ankam. Als Dominik endlich bei ihr anlangte und sie sein fragender Blick traf, weil er sogleich spürte, dass da etwas nicht normal war, zeigte Brigitte ohne einen Ton zu sagen und mit großen Augen auf die offene Tür. Dominik fasste Brigitte am Handgelenk und zog sie sanft noch weiter aus dem Weg. Ohne ein Wort zu wechseln waren sie sich einig: Da waren Einbrecher am Werk und diese eventuell sogar noch im Haus anwesend!
Langsam und vorsichtig ging Dominik auf den Eingang zu und lauschte abwartend an dem entstandenen Spalt. Dabei bewies er wieder einmal seinen angeborenen Mut und die ihm eigene Courage, die Birgitte in diesem Fall mehr als ängstigte. Dominik hatte sich noch nie vor irgendwas oder jemanden gefürchtet. Nach einer Weile rührlosem Verharren zeigte er durch ein leichtes Kopfschütteln an, dass er kein Geräusch vernehmen konnte. Entweder bemerkten die Kriminellen ihre Ankunft und sie verhielten sich dementsprechend ruhig, oder sie waren schon längst auf und davon. Die letzte Option wäre Brigitte sehr viel lieber gewesen. Dominik dagegen wahrscheinlich nicht. Er hätte den oder die Ganoven sicherlich gern gestellt und zur Strecke gebracht.
In ihrer Fantasie malte sich Brigitte bereits das chaotische Durcheinander in den einzelnen Zimmern aus. Die ausgeschütteten Schubfächer, die in den Räumen verteilten Kleider und anderen Gegenstände, die den Räubern im Wege waren. Sowie die zerwühlten und im schlimmsten Falle aufgeschlitzten Betten und durchstöberten Schränke. Brigitte schmerzte im Voraus schon der Verlust ihrer Schmuckkassette und die leeren Plätze, an denen kostbare Gegenstände und Erinnerungsstücke hingen oder standen.
´Und was würde sein, wenn die Verbrecher noch im Haus warteten? Würden sie kampflos die Flucht ergreifen oder sie und Dominik bedrohen oder ihnen gar schlimmeres antun?` Bei diesen Gedankengängen befiel Brigitte das pure Grausen und ungekannte Furcht, die sich durch zittern am ganzen Körper zeigte.
Nun schickte sich Dominik an, vorsichtig und zaghaft, Stück für Stück die Tür auf zu drücken, dabei jegliches, unnötige Geräusch vermeidend. Seine Aufmerksamkeit war voll der Umgebung und dem Bereich hinter der Tür gewidmet. Alle Sinne auf Empfang, schob er sich dann behutsam, Schritt für Schritt in die Eingangshalle, von wo aus man in den Salon kommt. Weiterhin lauschend, auf alles gefasst und aufs Äußerste gespannt, stand Dominik einen Moment regungslos da.
Brigitte, die ihm mit kleinen, lautlosen Schritten nachging, stellte im Halbdunkel fest, dass in der Halle, zumindest so weit sie es in dem Schummerlicht zu sehen vermochte, alles normal aussah. Sie konnte trotz ihrer Angst nicht einfach untätig dort draußen vor der Türe in der Abendluft stehen bleiben, wie Dominik es verlangte, während er da drinnen Gefahr lief, irgendwelchen Räubern in die Hände zu geraten.
Dicht hinter ihrem Mann aufschließend, passierte Brigitte mit ihm die Halle, um danach im Wohnsalon nach dem Rechten zu sehen. Auch dort, entgegen aller Befürchtungen, schien alles wie immer und unberührt. Dominik betätigte zaghaft den Lichtschalter und die Deckenbeleuchtung erhellte sofort und wohltuend den Raum, der sich nicht leerer als sonst und auch nicht verwüstet zeigte. Ebenso wenig gab es Anzeichen von ungebetenen Gästen oder waren solche gar direkt zu sehen. Alles war an seinem Platz und vollkommen unverändert.
Unverständlich sahen sich Brigitte und Dominik gegenseitig an, überrascht und sprachlos, weil sie das nicht so richtig verstanden. Hier im Erdgeschoss wäre doch einiges zu holen gewesen, aber alles schien unversehrt zu sein. Jeder, der etwas zu stehlen gedachte, hätte doch dort mit dem Ausräumen beginnen müssen. In stillem Einvernehmen zwischen Dominik und Brigitte, dass die Diebe nicht dazu kamen, weil sie beide gerade zurück gekommen waren und die Räuber somit noch irgendwo im Haus stecken mussten, befiel Brigitte erneut das in Angst begründete Zittern.
Ohne weitere Zeit zu verlieren richtete Dominik seine Schritte entschlossen zum Treppenaufgang, der nach oben zum Schlafzimmer und den Gästezimmern führte. Auch von dort war kein Ton zu hören! Brigitte, die ihm auch jetzt mit etwas Abstand folgte, sah noch, wie Dominik sich sachte in das eheliche Schlafzimmer schob. Sie verfolgte wie sich eine Körperhälfte ins Dunkel bewegte und gleich darauf verschwand Dominik ganz darin. Prompt vernahm Brigitte einen seltsamen, klatschenden Schlag, ähnlich, als wenn jemand eine Ohrfeige erhalten hätte. Sie zuckte elektrisiert zusammen und Dominik kam im selben Moment wieder durch die Tür heraus, die rechte Hand auf die Stirn drückend und mit bizarrem, starren Blick und verzogenen Mundwinkeln.
Just in der Sekunde, als Dominik so regungslos im Türrahmen verharrte, stiegen in Brigitte die furchtbarsten und schlimmsten Vermutungen und die grausamsten Vorstellungen in Gedankenschnelle auf. Was war da geschehen? Sie traute sich nicht zu bewegen, ja kaum zu atmen.
Zu ihrem größten Erstaunen und Unverständnis begann Dominik mit der unerwarteten Reaktion lauthals hinaus zu lachen. Er holte dabei mit der rechten Hand aus, um sie sich ein weiteres Mal flach gegen die Stirn zu schlagen. Das war genau der Klatschton, den Brigitte bei seinem Betreten in das Zimmer hörte.
Wie Schuppen fiel es nun auch Brigitte von den Augen. Mit der plötzlichen Erkenntnis kam auch das Verstehen. Sie stimmte erleichtert und durch den abfallenden Druck übermütig in das Lachen ihres Mannes mit ein. Die Angst vor dem Ungewissen und die dunklen Vorahnungen, über diese mysteriösen Umstände, waren mit der Einsicht sofort verflogen. Jetzt begriffen beide die angelehnte Eingangstür. Es waren keines Falls Diebe gewesen, die das Haus öffneten oder offen verließen.
Der Grund dafür war ganz wo anders zu suchen. Als sie nämlich am Mittag nach San Remo abfahren wollten, rief Dominik seiner Frau, die nach ihm das Haus verließ von der Garage aus zu, sie solle ihm bitte die Tür offen lassen, weil er seine Fahrzeugpapiere vergessen hatte. Nachdem Brigitte jedoch auf dem Beifahrersitz Platz nahm, als Dominik den Wagen vorgefahren hatte und das Handschuhfach aufklappte, um ihre Handtasche darin zu deponieren, erspähte sie dort auch Dominiks Brieftasche mit den Dokumenten, die er im Haus glaubte. Sie nahm das Etui und warf es sanft und frech auf Dominiks Oberschenkel. Den Vergesslichkeit vorwerfenden Blick registrierte er dabei mit gespielter Verlegenheit, gurtete sich wieder an und fuhr los. Dominik musste also gar nicht mehr in das offen stehende Haus und so vergaßen sie beide aus Vorfreude auf den bevorstehenden restlichen Tag und wegen ihres Unsinns, vollkommen die unverschlossene Tür.
Dann, als sich Brigitte und Dominik von dem Lachen über sich selbst und der dummen Angst über ihre eigene Unachtsamkeit gefangen hatten, begaben sie sich nacheinander ins Bad. Es war inzwischen spät geworden und sie wollten sich für die Nachtruhe duschen und umziehen. Im Prinzip waren sie auch schon sehr müde, konnten aber beide wegen des letzten, aufputschenden Ereignisses jetzt nicht direkt ins Bett. Sofort einzuschlafen wäre unmöglich gewesen. Der Blutdruck schoss ihnen ganz gehörig in die Höhe, durch den unnötig, selbst verursachten Schrecken.
Brigitte, die als erstes fertig war, ging mit Negligee und Morgenrock bekleidet noch einmal ins Wohnzimmer, wo sie auf Dominik wartete, indem sie an ihrem angefangenen Puzzlespiel weiter kniffelte. Die Teile des Puzzles lagen auf dem Couchtisch nebeneinander verteilt. Bis dahin gelang es Brigitte nur, die Rahmenteile aneinander zu ketten, womit sie grundsätzlich bei jedem Puzzle anfing.
Mit solchen Geduld erfordernden Dingen beschäftigte sich Brigitte mit Vorliebe. Sie hat schon einige sehr schöne und großflächige Puzzels beendet. Beim Aussuchen der Motive nahm sich Brigitte immer viel Zeit. Wenn sie wieder ein neues anschaffen wollte, sah sie sich stets in mehreren Kaufhäusern und Katalogen um, damit sie auch wirklich die ihrer Meinung nach glanzvollsten Bilder aufspürte.
Ebenso fertigte sie gerne Stickbilder an. Die geradeso eine diffizile Feinarbeit darstellten und ziemlich langwierig werden konnten. Desgleichen suchte Brigitte auch hier die Abbildungen genau und behutsam aus. Brigitte bevorzugte dabei Motive, deren Vorlage die Gemälde berühmter Künstler zu Grunde lagen. Sie hatte aber keinen bestimmten Lieblingsmaler. Allein die Motive waren entscheidend. So stickte Brigitte zum Beispiel schon Spitzwegs „Der arme Poet“ oder Rembrandts „Nachtwache“ mit viel Geduld, Nadel und Garn nach.
Diese, nach genauer Vorlage der Maler auf ein Netz aufgedruckten Bilder stellten eine besondere Herausforderung dar und wurden von Brigitte gerne nachgestickt. Ein derart in Handarbeit hergestellter Wandschmuck wurde im entsprechenden Rahmen zum echten Blickfang in jedem Raum, denn er war ein Meisterwerk für sich selbst.
„Du kannst noch ein bisschen weiter machen“, stellte ihr Dominik frei, als er die Treppe vom oberen Stockwerk aus dem Badezimmer kommend den Wohnsalon betrat. Er trug ebenfalls über seinem Pyjama einen leichten, seidenen Bademantel. „Ich werde mir auf den Schreck hin noch ein Schlückchen gönnen.“
Kaum richtig ausgesprochen holte sich Dominik aus der umfangreichen Bar neben der Treppe seine bevorzugte Flasche und einen Cognacschwenker heraus und setzte sich auf einen der bequemen, ledernen Sessel. Dominik genoss den ersten kleinen Schluck des edlen Branntweins sichtlich. Das zeigte er durch akustische und optische Gesten deutlich an. Von ihm aus brauchte der gesamte Inhalt seiner Bar einzig und allein aus diesem edlen Tropfen zu bestehen. Etwas anderes kam Dominik nicht ins Glas, was Spirituosen betraf. Er legte außerdem den größten Wert darauf, dass stets "seine Marke" im Hause vorrätig war und nicht etwa ein anderer gepanschter Fusel, wie er die übrigen Produkte zu bezeichnen pflegte.
Ganz am Anfang ihrer Ehe hatten sie auch genau deswegen Streit bekommen. Eine der sehr wenigen Auseinandersetzungen in ihrer Ehe die eben entstand, weil Brigitte eine andere Sorte Cognac einkaufte. Sie sagte Weinbrand sei Weinbrand und er könnte doch jenen auch einmal kosten. Dominik geriet völlig außer sich und beharrte auf "seine Marke". Brigitte gab aber nicht nach und Dominik wurde immer böser, so dass sie sich in diese dumme Meinungsverschiedenheit derart hineinsteigerten, dass sie am Ende wegen dieser Lappalie zwei Tage nicht miteinander redeten.
Die nachgebende Seite war danach dann doch, wie zu erwarten, Brigitte. Dominik blieb stur wie ein Panzer, wenn es um solche Dinge ging. Er stellte selten besondere Ansprüche, die ihm Brigitte erfüllen sollte, aber wenn er einen bestimmten Wunsch äußerte, führte kein Weg daran vorbei. Um wieder Frieden im Hause zu haben, und weil der Cognac den Streit nicht wert war, kaufte Brigitte eine Flasche des gewünschten Getränks und überreichte sie ihm mit einem versöhnenden Kuss. Den ´falschen´ Cognac rührte Dominik nie an. Nach dem ersten Gläschen seiner Marke war dann schließlich auch von Dominik her alles in Ordnung und der Hausfrieden wieder hergestellt.
Wegen solchen unbedeutenden Kleinigkeiten stritten sie mit zunehmendem Alter immer weniger. Sie wurden beide ruhiger und reifer, also erfahrener und erkannten, dass Streiten keine Lösung war. Jeder Tag im Streit blieb ein verlorener Tag, den man nicht mehr aufholen konnte. Die letzten Jahre ihrer Ehe gab es nicht einen einzigen Disput mehr.
Aus dem Schlückchen, das Dominik an jenem Abend noch trinken wollte, wurden letztlich vier Gläser. Während dieser Zeit fand Brigitte ein paar passende Teile in ihrem Puzzlespiel, bei dem Dominik stumm, seinen Schlaftrunk genießend zusah. Ab und zu schüttelte er als einzigen Kommentar dazu den Kopf. Er hätte nie die Geduld zu einem solch langwierigen und ermüdenden Projekt aufgebracht.
Bei ihrem aller ersten Bild wollte Brigittes bessere Hälfte ihr gerne behilflich sein. Aber nachdem er einige Teile in die Hand nahm und sie einfügen wollte und keines davon in die von ihm vorgesehene Lücke passte, stand Dominik seinerzeit, „so ein Quatsch“ murmelnd auf und trank einen Cognac.
„Ich denke, es wird Zeit, dass wir uns schlafen legen“, brach Dominik das Schweigen, als er den Rest des vierten Glases ausgetrunken hatte. Obwohl Brigitte eigentlich noch nicht so richtig müde war, nickte sie zustimmend. Das Teil, das sie gerade versuchte einzupassen, legte sie zur Seite, um dann Dominik ins Bett zu folgen.
Der Rest des Tages lief also genau so unbefriedigend ab, wie fast jeder andere zuvor auch. Im Schlafzimmer angekommen, begab sich jeder auf seine Seite des Bettes. Sie gaben sich gegenseitig den üblichen, lieben und zärtlichen Gute-Nacht-Kuss, nach welchem sich Dominik auf die Seite rollte, um wenig später einzuschlafen.
Dann lag Brigitte da! Der Kuss und Dominiks Empfindungen beruhten zwar auf echter Liebe, aber Brigittes Körper verlangte oft mehr. In solchen traurigen Stunden spürte sie deutlicher als sonst den Altersunterschied zwischen sich und ihrem Mann. Denn in den Momenten zeigte er sich in größtem Ausmaß. Dominik liebte sie mit jeder Faser seines Körpers. Daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Er verehrte Brigitte, war zu jeder Zeit herzlich zu ihr und wollte nur das Beste für sie. Er gab Brigitte was er konnte. Die körperliche Liebe jedoch, war er inzwischen unfähig ihr so oft zu geben, wie Brigitte das gerne gehabt hätte. All sein Geld konnte ihr nicht ersetzen, was ihr fehlte.
„Hallo Tante, schläfst du?“ spricht Brigitte plötzlich eine sehr junge Stimme neben sich an. Aus ihrem Traum gerissen, den Kopf zur Seite drehend, sieht sie nun das kleine Kind, schätzungsweise vier oder fünf Jahre alt, das Brigitte aus weiten, braunen Augen anstarrt. Der Knirps, allem Anschein nach ein Mädchen, hält vor dem Bauch die Ärmchen über einem großen, bunten Wasserball geschlossen und mustert Brigitte aufmerksam.
Die Kleine beobachtete Brigitte wahrscheinlich schon eine geraume Weile, wie sie so ganz still, ohne sich auch nur einmal zu bewegen in die Ferne starrte und dabei ihren Gedanken und Erinnerungen nachhing. In ihrer kindlichen Unwissenheit kam sie dann wohl zu dem Schluss, dass Brigitte mit offenen Augen schlafen würde.
„Nein“, antwortet Brigitte mit einem gekünstelten Lächeln, das aber misslang, „ich bin hellwach“. Mit einer leiseren Stimme fügt sie mehr zu sich als zu dem Mädchen hinzu: „Ich wollte, es wäre alles nur ein Traum gewesen. Ich würde heute alles anders machen!“
Das junge Fräulein, deren Neugierde jetzt vermutlich befriedigt war, zeigt ihrerseits ein breites Grinsen, bei dem sie jene Zahnlücke freigibt, die jedem Kind in diesem Alter zu Eigen sind. Ohne Übergang kneift sie aber auf einmal die Augen zusammen und streckt Brigitte frech ihre kleine, rote Zunge heraus. Das Kind dreht sich um, ohne noch irgendetwas zu sagen oder zu tun und rennt davon.
Ja, weglaufen, einfach abhauen und alles hinter sich lassen, das würde Brigitte am liebsten auch tun. Ihr ist dagegen aber klar, dass fliehen im Endeffekt doch nicht die Lösung ihrer Probleme ist. Brigitte muss durch diese endlos scheinende Wüste der Qualen hindurch. Sie kann nicht einfach Reißaus vor ihrer Vergangenheit, der Gegenwart, der damit verbundenen Schwierigkeiten, der Welt und sich selbst nehmen. Egal, wohin sie rennen würde, Brigittes Probleme wären bereits dort und würden auf sie warten. Ihre Nöte lauern auf sie, liegen immer im Hinterhalt, egal wo sie ist.
´Die Sonne steht schon wieder ziemlich tief am Horizont`, denkt Brigitte für sich. Es verging offenbar eine Menge Zeit während ihrer Tagträume, in denen sie über ihre Vergangenheit mit Dominik nachdachte. Brigitte macht sich auf den Weg zu ihrem geparkten Auto, um nach Hause zu fahren und sich ins Bett zu legen. Mehr hat sie von diesem Tag nicht zu erwarten. Schlafen ist so gesehen auch eine Art Flucht vor der Wirklichkeit.
Insgeheim hofft Brigitte nur, dass sie jetzt, nachdem sie etwas aus dem Haus an der frischen Luft des Sommers war, mit Ruhe und in Frieden einschlafen kann.