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Kapitel 2

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New York, 1852

„Warum mussten wir nur gestern Abend streiten, Vater und ich? Warum mussten wir uns unbedingt am Abend seines Todes streiten?“ Tränen brannten in den Augen von Meggie Alston. Sie holte tief Luft in dem Bemühen, sich zusammenzureißen.

Ihre ältere Schwester Henrietta streichelte Meggie beruhigend über das lange rote Haar. „Oh, Meggie, ich werde mir nie verzeihen, dass ich gestern bei diesem albernen Hausmusik-Abend der Greens war. Niemals! Es muss so schrecklich für dich gewesen sein, ganz allein mit Vater, als er …“ Sie stieß einen unterdrückten Schluchzer aus.

„Du wirst nie wissen, wie schrecklich es war“, dachte Meggie.

Wieder hatte sie den grauenhaften Anblick vor Augen.

Sie hatte den erstickten Schrei ihres Vaters gehört. Daraufhin war sie im Morgenmantel nach unten gerannt. Ihr Vater war im großen Salon auf die Knie gesunken, er keuchte laut, die Hände auf den Bauch gepresst.

Seine alten grauen Augen füllten sich mit Entsetzen, als er vergebens nach Luft schnappte. Ein Krampf schüttelte ihn, dann lag er still.

Meggie schrie um Hilfe. Sie schrie und schrie. Aber es war sinnlos. Außer ihr war niemand im Haus. Und als Dr. Marston dann endlich kam …

Meggie schüttelte den Kopf. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen.

„Weißt du, was am schlimmsten ist?“, fragte sie Henrietta. „Dass wir uns auch noch gestritten haben. Oh, Henrietta, warum habe ich mich nur dauernd mit ihm in die Haare bekommen? Warum?“

„Weil du das Temperament unseres Vaters geerbt hast“, erwiderte Henrietta mit einem traurigen Lächeln. Aus ihrem Dutt hatte sich eine Strähne ihres braunen Haars gelöst, die sie sich mit einer langsamen Bewegung aus dem Gesicht strich.

„Das stimmt“, bestätigte Meggie. „Es hat so viele furchtbare und sinnlose Streitgespräche zwischen uns gegeben. Und gestern Abend war ich besonders gemein zu ihm. Was, wenn er in dem Glauben gestorben ist, dass … dass ich ihn nicht geliebt habe …?“ Verzweifelt schlug Meggie die Hände vor ihr Gesicht und begann, leise zu schluchzen.

Henrietta nahm sie in die Arme und schaukelte sie liebevoll hin und her. „Er wusste genau, dass du ihn liebst. Natürlich wusste er das.“

Meggie ließ sich von ihr hin und her wiegen wie ein kleines Kind. „Wenigstens habe ich noch Henrietta“, dachte sie.

Ihre Mutter war gestorben, als Meggie sechs war. Henrietta war damals erst neun gewesen, aber sie hatte es übernommen, Meggie die Mutter zu ersetzen. Sie hatte sie getröstet, wenn sie aus einem Albtraum erwacht war. Sie hatte zugehört, wenn Meggie Probleme hatte.

Die liebe Henrietta.

Mit einem vorsichtigen Lächeln schaute Meggie zu ihrer Schwester auf. „Ohne dich würde ich das alles nie durchstehen.“

„Wir müssen stark sein“, stimmte Henrietta ihr zu. „Sehr stark.“

Jemand klopfte an die Tür.

Henrietta räusperte sich. „Herein!“, rief sie.

Das Zimmermädchen Colleen trat ein und knickste. Ihre runden Wangen waren leuchtend rot.

„Ja?“, fragte Henrietta.

„Draußen sind zwei Polizisten, die Sie beide sprechen möchten, Miss“, sagte das Mädchen.

Henrietta stand langsam auf. „Polizisten?“

„Ich habe ihnen gesagt, dass Sie keinen Besuch empfangen, Miss, aber sie bestehen darauf.“ Colleens Hände verkrampften sich in ihrer Schürze.

„Wissen sie denn nicht, dass wir in Trauer sind?“, fragte Henrietta.

Meggie hörte das Beben in der Stimme ihrer Schwester. „Die arme Henrietta“, dachte sie. „Es ist nicht fair, dass sie immer diejenige ist, die sich um mich kümmern muss. Ich werde mich in Zukunft auch um sie kümmern.“

„Doch, Miss. Das habe ich ihnen gesagt“, berichtete Colleen.

„Führ sie herein“, befahl Meggie wütend und sprang auf. „Ich werde ihnen klar machen, dass man Trauernden mit Respekt zu begegnen hat.“

„Jawohl, Miss.“

Einen Augenblick später kehrte das Dienstmädchen mit den zwei Polizisten zurück. Beide trugen blaue Uniformen mit funkelnden Polizeiabzeichen. Meggie fiel auf, dass beide nicht nur einen Revolver im Gürtel stecken hatten, sondern auch einen Schlagstock. Sie schauderte. Was wollten sie bloß bei ihnen?

Die beiden Männer nahmen hastig ihre Uniformmützen ab. Einer von ihnen war alt und kahlköpfig. Der andere war noch jung, und sein rotes Haar hatte fast denselben Ton wie das von Meggie.

„Sind Sie die Alston-Schwestern?“, fragte der kahlköpfige Polizist und sah abwechselnd Meggie und Henrietta an.

Henrietta griff nach Meggies Hand und drückte sie ermutigend. „Sie will nicht, dass mein Temperament mit mir durchgeht“, dachte Meggie. Also kniff sie die Lippen zusammen und überließ das Antworten ihrer Schwester.

„Ja, das ist Meggie Alston“, sagte Henrietta mit einem Blick auf ihre jüngere Schwester. „Und ich bin Henrietta Alston.“

„Es tut uns Leid, Sie zu einer solchen Zeit belästigen zu müssen“, fuhr der ältere Polizist fort.

„Wirklich Leid“, fügte der jüngere hinzu und wurde so rot, dass seine Sommersprossen nicht mehr zu erkennen waren.

„Und worum geht es?“, fauchte Meggie. „Sie sagen, dass es Ihnen Leid tut, und trotzdem sind Sie hier. Und das, wo unser Vater noch nicht einmal unter der Erde ist!“

„Meggie“, murmelte Henrietta warnend.

„Dr. Marston, der Arzt Ihres Vaters, war bei uns“, erklärte der kahlköpfige Polizist. Er zögerte und starrte Meggie und Henrietta durchdringend an. „Es scheint …“

„Was scheint?“, fuhr Meggie ihn ungeduldig an.

„Es scheint, dass Ihr Vater keines natürlichen Todes gestorben ist. Er ist vergiftet worden.“

Meggie hatte das Gefühl, als wäre im Zimmer plötzlich das Licht ausgegangen. Das einzige Geräusch, das sie noch hörte, war das Ticken der Standuhr. Es klang viel lauter als sonst. In ihrem Kopf drehte sich alles.

„Er ist ermordet worden?“, stieß sie ungläubig hervor.

„Das kann nicht sein! Dr. Marston muss sich irren“, verkündete Henrietta entschieden. Aber ihr Gesicht war leichenblass.

„Es ist kein Irrtum“, widersprach der ältere Polizist.

„Aber … wer würde denn so etwas tun?“, stieß Meggie hervor. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Wenn wirklich jemand ihren Vater ermordet hatte, sollte er dafür bezahlen. Sie würde dafür sorgen, dass er dafür bezahlte.

„Deswegen wollten wir mit Ihnen sprechen“, sagte der jüngere Mann und drehte nervös seine Uniformmütze zwischen den Fingern. „Wir haben uns gefragt, ob Ihr Vater irgendwelche Feinde hatte …“

„Irgendwelche Feinde?“, wiederholte Henrietta fassungslos. „Nein, nicht dass ich wüsste.“

„Er hatte sicher keine Feinde“, bestätigte Meggie. „Er war der netteste Mensch der Welt! Wie können Sie nur so etwas fragen?“

„Und gestern hatten unsere beiden Hausangestellten frei“, fügte Henrietta hinzu. „Meggie und Vater haben den Abend allein verbracht, was bedeutet, dass niemand die Gelegenheit hatte, ihn …“

Henrietta verstummte plötzlich, und ihr Unterkiefer klappte herunter.

Meggie spürte, wie ihre Kopfhaut zu prickeln begann, als ihr Blick von Henrietta zu den Polizisten wanderte. Die beiden starrten sie misstrauisch an.

Die glaubten doch wohl nicht, dass sie … Sie konnten doch nicht ernsthaft annehmen, dass Meggie ihrem eigenen Vater etwas antun würde, oder?

„Stimmt das, Miss?“, fragte der Ältere langsam an sie gewandt. „Waren Sie und Ihr Vater den ganzen Abend allein?“

„Ja, allerdings“, sagte Meggie. „Aber was …?“

„Das ist doch lächerlich!“, mischte sich Henrietta ein, und ihre Stimme wurde schrill. „Nur weil die beiden eine kleine Auseinandersetzung hatten, können Sie doch unmöglich annehmen, dass Meggie …“ Mehr brachte sie nicht heraus.

„Eine Auseinandersetzung? Worüber?“, hakte der ältere Polizist schnell nach.

Henrietta sah Meggie ängstlich an. Ihre Hände zitterten.

Meggie sah die Polizisten an. „Nicht, dass es Sie etwas anginge, aber mein Vater hat mir Hausarrest erteilt. Er hat herausgefunden, dass ich … kutschieren war.“

„Kutschieren?“, fragte der Ältere verständnislos.

„In einer Kutsche im Park herumfahren und … küssen“, erklärte der Jüngere und starrte verlegen auf den Boden.

„Ja, und da hast du gesagt …“, begann Henrietta. Doch sie unterbrach sich hastig, und ihre Wangen wurden leuchtend rot.

„Was hat sie gesagt?“, fragte der Kahlköpfige streng.

Mit einem kurzen Blick bat Henrietta Meggie um Verzeihung.

„Was hat sie gesagt?“, wiederholte der Polizist seine Frage energisch.

„Oh“, murmelte Henrietta. „Sie hat gesagt … nun, dass sie zu alt ist, um sich von ihm Vorschriften machen zu lassen. Und dass damit ein für alle Mal Schluss sein würde.“ Henriettas Lippen begannen zu beben.

Meggie konnte nur den Kopf schütteln. Beinahe hätte sie gelacht. Es war ein komisches Gefühl, dass tatsächlich jemand dachte, sie hätte ihren Vater umbringen können. Wie absurd!

„Ich fürchte, wir müssen eine Hausdurchsuchung vornehmen“, erklärte der kahlköpfige Polizist. „Wir werden jedes Zimmer durchsuchen“, fügte er hinzu und starrte Meggie direkt ins Gesicht, „einschließlich des Schlafzimmers von Ihnen, Miss.“

„Niemals!“, schrie Henrietta. „Sie vergessen wohl, mit wem Sie es zu tun haben? Das hier ist immer noch das Haus der Familie Alston!“

Meggie hatte Henrietta noch nie so wütend erlebt. Wie großartig von Henrietta, sie so erbittert zu verteidigen! Und das, obwohl Henrietta Streitigkeiten hasste.

„Es tut mir Leid, Miss“, sagte der Polizist, „aber wir müssen unsere Pflicht tun.“

Henrietta öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch der Mann ließ sie nicht zu Wort kommen. „Sie wollen sich doch nicht der Polizei widersetzen?“, fragte er mit kalter Stimme.

Henrietta senkte den Blick und schüttelte langsam den Kopf. Dann führte sie die beiden Polizisten aus dem Salon. Ihr steifes schwarzes Kleid raschelte bei jedem Schritt.

Meggie blieb, wo sie war. Sollten sie doch ihr Zimmer durchsuchen. Sie würden sowieso nichts finden. Schließlich war sie unschuldig.

Aber was, wenn Dr. Marston Recht hatte? Wenn wirklich jemand ihren Vater ermordet hatte? War es denkbar, dass gestern Abend jemand ins Haus eingedrungen war, ohne dass sie es bemerkt hatte?

Unmöglich!

Sie hörte, wie Henrietta auf der Treppe lautstark mit den beiden Polizisten diskutierte. Sie ließ sich erschöpft aufs Sofa fallen. Ihr Körper fühlte sich so schwer an, als wären ihre Arme und Beine aus Blei. Sie schloss die Augen. Die Stimmen auf der Treppe waren verklungen.

Colleen stürzte ins Zimmer. Sie schien den Tränen nahe zu sein. „Sie müssen kommen, Miss. Diese Männer sagen schreckliche Dinge über Sie.“

„Das ist ein Irrtum“, erklärte Meggie ihr. „Mach dir keine Sorgen. Das ist alles nur ein schrecklicher Irrtum.“

„Bitte“, flehte Colleen. „Kommen Sie schnell.“

Meggie zwang sich zum Aufstehen. Dicht gefolgt von Colleen schleppte sie sich aus dem Wohnzimmer. Dann stieg sie langsam die Treppe hoch und klammerte sich bei jedem Schritt an das mit Schnitzereien verzierte Geländer.

„Meine Schwester ist unschuldig!“, hörte sie Henrietta von oben schreien. „Wie können Sie es wagen! Hören Sie auf! Hören Sie sofort damit auf! Sie dürfen ihre Sachen nicht durchwühlen!“

Auf dem oberen Treppenabsatz bog Meggie in den langen Flur ein. Ihr Zimmer schien meilenweit entfernt. Sie war so müde. Sie wollte nur noch schlafen.

Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen, und Meggie schlüpfte hinein. Der kahlköpfige Polizist hielt eine Öllampe hoch, während der junge methodisch ihre Sachen durchsuchte. Er hatte die Fächer ihres Sekretärs aufgezogen und stocherte in den kleinen Schubladen herum.

„Sie ist unschuldig!“, kreischte Henrietta immer wieder. Hektisch griff sie nach dem Arm des jungen Polizisten, um ihn von weiteren Suchaktionen abzuhalten.

Der Polizist schüttelte ihre Hände ab.

„Henrietta“, sagte Meggie. Ihre Stimme klang dünn und hörte sich an, als käme sie aus weiter Ferne. „Es ist in Ordnung. Wenn die Kerle ihre Zeit damit verschwenden wollen, mein Zimmer zu durchsuchen, dann lass sie doch.“

Henrietta schnappte nach Luft, als der junge Polizist etwas aus der zweituntersten Schublade holte.

Ein Glasfläschchen.

Er zog den winzigen Korken heraus und schnupperte zögernd am Inhalt des Fläschchens.

„Gift“, verkündete er. „Blausäure. Es riecht ganz stark nach Bittermandeln.“

„Dann haben wir die Mörderin“, verkündete der kahlköpfige Polizist. „Es ist Meggie Alston.“

Fear Street 32 - Bruderhass

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