Читать книгу DEAD MAN'S BADGE - STERBEN IN LANSDALE - Robert E. Dunn - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеNur das Haus zu verlassen, war nicht genug. Ich musste so schnell wie möglich das Land verlassen. Der Wagen, den ich nach Mexiko gefahren hatte, war nicht mehr da. Ich hatte immer noch den Chevy. Das Problem war, dass er nicht über die versteckten Fächer verfügte wie mein eigener Wagen. Die wären zwar auch nicht perfekt gewesen, um damit in die USA zu fahren, aber besser als nichts. Normalerweise brachte ich Geld in den Süden. Ich schmuggelte keine Drogen und war selten bewaffnet. Weder in der einen, noch der anderen Richtung erregte ich viel Aufmerksamkeit. Ein heruntergekommen aussehender Amerikaner in einem Chevy mit mexikanischen Kennzeichen zog Blicke auf sich. Mit dem Cash im Wagen würde man lange und ganz genau hinsehen – in einem kleinen, stickigen Raum unter zu grellem Licht. Deswegen hatte ich das Gras mitgenommen.
An einer 24-Stunden-Tankstelle kaufte ich ein Sandwich, eine Flasche Wasser und ein Glas mit eingelegten Gurken. Als ich zum Auto zurückging, nahm ich die Flasche mit Fensterreiniger, die an der Zapfsäule hing. Eine Minute später hatte ich das Sandwich gegessen und begab mich an die Arbeit.
Zuerst leerte ich den Fensterreiniger aus der Sprühflasche und füllte sie zur Hälfte mit Wasser. Danach öffnete ich die Packung mit dem trockenen und gepressten Gras. Ich riss zwei große Stücke ab und zerdrückte sie auf dem Betonboden, um die Öle freizusetzen. Das hatte ich aus Kochsendungen gelernt. Das zerkleinerte Häufchen kratzte ich zusammen und füllte es in die Sprühflasche. Anschließend schüttelte ich die Gras-Wasser-Mischung und wusch die Hände mit Essigwasser aus dem Gurkenglas. Ich hatte noch Hunger und aß ein Gürkchen. Dann stieg ich wieder in den Chevy.
Die Sonne war aufgegangen. Ein weiterer Tag brach an, für mich und ein paar Tausend Tagelöhner und Hilfsarbeiter, die in der Schlange standen, um die Grenze zu den USA zu überqueren. Ich fuhr nicht direkt über die Grenze, sondern langsam hin und her und besprühte jeden Wagen, der an mir vorbeikam mit dem mit Marihuana versetzten Wasser. Als der Verkehr immer dichter wurde, reihte ich mich ein. Nach etwa einer halben Stunde war der Chevy rund ein Dutzend Wagen vom Übergang entfernt und der Verkehr zum Erliegen gekommen. Die Hunde schlugen bei den Autos an, die ich eingesprüht hatte. Sie wurden herausgewunken und gründlich durchsucht.
Eine Menge Leute saßen nicht in ihren Fahrzeugen, sondern trieben sich zwischen Straßenhändlern und Bettlern herum. Niemand interessierte es, als ich ausstieg und durch die stehenden Autos schlenderte, wobei ich alles in meiner Nähe unauffällig, aber gründlich einsprühte. Die Schlangen setzten sich wieder in Bewegung. Ich schraubte den Verschluss ab und warf die Flasche hinten auf einen Pick-up-Truck.
Die Hunde drehten durch und schlugen bei den eingesprühten Wagen an. Grenzbeamte hatten fast 20 Autos anhalten lassen, die gründlich durchsucht wurden. Das musste frustrierend sein. Zumindest hoffte ich das.
Der Wagen, auf den ich die Flasche geworfen hatte, rief gewaltige Aufregung hervor. Er war so groß, man hätte darauf eine Riesenmenge Drogen verstecken können. Es half, dass die wütenden Landschaftsgärtner gerade lautstark genug protestierten, um die nervösen Zöllner felsenfest von ihrer Schuld zu überzeugen.
Bei einem solchen Chaos wird der Gringo, der auf dem Heimweg ist, nur mal kurz aus dem Augenwinkel angesehen. Zum Glück machten sie sich nicht einmal die Mühe, unter die Sitze zu sehen, als der Hund den Essig an meinen Händen roch und dann schnell das Interesse verlor.
»Was für ein Problem gibt es dieses Mal?« Mein Halbbruder hatte die Frage gestellt. Er war ein Jahr älter als ich und wir hatten verschiedene Mütter. Der Mann, der mir den Namen Longview gab, hatte seinen ersten Sohn Paris genannt.
Unser Vater hieß Buick. Namen waren anscheinend ein Familienfluch.
Paris und ich kamen nach Buick und sahen uns für Halbbrüder erstaunlich ähnlich. Paris war ein wenig schlanker und gepflegter. Seine Haare dunkler und kürzer. Meine waren von der Sonne ausgebleicht und hingen bis auf den Hemdkragen.
Paris hatte ein Zuhause gehabt, einen Vater, der fast immer da war, und er hatte den Namen Tindall geerbt. Ich bekam von Buick nur das Gesicht, das ich mir auch noch teilen musste.
Der alte Mann war in vielerlei Hinsicht ein Bastard. Wenn man mal von der Tatsache absah, dass ich der buchstäbliche Bastard in der Familie war. Meine Mutter war mit uns in den Osten der Trinity Bay in die Nähe von Houston gezogen, um näher bei Buick zu wohnen. Er zeigte uns seine Wertschätzung, indem er die Miete bezahlte und für ein wenig Essen auf dem Tisch sorgte. Abhängigkeit war die Falle, die meine Mutter entweder nicht verstand oder die sie nicht infrage stellte. Armut kann wie eine Kloschüssel sein: Glatte Wände und eine starke Strömung, die einen nach unten zieht. An der Stelle befanden wir uns, in der Mitte des Wirbels, während Buick zusah, wie wir uns im Kreise drehten. Wir waren gar nicht das schmutzige, kleine Geheimnis, das man sich vorstellte. Das hieß, wir waren überhaupt nicht geheim.
Buick Tindall war ein Texas Ranger. Paris Tindall war ein Texas Ranger. Longview Moody war ein Berufskrimineller mit einer gewalttätigen Vergangenheit. Manchmal kann ich fast so etwas wie ein Muster in meinem Leben erkennen. Ein Muster gab es definitiv: Wenn ich Ärger bekomme, rufe ich den einen Polizisten an, dem ich trauen kann.
»Die haben mich reingelegt«, sagte ich ihm und hielt das Telefon ans andere Ohr. Das rechte fühlte sich noch komisch an, wegen der Kugel, die nahe genug vorbeigeschossen war, um die kleinen Härchen zu streifen.
»Wo bist du?«, fragte er. Paris klang nicht erfreut, mich zu hören. Ich konnte es ihm nicht verübeln.
»Ich bin in einem Motel in El Paso. Ich muss erst mal schlafen, bevor ich nach Hause fahre.«
»Ich weiß nicht, wie ich dir im Moment helfen kann. Bei mir hat sich einiges getan. Ich hab einen neuen Job.«
»Einen neuen Job? Was?« Das war schwer zu glauben. Paris liebte es, Ranger zu sein, und so sehr ich es auch hasste, es zuzugeben: Er war einer von den guten. In unsere Familie fiel der Apfel weit vom Stamm und rollte dann einen Hügel hinunter.
»Ich werde der neue Polizeichef von Lansdale.«
»Was du nicht sagst.«
Lansdale, Texas, war eine Sackgasse am Ende einer kaum befahrenen Landstraße, gelegen in einer Einbuchtung im Grenzverlauf. Erinnert sich jemand an die Serie Weg in die Wildnis? Der Ort Lonesome Dove war das, was Lansdale werden wollte, als es durch die Gnade eines sterbenden Pferdes gegründet wurde, das seinen Reiter 1897 hier stranden ließ. Es war gewachsen, aber nicht auf gesunde Weise; eine größere Hölle ist nicht unbedingt eine bessere Hölle.
»Wieso?«
»Eben so.« Paris war schon immer gut mit Worten. »Was ist mit dir? Brauchst du Geld?« Es gab einen Grund, wieso ich ihm stets verzieh. Mein Bruder hatte nie was für meine Art zu leben übriggehabt. Er war sogar oft regelrecht verurteilend und schroff deswegen. Aber das hielt ihn nie davon ab, seine Hilfe anzubieten.
»Nein. Ich muss dir was sagen …«
»Ich muss los«, sagte er. »Wir treffen uns bei dir.«
Er hängte auf.
»Verdammt«, sagte ich in die tote Leitung. Dann: »Scheiß drauf.« Ich ging schlafen.
Meine Träume spielten in einer Unterwelt. Dunkelheit umgab und erfüllte mich. Ein organischer, verrotteter Geschmack füllte meinen Mund. Es war nicht wie der trockene Staub des Wüstenbodens. Was in meinem Mund fiel, als ich zu schreien versuchte, war feucht und fruchtbar. Es war wie die Erde, aus der Waldboden besteht, alte Blätter und nagende Würmer. Dann kamen die Blitze. Nicht als Blitzschläge, sondern Spritzer aus Licht. Explosionen wie Mündungsfeuer aus Elektrizität begleitet von bellendem Donnerhall. Einige klein. Oder weit entfernt. Ich war nicht sicher. Der Knall kam jedes Mal unvermittelt. Manche der Entladungen waren größere, aufeinanderfolgende Lichtblitze und Druckwellen, wie eine Schrotflinte, die man in einem Sarg abfeuert.
Ich wünschte, ich hätte einen Sarg.
Als ich aufwachte, war die Sonne beinahe verschwunden und durch Gewitterwolken und Sturm ersetzt worden. Lichtblitze zeigten in Richtung Süden, klagten mich an und betrogen mich zugleich. Ich versuchte noch mal, Paris anzurufen. Der Anrufbeantworter ging ran. Es war sinnlos, ihm eine Nachricht zu hinterlassen.
Bevor ich aufbrach, duschte ich. Der zweite Versuch, das Gefühl des Grabes abzuwaschen, seitdem ich in das kleine Motel gekommen war. Ich ließ den Schlüssel auf dem verschwitzten Bett und trat hinaus in den Regen. Eine dritte Dusche.
»Wovor laufen Sie denn weg? Gefängnis?«, fragte die Kassiererin. Ich sah mich um, ob sie jemand anderes meinte. Tat sie nicht. »Was meinen Sie?« Ich versuchte, nicht zu besorgt zu klingen. Ich war vom Hotel direkt zu einem Truck-Stop gefahren. Einer von den großen mit Duschen und stapelweise Truckermützen zum Verkauf. Hier gab es auch Stiefel und sie hatten ein Regal mit Jeans. Ich kaufte neue Hosen; ein sauberes Hemd – mit perlmuttfarbenen Druckknöpfen; und ein Prepaid-Handy.
Die Frau, auf deren Namensschild Rochelle stand, zeigte auf das, was ich auf den Tresen gelegt hatte. Wenn man meinen kleinen Stapel an Waren so ansah, hätte man ihn nur dann noch verdächtiger wirken lassen können, wenn ich eine Flasche Whisky und einen neuen Revolver hinzugefügt hätte.
»Oh«, sagte ich und lachte ein kleines Schon-verstanden-Lachen. »Ja, könnte man so sehen.« Dann lehnte ich mich über den Tresen zu ihr, gerade weit genug, um ihr in den Ausschnitt zu sehen und zu riechen, welche Hautcreme sie benutzte. »Meine Frau hat mich rausgeworfen.«
Sie errötete ein wenig. Ich war mir nicht sicher, ob es wegen dem war, was ich gesagt hatte oder was ich in ihrer Vorstellung eben dachte. Sie war hübsch, da konnte man auf Gedanken kommen. Ich wünschte mir, dass ich nicht direkt weiter Richtung Heimat müsste und dass ich nicht die letzte Nacht hinter mir gehabt hätte.
»Das ist eine Schande«, sagte sie und meinte es auch so. »Das macht 64,87. Wo kommen Sie denn unter?«
Es war eine unverfängliche Frage. Ich war so aufgekratzt, dass ich vielleicht mehr hineinlas, als sie gemeint hatte. »Wissen Sie, Rochelle … Sie duften besser als ein Blumenstrauß.« Ich sah ihr wieder ins Gesicht. »Ich bin noch eine Weile unterwegs, aber dabei werde ich an Sie denken.« Ich zog zwei Hunderter aus der Rolle Scheine, die ich dabeihatte. »Nehmen Sie das und machen Sie sich einen schönen Abend. Vielleicht denken Sie ja an mich.«
Ich zog mich im Duschraum um. Als ich mit meinen neuen Sachen wieder ging, warf Rochelle mir eine Kusshand hinterher. Ich fühlte mich fast wie ein Mensch. Fast. Ich war etwa eine Stunde von El Paso entfernt, als ich zu weinen begann. Ich mag es nicht, aber es geschieht nach einem Kampf. Es ist mir in der Army passiert, und heute immer noch. Man sollte es nicht für Schwäche halten. Es ist nicht einmal die Schuld. Vielleicht ist es nur der Stress, aber es ist Teil meiner Routine. Wie traurig ist es, dass ich Routine habe, wenn es darum geht, mit dem Tod und dem Töten fertig zu werden?
Als es vorbei war und das neue Telefon geladen, fuhr ich rechts ran und richtete es ein, dann rief ich erneut Paris an.
»Was?«, fragte er und hörte sich noch gehetzter und genervter an, sobald er wusste, wer anrief.
»Ich bin es«, sagte ich.
»Ich dachte, du fährst zu dir?«
»Mache ich auch«, sagte ich in meinem besten Nur-die-Fakten-Tonfall. »Ich war in El Paso, wenn du dich erinnerst.«
»Was hast du da gemacht?«
»Das willst du nicht wissen.«
»Will ich das von Berufs wegen nicht wissen?«, fragte er.
Ich hasste diesen selbstgefälligen Tonfall, der sich in seine Stimme stahl. Das war keine Überraschung. Er und ich hatten schon vor langer Zeit aufgehört, einander zu überraschen. Der schwierigste Teil unserer Beziehung war wohl die völlige gegenseitige Vorhersagbarkeit.
»Das willst du egal aus welcher Warte nicht wissen«, sagte ich. »Und bevor du noch mal fragst, ich brauche kein Geld.«
»Da bin ich ja froh.« Er klang ungläubig.
Ich fragte mich, ob Paris es genoss, seinem Bruder ein paar Almosen hinzuwerfen, wenn ich in Schwierigkeiten war. Ich hakte nicht weiter nach. »Was ist denn mit dieser hochoffiziellen Sache? Wieso nimmst du den Job an?«
»Es gibt ein paar Dinge, die ich erledigen muss. Ich hab ja als Ranger höchstens die kleinen Löcher im Boot gestopft. In Lansdale kann ich vielleicht ein paar große Fische an Land ziehen.«
»Was für große Fische?«
Er antwortete nicht und das billige Telefon rauschte, wenn niemand etwas sagte.
»Paris?«
»Wovor rennst du diesmal weg?« Er hatte immer so eine Art, direkt zur Sache zu kommen.
Dieses Mal war ich derjenige, der sich um die Antwort drückte.
»Du kannst aufhören«, sagte er. »Mit Wegrennen. Mit allem.«
»Und was tun?«
»Mir helfen.«
»Ich kann kein Cop werden. Vergiss mal die Situationskomik dabei. Ich hab eine Akte.«
»Menschen mit vielen Strafzetteln haben eine Akte. Du bist ein Krimineller mit einem Bein im Knast.«
»Ist das der Fachbegriff?« Ich fuhr an einem langsamen SUV vorbei und blieb auf der linken Spur, um ein paar Laster zu überholen.
»Du hast doch in Angola eingesessen. Das könnte nützlich sein.«
»Da bin ich ja froh, dass ich dir behilflich sein kann.«
»Das kann dir selbst auch helfen«, sagte er. »Auf lange Sicht.«
»Sehr lange Sicht.« Ich hoffte, es war mir gelungen, möglichst verbittert zu klingen.
»Ich hab neulich mit Dad gesprochen«, sagte er. Der Themenwechsel kam unvermittelt und mir fiel nichts dazu ein. Ich steuerte kurz vor einem Lkw auf die rechte Spur. Er hupte nicht, aber ich konnte im Spiegel sehen, wie er mir den Stinkefinger zeigte.
Seltsam ist das mit uns Jungs aus dem Süden. Wir werden vielleicht über 90, aber reden über unseren Vater immer noch als Dad, wenn wir ihn nicht gerade Hurensohn nennen.
»Willst du denn nicht mal wissen, wie es ihm geht?«
Hatte er wirklich die Nerven, mich das zu fragen?
Ich ignorierte die Frage und das Urteil, das darin mitschwang. Stattdessen sagte ich ihm: »Ich hab gestern Nacht im guten alten Mexiko etwa ein Dutzend Männer umgelegt.« Das war direkt und schockierend, das wusste ich. Ich wusste auch, dass er mit der Vorstellung und dem Wissen klarkommen musste, was für ein Mann ich war. Es war mir egal. Es war reiner Eigennutz, ihm die Realität meines Lebens vor Augen zu führen, mit der unmissverständlichen Anschuldigung, dass ich vielleicht da sein könnte, wo er jetzt war, wenn unser Dad mir auch ein Vater gewesen wäre. Das kümmerte mich genauso wenig. Aber ich sagte: »Tut mir leid.«
»Mir auch«, meinte er. Ich konnte hören, dass es ehrlich gemeint war. »Willst du reden …«
»Nein.«
»Kapiert. Bist du okay?«
Die Frage war nicht das, was ich erwartet hatte. Ich musste darüber nachdenken.
»Bist du noch da?«, fragte er nach einem langen Moment verrauschter Stille. Dann: »Geht es dir gut?« Seine Stimme klang diesmal anders. Die Frage war auch anders gestellt. »Bist du okay?«, hieß: »Bist du verletzt?« Aber »Geht es dir gut?« bedeutete nicht dasselbe.
»Ich weiß nicht.« Wie sehr das zutraf, wurde mir erst klar, als ich es aussprach.
»Soll ich …?«
»Nein«, sagte ich schnell. Dann: »Also erzähl‘ mir von der Sache in Lansdale. Wie kann ich dir helfen?«
»Willst du das denn?«
»Ich weiß nicht. Wenn ich es kann. Du sagst mir ja nicht, worum es geht.«
»Kann ich nicht.«
»Verdammte Scheiße«, stieß ich hervor und ließ mir meine Verärgerung anmerken. »Ich hab dir ja auch eben erzählt, dass …«
»Long«, sagte er ruhig, aber betont. »Du hast mir gar nichts erzählt. Du hast was gesagt und dann hast du gemeint, ich will es lieber nicht wissen. Vielleicht will ich es ja doch wissen; vielleicht auch nicht. Aber diese … diese Sache, die da bei mir läuft. Ich weiß nicht … ich weiß einfach nicht. Also kann ich es dir nicht sagen. Aber es ist wichtig.«
Das war mein Bruder. Für ihn hatten die Dinge noch einen Wert. Er hatte ein Gewissen und Verantwortungsgefühl, das bedeutete ihm was. Menschen wie ich können das zur Seite schieben. Deswegen konnte ich ihm vertrauen und brauchte ihn. Ich hatte allerdings noch nie das Gefühl gehabt, dass er mich brauchte.
»Kann man damit Geld verdienen?«, wollte ich wissen.
»Zweifelhaft«, sagte er unumwunden.
»Verbirgst du etwas?«
»Könnte sein.«
»Wie kann ein Typ wie ich dir helfen? Und ich meine Wie, nicht Was.«
»Sagen wir einfach, ich hab da eine Menge Spielraum.«
»Das kauf‘ ich dir nicht ab«, sagte ich und dachte nach. »Solche Städte wollen einen Polizeichef mit ordentlich gebügeltem Hemd, der sich mit den Rotariern und dem Lions Club zum Brunch trifft. Ein Stadtrat gibt einem doch keinen Spielraum.«
»Ich bin nicht vom Stadtrat eingestellt worden. Mich hat das Justizministerium auf den Plan gerufen.«
»Du gehst da als Bundesbeamter rein? Das heißt, jemand hat ordentlich Dreck am Stecken. Und das bedeutet Aufmerksamkeit. Da willst du mich nicht dabei haben.«
»Du könntest mir helfen.«
»Wie?«
»Kann ich im Moment nicht sagen.«
»Kannst du nicht?«, fragte ich und ließ mir anmerken, dass ich ihm nicht glaubte.
»Ich will nicht. Es gibt ein paar Sachen, bei denen du mir helfen kannst.«
»Ein paar Sachen, bei denen dir dein Bruder mit der dicken Strafakte in deinem Job als Bundesagent – der sich als Polizeichef ausgibt – helfen kann. Hört sich an, als steckst du bereits in Schwierigkeiten.«
»Vielleicht.«
»Du marschierst da also einfach rein und übernimmst den Job?«
»Mehr oder weniger.«
»Na dann viel Glück.«
»Wir können drüber reden, wenn du da bist«, sagte er. »Wann wird das sein?«
Ich konnte ihn mir lebhaft vorstellen, wie er auf die Uhr sah. Er war ein erwachsener Mann, ein Cop, und trug immer noch eine Star-Trek-Armbanduhr.
»Ich weiß nicht. Dauert mindestens acht oder neun Stunden, wenn ich durchfahre. Und ich bezweifle, dass ich das schaffe.«
»Müde?«
»Erschöpft.«
»Also nicht einfach nur müde«, sagte er. Ich wusste, was er vorhatte – er wollte, dass ich ihm mehr über die letzte Nacht erzählte.
»Du hast recht. Es ist mehr als Müdigkeit.« Dabei beließ ich es und am anderen Ende der Leitung blieb es still.
Als er endlich etwas sagte, überraschte er mich erneut. »Geheimnisse zu haben, ist nicht gut, kleiner Bruder.«
»Deine Bibelsprüche kannst du jemand anderem andrehen«, sagte ich.
»Wir unterhalten uns, wenn du da bist.« Es schien es ernst zu meinen. Mir kam es so vor, als wüsste ich gar nicht recht, worüber wir geredet hatten. »Ich erwarte dich.«
»Okay.«
»Ich freue mich schon, dich mal wieder zu sehen«, sagte er. Und erneut klang er, als meinte er es ernst, und das war merkwürdig. Er legte auf, bevor ich noch etwas sagen konnte.
Ich ließ das Handy fallen und trat gleichzeitig aufs Gas.
Eine komische Unterhaltung. Ich dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass beide Anrufe seltsam gewesen waren. Beim ersten Mal war es mir nicht aufgefallen, so müde und ausgelaugt hatte ich mich gefühlt. Es war mehr die Stimmung. Keiner von uns hatte etwas Falsches gesagt. Es hatte sich nur nicht richtig angefühlt. Paris und ich hatten immer eine Art gehabt, frei von der Leber weg zu reden, zu fluchen und zu lachen, ohne wirklich offen zu sein. Typisches Männerverhalten und so ein Ding unter Halbbrüdern. Aber nicht förderlich für echte Kommunikation. Zwischen den Zeilen zu lesen wird zur Gewohnheit in manchen Beziehungen. Aber aus irgendeinem Grund schien Paris seine Zeilen in einer anderen Sprache zu schreiben.
Von unterwegs konnte ich da gar nichts machen. Also drehte ich das Radio an und verkniff mir das Grübeln.
Nach weiteren vier Stunden fuhr ich Schlangenlinien und konnte die Augen kaum mehr offenhalten. Ich stoppte auf einem Rastplatz und versuchte im Auto zu schlafen. Eine Weile klappte das. Aber irgendwann war der Lärm zu viel. Der Regen war nach Norden gezogen und der Himmel klarte erst auf, als die Sonne am Horizont versank und die Nacht hereinbrach. Eine Gruppe Biker fuhr auf den Rastplatz. Sie ließen die Motoren aufheulen und schrien sich irgendetwas zu.
Nachdem ich eine weitere Stunde gefahren war, zog es mir wieder die Augen zu. Ich hielt auf dem kiesbedeckten Parkplatz einer einstöckigen Bar in einem Klinkerbau. Er war lang und gedrungen, zappenduster, abgesehen vom Glühen des neonroten Bierschriftzugs, in dessen Schein ich hoffentlich das ewige Leben verbringe.
Es waren ein paar Typen vom Militär in Uniform drin, die an der Bar Burger aßen. Ich setzte mich an einen Tisch und wählte, genau wie die anderen, den großen Burger. Manche der Jungs suchten nach dem Ausscheiden wieder Kontakt zum Militär. Einige von uns nicht.
Ich war ein guter Soldat gewesen. Um die Wahrheit zu sagen, war es idiotisch gewesen, dass ich ausgeschieden bin, aber das Gras sieht auf anderen Weiden immer ein wenig grüner aus, wenn man es von Afghanistan aus betrachtet. Zumindest von den Landesteilen aus, die ich zu Gesicht bekam. Ich war erst ein Jahr draußen, als ich für zwei im Knast Angola einfuhr. Mir kam die Army wie Urlaub vor – eine Auszeit von dem Leben, an dem ich fleißig gearbeitet hatte, seitdem ich mit 13 anfing, nur Unfug zu treiben. In der Army machte ich den Highschoolabschluss und las das erste Mal Bücher ohne Bilder drin. Dort lernte ich auch zu töten. Vielleicht war es doch nicht so verschieden von dem Leben, das ich schließlich führte.
Eine der Frauen, die die Tische abräumten, steckte ein paar Münzen in die Jukebox und drückte mehrere Knöpfe. Bevor sie sich umdrehte, hörte man ein Surren und das Geräusch einer Platte, die auf den Teller fiel. Die Jukebox war noch mit echten Singles bestückt. Erinnerungen an eine verlorene Zeit mit 45 Umdrehungen pro Minute. Ich aß meinen Burger auf, wischte das letzte Bisschen Ketchup und Mayo mit den restlichen Pommes auf und hörte mir an, wie Conway Twitty »I See the Want in Your Eyes« sang. Obwohl ich erschöpft war und eine lange Fahrt vor mir hatte, bestellte ich ein Bier. Der nächste Song war ebenfalls ein Oldie und hieß »Country Bumpkin«. Bevor er vorbei war, hatte ich das halbe Bier getrunken und heulte wieder. Ich verbarg das Gesicht in den Händen und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Es war egal, ob ich leise war oder nicht. Ich war nicht der Erste, der in diesem Laden in sein Bier geheult hatte. Ich versuchte wenigstens nicht zu schluchzen. Es wurde schlimmer, als B. J. Thomas »(Hey Wonʼt You Play) Another Somebody Done Somebody Wrong Song« sang. Ich war nach einer Weile der einzige Kunde in der Kneipe. Die Kellnerin sah mich aus der Ferne mit traurigem Blick an. Ich schaffte es nicht, den Laden zu verlassen, bis die Jukebox »Convoy« anstimmte. Zum Glück hatte ich noch eine weite Strecke vor mir.
Im glitzernden Niemandsland der Dunkelheit und des Sternenlichts zwischen Nacht und frühem Morgen näherte ich mich meinem Zuhause. Die richtige Zeit, ein Grab auszuheben. So sah ich es zumindest. Ich verließ den Highway und fuhr auf der Suche nach einer geeigneten Stelle eine Weile herum. Nicht weit von dem Trailerpark entfernt, in dem mein Zuhause auf mich wartete, fand ich sie.
Zuerst hielt ich beim Schnapsladen und kaufte zwei Sixpacks Bier, irgendein billiges. Außerdem ein Einwegfeuerzeug und eine rote Tasche mit dem riesigen Label einer Biermarke darauf. Ich steckte die Kohle und die Waffe in die Tasche. Als Nächstes hielt ich an einer Tankstelle, kaufte einen Benzinkanister und füllte ihn.
Mit diesen Einkäufen fuhr ich in ein Industriegebiet, das ich vorher ausgewählt hatte. Ich parkte im Schatten, etwa 20 Meter von einem Grüppchen Teenager entfernt. Sie hingen da nur so rum, knallten leere Flaschen auf den Boden und rauchten neben ein paar Laderampen. Die Kids warfen mir durchdringende Blicke zu, als ich ausstieg. Ich ging mit meiner großen roten Tasche davon, ließ dabei die Autotür offen und den Motor laufen. Bier, Benzin und Feuerzeug waren auf dem Sitz. Ich rechnete damit, dass etwa im Morgengrauen der Chevy, weit von meinem Trailer entfernt, bis auf die Felgen niedergebrannt sein würde.
»Paris«, sagte ich, als ich die Tür aufmachte. Ich rief nicht, war aber auch nicht leise. Ich ging davon aus, dass er schlief, aber man schleicht sich nicht einfach an einen bewaffneten Mann heran. Alle Lichter waren aus. Ich wollte nichts lieber, als direkt in mein Schlafzimmer und erschöpft ins Bett sinken. Nur der Gedanke, ich könnte dabei auf Paris landen, hielt mich davon ab. Da er mir nicht geantwortet hatte, vermutete ich, dass er nicht auf dem Sofa lag.
Ich legte den Schalter für die Deckenlampe um. Von den zwei Glühbirnen funktionierte nur eine. Sie flackerte dreimal, bevor sie dauerhaft brannte. Der Lampenschirm war kaputt. Die ganze Konstruktion hing nur an den Stromkabeln von der Decke. Erst als das Flackern aufhörte, kam ich auf die Idee, mal nach unten zu sehen. Paris lag auf dem Boden, seine Hand nur Zentimeter von meiner Stiefelspitze entfernt.
Er war tot. Es gab keine Hoffnung, es war sinnlos, sich zu bücken, um den Hals nach einem Puls zu befühlen. Dazu war zu viel Blut auf dem Boden.