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1. Kapitel
Der Mann
ОглавлениеEines muss ich gleich zu Beginn eingestehen: sichere Kenntnisse über den Mann Hannibal haben wir so gut wie gar keine. Es gibt faktisch nichts in den Quellen, das einen Blick auf seine Persönlichkeit erlauben würde; alles sind nur Vermutung darüber, ›wie er gewesen sein muss‹; ausgestattet mit all den hervorragenden Qualitäten und Charaktereigenschaften, die aus ihm einen so furchtlosen und unwiderstehlichen Führer und einen der brillantesten Heerführer aller Zeiten machten. Das Problem dieser Annahmen liegt jedoch darin, egal wie wahrscheinlich sie sind, dass das, was gewesen sein muss nicht notwendig das ist, was war. Hannibal war ständig in Bewegung – entsprechend schwer fällt es, eine Vorstellung seines Lebens zu bekommen. Doch nötigen seine dauerhafte Entsagung, die Härte und Beschwerden von denen sein Leben geprägt war und die den meisten von uns unvorstellbar sind, Respekt ab. Der römische Historiker Cassius Dio hat sicher recht mit der Aussage »Strapazen machten ihn robust, während fehlender Schlaf seine Stärke mehrte« (Fragment 54). Er befand sich in ständiger Angst um sein Leben, auch in den fünf Jahren, die er nach dem Ende des Zweiten Punischen Krieges und vor dem unwiderruflichen Exil in Karthago lebte. Er hinterließ keine eigenen Schriften und seine Gefühlswelt bleibt uns für immer verborgen.
Drei Mal innerhalb von achtzehn Monaten konnte Hannibal die Römer in ihrer eigenen Heimat schlagen – und es ist allzu leicht zu übersehen, dass Hannibal zu dieser Zeit bereits auf einem Auge blind war, nachdem er durch eine Infektion sein Augenlicht eingebüßt hatte. Wenn er in seinem Leben nichts anderes vollbracht hätte, als seine Armee – und, viel beeindruckender, seine Kriegselefanten – über die höchsten Gebirgspässe Europas und nach Italien zu führen, so würde ihm bereits das allein einen unvergesslichen Platz in der Geschichte sichern. In der punischen (bzw. karthagischen) Sprache war sein Name Hnb’l, was soviel heißt wie ›Ba’al ist gnädig‹, ›Ba’al ist meine Gnade‹ oder ›Der, der Gnade vor Ba’al findet‹ – Ba’al war der wichtigste Gott der Punier. Hnb’l war tatsächlich göttlich begnadet.
Er wurde im Jahr 247 geboren, fünf oder sechs Jahre vor dem Ende des Ersten Punischen Krieges, in welchem die Karthager von den Römern besiegt wurden und in dessen Folge sie die reiche Insel Sizilien an die Römer verloren. Er trug den Namen seines Großvaters, eine in der Antike weitverbreitete Praxis, die bis auf den heutigen Tag in diesen Regionen üblich ist. Sein Vater, Hamilkar Barkas, war ein karthagischer Aristokrat. Als Feldherr trug er viel zur Ausweitung des karthagischen Einflusses in Südspanien (dem heutigen Andalusien) bei. Über Hannibals Mutter ist nichts bekannt. Jedoch ist es möglich, dass er aus einer ethnisch gemischten Verbindung stammte, da es in Karthago üblich war, dass Ehen zwischen Karthagern und Ausländerinnen geschlossen wurden. Die Barkiden – ›Barka‹ heißt ›Donnerkeil‹ – waren eine der größten und namhaftesten punischen Familien. Hannibal scheint von seinem Vater ein durchaus großes Vermögen geerbt zu haben, auch wenn er nie die Muße hatte, dieses zu genießen. Vermutlich besaß er Ländereien in der Nähe von Leptis Minor (oder Minus, das heutige Lamta oder Lemta), in Tripolitanien, dem derzeitigen Libyen. Hierhin zog er sich 203 für einige Monate zurück, bevor er Publius Cornelius Scipio bei Zama gegenübertrat.
Über die Jahre seiner Kindheit wissen wir faktisch nichts. Kurz nach seiner Geburt übernahm sein Vater den Oberbefehl über die karthagischen Truppen im Nordwesten Spaniens; Hannibal wurde wahrscheinlich in der Obhut seiner Mutter zurückgelassen. Im Alter von neun Jahren ließ ihn sein Vater ins Heerlager nach Spanien rufen. Möglicherweise war seine Mutter in der Zwischenzeit gestorben und es gab keinen nahen Angehörigen, dem Hamilkar die Erziehung seines Sohnes anvertraut hätte. Doch auch wenn seine Mutter beim Abschied noch lebte, wird er sie wahrscheinlich nie wiedergesehen haben. Vorbild und Einfluss des Vaters waren entscheidend für den jungen Hannibal.
Abgesehen von dem berühmten Eid unauslöschlichen Hasses auf die Römer (auf den ich später noch zu sprechen kommen werde) gibt es keine weiteren Geschichtchen aus seiner Kindheit, wie sie zuhauf etwa in den Biographien berühmter Römer und Griechen des Schriftstellers und Philosophen Plutarch zu finden sind. Wir wissen nichts über seine Bildung, doch wird sie (im herkömmlichen Sinn) ein wenig rudimentär ausgefallen sein, da er seit seinem neunten Lebensjahr im Heerlager lebte. Doch war er mit der griechischen Kultur vertraut und sprach fließend Griechisch. Nepos, sein Biograph aus dem ersten Jahrhundert v. Chr., berichtet von einem Spartaner namens Sosylos, der ihn auf seinem Feldzug nach Italien begleitete und ihn in den litterae Graecae unterrichtete, was sowohl die griechische Sprache als auch die griechische Literatur bezeichnen kann (Hannibal 13). Laut Nepos war Hannibal auch ein begeisterter Briefeschreiber, der mehrere griechische Schriften verfasst habe. Eine davon war an die Bürger von Rhodos gerichtet und hatte die Unbarmherzigkeit der Römer zum Thema. Ein Papyrusfragment (vermutlich zwischen 190 und 185 v. Chr. geschrieben) war vom ›König der Karthager‹, als welcher sich Hannibal stilisierte, an die Athener gerichtet. Auch sprach er wohl ein sehr zögerliches Latein; Livius berichtet von den Schwierigkeiten der Punier, lateinische Namen korrekt auszusprechen. Ein von ihm berichteter Vorfall eines gravierenden Missverständnisses zwischen Hannibal und einem italischen Verbündeten macht deutlich, dass Hannibal in diesem Punkt keine Ausnahme darstellte (22,13,6).
Hannibal muss ein Mann von enormer Willenskraft gewesen sein – unübertroffen, wenn nicht einzigartig in der Welt der Antike. In diesem Punkt sind sich die Historiker des Altertums einig. Der griechische Geschichtsschreiber Polybius bewunderte seine militärischen Qualitäten, kritisierte jedoch Hannibals Verhalten zu Beginn seiner Karriere. Für die Zurückweisung der römischen Forderung, die Stadt Sagunt nicht zu belagern, findet Polybius nicht das geringste Verständnis. »Überhaupt aber war er der Besonnenheit bar, voll gewaltsamen Ungestüms«, schreibt er, »weswegen er auch die wirklichen Ursachen beiseite ließ und zu unvernünftigen Vorwänden seine Zuflucht nahm, wie diejenigen zu tun pflegen, welche, zum Voraus von Leidenschaften beherrscht, sich um Recht und Gebühr nicht bekümmern.« (3,15,9). Eine solche Einschätzung ist mit Vorsicht zu genießen. Zum einen wissen wir nicht, ob die Belagerung Sagunts allein Hannibals Plan war. Denn laut Polybius befanden sich zu dieser Zeit synedroi in seiner Gefolgschaft (vgl. 3,20,8; 71,5). Unter diesen hat man sich wohl Repräsentanten des karthagischen Senats vorzustellen, mit denen er sich vor einer so schwerwiegenden Entscheidung beraten haben wird.
Eine Einschätzung aus Sicht seiner Veteranen findet sich in den Schriften des römischen Historikers Livius (21,4). So habe er über die Unterstützung der gesamten karthagischen Armee in Spanien verfügt, sei seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten gewesen und habe rücksichtslosen Wagemut (audacia) mit kluger Besonnenheit (consilium) verbunden. Darüber hinaus sei Hannibal dynamisch gewesen, habe größte Hitze und schlimmste Kälte klaglos ertragen und sich keinen Luxus gegönnt. Er brauchte nur wenig Schlaf und nahm die gleichen Entbehrungen auf sich, die er auch seinen Soldaten zumutete. Das entspricht dem gängigen Topos des idealen Feldherrn, der sich aus dem Vorbild des idealen Philosophen heraus entwickelt hatte. Im Anschluss, nun wohl seine eigene Meinung widergebend, bezichtigt Livius Hannibal einer ganzen Liste von Verbrechen, einschließlich »unmenschliche Grausamkeit, eine mehr als punische Treulosigkeit. Nichts galt ihm als Wahrheit, nichts war ihm heilig, Gottesfurcht kannte er nicht. Ein Eid war ihm bedeutungslos, und er empfand keine religiöse Bindung.« Allein die Anmerkung »mehr als punische Treulosigkeit« spricht Bände. Expliziter Rassismus findet sich nicht nur hier in Livius’ Schrift. Eine derartige Anklage beruhte wohl hauptsächlich auf der im Kampf gegen die Römer angewandten, ungewöhnlichen Taktik. Doch läge man falsch mit der Annahme, Livius habe den Mann nicht auch bewundert. Im Zusammenhang mit der Schilderung des Hannibal-Bruders Hasdrubal schreibt er, »womöglich war er in seinem Unglück noch bewundernswerter als in seinem Glück« (28,12,3). Eine solche Aussage über Roms tödlichsten Gegenspieler ist durchaus bemerkenswert, zumal sie aus der Feder des römischen Patrioten schlechthin stammt. Doch wie vielen von Livius’ Worten können wir nun Glauben schenken? Die herausragenden Qualitäten, mit denen er Hannibal ausstattet, treffen wohl auf jeden erfolgreichen Heerführer zu, während seine Laster vermutlich auf das nahezu unbewusste Verlangen des Autors zurückzuführen sind, Hannibal als Schurken darzustellen. ›Punische Treulosigkeit‹ ist eine besonders anstößige Anklage. Wenn Livius von Hannibals vermeintlicher Gottlosigkeit schreibt, müssen wir uns auch fragen, welchen Göttern Hannibal denn nun keine Ehrfurcht entgegengebracht haben soll.
Silius Italicus fügt zwei Generationen nach Livius seinem epischen Gedicht über den Zweiten Punischen Krieg eine weitere Charakterstudie des Feldherrn bei. Dabei teilt er uns nicht viel Neues mit und klingt in seinen Worten sehr nach einem Echo des Livius (Punica 1,56–60):
Hannibal war energisch und verschlagen. Keiner wusste die Menschen besser zu täuschen und in die Irre zu führen, keiner hatte weniger Sinn für Gerechtigkeit. Stand er unter Waffen, legte er auch alle Furcht vor den Göttern ab. Seine Tugend war eine Perversion und er verachtete jede Vorstellung eines gerechten Friedens.So stark war sein Durst nach Menschenblut, dass er bis in sein innerstes Wesen davon durchdrungen war.
Hannibals vermeintliche Blutrünstigkeit wurde ihm bereits vom jüngeren Seneca angekreidet: beim Anblick eines mit Menschblut gefüllten Grabens, soll er gelassen bemerkt haben, »Welch betörendes Schauspiel!« (De ira 2,5,4). Unabhängig davon ob diese Geschichte nun wahr ist oder nicht, dürfte es kaum außer Zweifel stehen, dass er auch vor schwersten Strafen nicht zurückschreckte. Der unglückliche Führer, der ihn nach Casilinum anstatt nach Casinum brachte, wurde gegeißelt und gekreuzigt »um dem Rest Angst zu machen« (Livius 22,13,7–9). Das war natürlich eine maßlose Reaktion, doch lag Casilinum 40 Meilen südwestlich von Casinum – der Irrtum kann also kaum als klein bezeichnet werden. »Wo um alles in der Welt sind wir?« soll er seinen Führer gefragt haben, als er die Berge auf der einen und den Fluss auf der anderen Seite der Ebene sah.
Viel wichtiger ist die Frage, ob Hannibal nach den Standards seiner Zeit als besonders blutrünstig bezeichnet werden kann. Als er 220 Salmantica und 219 Sagunt eroberte, vereinbarte er den freien Abzug der freien Einwohner der Stadt, die jedoch Waffen, Sklaven und ihren gesamten Besitz zurücklassen mussten (Plutarch, Moralia 248F; Livius 27,13,7). Das entsprach nicht dem üblichen Procedere, nach welchem der Sieger im Normalfall die Männer hinrichtete und die Frauen und Kinder versklavte.
Ihn als besonders grausam darzustellen, diente also offensichtlich dem Zweck römischer Propaganda, zumal der karthagische Feldherr in den frühen Jahren des Krieges wiederholt versuchte, römische Verbündete durch milde Behandlung nicht-römischer Gefangener auf seine Seite zu ziehen. Als jedoch die Ansprüche des sich hinziehenden Krieges auch von ihm Tribut zollten, mag sich seine Einstellung gewandelt haben. Doch laut Polybius waren die Gräueltaten der Karthager in Italien im Großen und Ganzen das Werk eines seiner Unteroffiziere, Hannibal Monomachus (9,24,5–8). Polybius gibt keine Anhaltspunkte für ein mögliches Einschreiten gegenüber dessen Grausamkeit, doch weist er auf Hannibals Abscheu gegenüber dem Vorschlag hin, die Männer an den Verzehr von Menschenfleisch zu gewöhnen, sollten sich beim Alpenübergang entsprechende Notsituationen ergeben. Doch spricht er von Hannibals außerordentlicher Habgier (ohne allerdings ins Details zu gehen; er meint schließlich, eine solche Eigenschaft sei typisch für Punier; 9,25,4). In Petronius’ Trimalchio beschreibt ihn die Titelfigur als »Gauner und Betrüger«, der, nachdem er Troja (!) zerstört habe, alle goldenen, silbernen und bronzenen Statuen einschmelzen ließ, um die eigenen Schatztruhen zu füllen (50,5). So schien Hannibals Name im ersten Jahrhundert n. Chr. bereits gleichbedeutend mit allen Arten von Betrügerei und Habgier geworden zu sein.
Bezeichnenderweise nennt keine unserer Quellen Lüsternheit als einen seiner Makel. Pompeius Trogus (exzerpiert in Justinus 32,4,11) meint, er sei in der Behandlung seiner weiblichen Gefangenen so beherrscht gewesen, »dass man kaum glauben könne, dass er in Afrika geboren wurde« – ein weiteres Beispiel des üblichen Rassismus. Doch gerade der offensichtliche Rassismus dieser Aussage macht sie so glaubhaft.
Über seine Beziehungen zu Männern und Frauen wissen wir so gut wie nichts; die Ehe mit einer Ibererin aus Castulo im heutigen Andalusien bleibt eine Randnotiz. Der Epiker Silius Italicus (Punica 3,66–7) erwähnt einen Sohn, der aus dieser Beziehung hervorging und während der Belagerung von Sagunt 219 geboren wurde, doch ist dieser wohl vom Dichter erfunden, um in einer emotionalen Szene seines Gedichts auch den Sohn auf den schon traditionellen familiären Hass gegenüber Rom einzuschwören. Wo aber sind Frau und Kind bei seiner Rückkehr nach Karthago im Jahr 203? Hatte Hannibal enge Freunde in der Stadt oder in Spanien oder unter den Truppen? Wie nah stand er seinen beiden Brüdern?
Hannibal war ein beeindruckender Führer, soviel ist klar. Für die gesamte Dauer seines Italienfeldzuges – immerhin fünfzehn Jahre – finden sich keine Mitteilungen von Meutereien der Truppen. Auch wenn ihm vor dem Alpenübergang Tausende die Gefolgschaft versagten, desertierten danach – soweit bekannt ist – nur noch zweimal kleinere Einheiten, sobald Italien erreicht war. Der Umstand ist um so bemerkenswerter, da sein Heer aus einem bunten Gemisch von Stämmen und Völkern bestand – Afrikaner, Hispanier, Ligurier, Kelten, Phönizier, Italiker und Griechen – ein Heer also, das in Livius’ Worten »aus dem Abschaum aller möglichen Völkerschaften zusammengewürfelt war, die nicht Gesetz, nicht Sitte, nicht Sprache gemeinsam hatten, verschieden aussahen, verschiedene Kleidung, verschiedene Waffen, verschiedene Riten, verschiedene Opfer, ja fast verschiedene Götter hatten« (28,12,3–4). Seine Männer verehrten ihren General, sonst wären sie ihm kaum bis zum bitteren Ende gefolgt, lange nachdem das Scheitern des Italienfeldzuges schon offensichtlich war.
Hannibal war ein Mann mit der ungewöhnlichen Begabung dafür, das Undenkbare zu denken und das noch nie Dagewesene zu versuchen. Dafür sind seine unzähligen ungewöhnlichen militärischen Experimente Zeugnis. Ebenso verfügte er über gesunde Menschenkenntnis und war in der Lage, die Gedanken seiner Gegner genau nachzuvollziehen und ihre Schwächen gezielt auszunutzen. Außerdem hatte er ganz offensichtlich weder die Zeit noch die Energie, den Raum oder die Mittel – ganz zu schweigen von dem Drang – nach dem bei den Römern so beliebten zeremoniellen Pomp. Sein berühmtester Gegner, der jüngere Publius Cornelius Scipio, der einzige Römer, der ihn jemals im Kampf besiegen konnte, war sein gelehrigster und eifrigster Schüler.
Es kann kaum überraschen, dass Livius ihm nicht ohne Bewunderung jene »punische Cleverness« zuspricht, die eine Mischung aus Raffinesse und Humor ist. Als seinen Männern bei der Überquerung der vereisten Alpen der Mut zu versagen drohte, bemerkte er süffisant, dass die im Lager befindlichen Gallier (die ihn aufgesucht hatten, um ihre Hilfe anzubieten) »wohl kaum hergeflogen« wären (21,29–30). Noch bemerkenswerter ist jene Episode vor der Schlacht von Cannae, als sein Hauptmann Giskon ehrfurchtsvoll auf die Größe des römischen Heeres hinwies. Hannibal erwiderte nur, »Etwas anderes ist dir entgangen, lieber Giskon, worüber du noch mehr staunen könntest … dass unter dieser ganzen großen Zahl keiner Giskon heißt.« (Plutarch, Fabius 15,2). Diese kleinen spöttischen Bemerkungen zeigen Hannibals Fähigkeit, die aufgestaute Spannung aus einer Situation herauszunehmen und seine Männer auf das Wesentliche zu fokussieren.
Auch von seinem Aussehen haben wir keine wirkliche Vorstellung. Das Portrait auf einer Silbermünze, die Hannibal vor dem Zug nach Italien unter seinen Truppen verteilen ließ, wird von vielen Forschern für ein Bildnis Hannibals gehalten. Es zeigt auf der Vorderseite einen nach links blickenden Mann im Profil; auf der Rückseite ist ein Kriegselefant dargestellt (Abb. 1). Politisch wäre es ein überaus sinnvoller Schachzug gewesen, sein Bild den Soldaten auf diese Art und Weise bekannt zu machen. Die hellenistische Herrscherpraxis bietet für eine solche Maßnahme zahlreiche Vorbilder. Auch wenn das Münzbild Hannibal darstellen sollte, so ist es kaum eine realistische Darstellung. Anders als Alexander der Große hat Hannibal unseres Wissens niemals ein offizielles Portrait in Auftrag gegeben. Und da die Römer ihn auf italischem Boden niemals schlagen konnten und bis zur Niederlage Hasdrubals im Jahr 207 keine Gelegenheit hatten, bei den Karthagern Beute zu machen, werden die meisten von ihnen nicht die geringste Vorstellung vom Aussehen des Mannes gehabt haben, den sie mehr als alle anderen fürchteten, auch wenn vereinzelte Münzen in ihre Hände gelangt sein sollten.
Abb. 1 Silber-Schekel aus Karthago, geprägt um 230 v. Chr. Das Münzbild auf der Vorderseite stellt vermutlich den Gott Melkart dar, das karthagische Äquivalent zum römischen Herkules. Es wurde vermutet, das Porträt zeige Hannibal als Melkart, aber dafür gibt es keinen Beweis: Wir besitzen kein authentisches Bild Hannibals. Auf der Rückseite ist ein Kriegselefant abgebildet. British Museum, London.
Auch über einen Marmorkopf des Archäologischen Museums von Neapel, der 1667 in der Nähe Capuas gefunden worden sein soll (Abb. 2), lässt sich nur vermuten, dass dieser Hannibal darstellt. Die Annahme beruht zum Teil auf der Situation des Fundorts (Capua lief im Laufe des Zweiten Punischen Krieges zu Hannibal über) und zum Teil auf der besonderen Darstellung des Helmes. Doch besteht der Verdacht einer Herstellung wesentlich jüngeren Datums in der Renaissance. Sollte er sich dennoch als antik herausstellen und Hannibal darstellen, muss man jedoch aufgrund des Stils von einer Ausarbeitung gut hundert Jahre nach seinem Tod ausgehen. Seine Züge sind also wieder frei erfunden. Nach diesen Vorbemerkungen können wir festhalten, dass die nachdenklichen Augen und der verschlossene Eindruck des Gesichts eine gute Vorstellung des Feldherrn vermitteln: die wunderbare Darstellung eines Mannes, der sein hehres Lebensziel letztlich, trotz aller Anstrengungen, nicht erreichen konnte. Und da wir über keine bessere Alternative verfügen, so muss eben dieser Kopf, der auf einer, in einem römischen Militärmantel gekleideten Büste, aufgesetzt ist, für zahlreiche Bibliografien als Titelbild herhalten.
Abb. 2 Ein authentisches Porträt Hannibals ist leider nicht überliefert. Die Marmorbüste in Neapel, deren Datierung nicht gesichert ist, zeigt einen Unbekannten mit Helm und Mantel. Neapel, Museo Archeologico Nazionale.
Ebenso wenig wie über sein Gesicht wissen wir über seine Statur und seinen Körperbau Bescheid, auch wenn er sicherlich über eine überaus robuste Gesundheit verfüge, da er jahrelang und ununterbrochen die unbarmherzigen Bedingungen des Heerlagers in fremden Ländern überlebte. 219 zog er sich in Spanien eine schwere Verletzung am Oberschenkel zu, dem folgte eine weitere Kriegsverletzung zwei Jahre später (Livius 21,7,10; 57,8). Weitere Wunden und Narben sind bei einem so furchtlosen Soldaten anzunehmen. Soweit wir wissen, blieb er bis zum Ende seines Lebens körperlich und geistig fit, auch wenn er eventuell angesichts des steilen Absturzes in eine pessimistische Sichtweise verfiel. Man mag sich wundern, wie er dennoch bis zuletzt klarsichtig blieb.
Hannibal hatte drei ältere Schwestern. Das Altertum verschweigt uns ihre Namen. Er hatte auch zwei jüngere Brüder, Hasdrubal und Mago, die vermutlich in den Jahren 244 und 240 geboren wurden. Und ein weiteres Familienmitglied muss erwähnt werden: Hanno, Sohn Bomilcars, Hannibals Neffe, der ihn nach Italien begleitete. Der Einfluss des Vaters auf alle drei Söhne kann nicht überschätzt werden. Valerius Maximus (9,3 ext. 2) verzeichnet folgende Äußerung, »Diese drei Löwen ziehe ich zur Zerstörung Roms auf«. Und auch Nepos merkt an, dass das hauptsächliche Vermächtnis des Vaters an die Söhne im Hass auf Rom bestand (Hannibal 1,3). Dies zeige sich in dem berühmten Schwur, den Hamilkar seinem Sohn am Altar Ba’als abnahm, bevor er ihn mit sich nach Spanien ziehen ließ. In Nepos’ Worten gelobte Hannibal, »niemals mit den Römern ein Freundschaftsbündnis« einzugehen. Dieser Hass kochte in seinen Adern und lebte auch nach der Niederlage von Zama noch unvermindert fort. Sowohl nach Polybius (3,11) als auch nach Nepos (Hannibal 1,2–6) hat Hannibal selbst dem Seleukidenkönig Antiochus III. von diesem Schwur berichtet, um nach seiner Flucht aus Karthago im Jahr 195 zu unterstreichen, warum er den Kampf gegen Rom unbedingt wieder aufnehmen müsse. Die Anekdote schien den König zu überzeugen, da er Hannibal in seine Dienste nahm. Laut Nepos habe Hannibal eher seine Seele (anima) verkauft, als seinem Hass auf Rom abgeschworen. Und die Seele war dem antiken Menschen kaum weniger teuer, als dem modernen.
Hannibal verbrachte den Großteil seines Lebens fern der Heimat. Vielleicht kehrte er in jungen Jahren kurzfristig nach Afrika zurück, doch wissen wir hierüber nichts. War dem nicht so, war er über 35 Jahre seinem Karthago fern – das ist mehr als die Hälfte seines Lebens. Die Rückkehr nach Afrika muss in ihm einen Kulturschock ausgelöst haben. Denn ich würde vermuten, dass er in den langen Jahren seiner Abwesenheit ein Idealbild Karthagos mit sich getragen hat, dem die Stadt realiter nicht gerecht werden konnte. In der Stadt hatte er einige politische Kontakte, aber kaum enge Verbündete. Er war im wahrsten Sinne ein Fremder in einem fremden Land, ein Fremdkörper in einer karthagischen Gesellschaft, die nicht die seine war.
Unter seinen innenpolitischen Feinden tat sich besonders Hanno (›der Große‹, wohl ein Familienname) hervor, Anführer der Anti-Barkiden-Faktion, die seine Ernennung zum Heerführer für Hispanien im Jahr 221 verhindern wollte. Nach Livius lebte Hanno auch 203 noch, doch mag das bezweifelt werden (30,20,4). Hanno blockierte wiederholt Beschlüsse im Senat, um dem Feldherrn Verstärkung zukommen zu lassen. Damit war er, in den Augen Hannibals, zu einem guten Teil verantwortlich für das Fehlschlagen des Italienfeldzugs. War Hannos Widerstand auch in erster Linie durch pragmatische politische Erwägungen bedingt, so werden auch Familienzwistigkeiten eine Rolle gespielt haben. So bezeichnete er etwa Hannibals Vater als Kinderschänder (Livius 21,3,4).
Die besten Jahre in Hannibals Leben waren wohl die zwischen 218 und 216, als er sich kurz davor befand, Rom in die Knie zu zwingen. Er war kaum dreißig und sollte noch gut 35 Jahre seines Lebens vor sich haben. In den ›Jahren in der Wildnis‹ zwischen 216 und 203 werden seine physischen und mentalen Fähigkeiten bis aufs Äußerste strapaziert worden sein. Als er Italien verlassen musste, hatte er beide Brüder verloren. Vielleicht gab es zu diesem Zeitpunkt niemanden mehr, dem er trauen konnte.
Es ist Hannibal hoch anzurechnen, dass er sich seinen Kritikern nach der Niederlage von Zama stellte. Ebenso verdient er großes Lob für seine Bemühungen, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme Karthagos nach Ende des Krieges lösen zu wollen. Vielleicht hätte sich sogar sein Kriegsglück wieder eingestellt, hätten sich seine innenpolitischen Feinde nicht mit den Römern verbündet. Im Exil nahm er den Faden dort wieder auf, wo er ihm vor Zama aus der Hand gerissen worden war – im tödlichen und unnachgiebigen Kampf gegen die Römer. Das war vielleicht der einzige Sinn, den er seinem Leben noch geben konnte. Schließlich beendete er sein Leben durch die eigene, kriegserprobte Hand im hohen Alter von 62 oder 63 Jahren. Der Selbstmord war ohne Frage dem erniedrigenden Spektakel vorzuziehen, als Gefangener im römischen Triumphzug präsentiert zu werden, bevor er in Roms unterirdischen Gefängnissen vor sich hinsiechen würde – ein Schicksal, wie es Caesars gallischen Gegner Vercingetorix erwarten sollte. Im gleichen Jahr soll auch Scipio gestorben sein, der nun nach dem Sieg vor Zama den Ehrentitel Africanus trug (Polybius 23,12–14; Livius 39,50,10–11; Abb. 4, S. 100). Das mag Zufall sein, doch hatten antike Schriftsteller große Freude an derartigen, wenn auch erfundenen Synchronismen.
Hannibal war, um ein vielbeanspruchtes Bild zu bedienen, eine Naturgewalt, ein Mann, den kein Sturm umwarf, ein Krieger durch und durch. Und doch steht sein Leben in den Geschichtsbüchern als Beispiel grandiosen Versagens und sie sprechen eloquent von dem atemberaubenden Missverhältnis zwischen menschlichem Bemühen und menschlicher Leistung. Er steht als warnendes Beispiel für alle, die große Träume haben und das Unmögliche zu leisten suchen.
Es wäre eine unglaublich große Ehre gewesen, ihn kennenzulernen.