Читать книгу Radanika. Die Gefangene des Urwalds - Robert Heymann - Страница 11
7.
ОглавлениеEine Weile liegt Radanika still, betäubt von dem Sturz. Sie hat das Gefühl, als sei eben ein Laut erloschen, wie eine Sternschnuppe, die über den Himmel gefahren, ein Laut, der noch in ihren Ohren nachklingt.
Die Stille ist schwer.
Eiseskälte steigt aus der Erde.
Sie bewegt die müden Glieder. Allmählich kehrt ihre Besinnung zurück. Sie findet sich eingebunden in den Sack und fühlt die schmerzenden Stricke an den Gelenken. Ein verächtliches Lächeln gleitet über ihre Lippen in dem engen Gefängnis von Palmfasern und Wollstoff.
Sie bringt die Gelenke in die Höhe ihrer Lippen und schiebt die Fesseln zwischen ihre starken Zähne. Diese Zähne, machtvoll und weiss, die kraftvollen Kiefer in diesem zarten Mädchenmund erinnern an die Pracht eines Raubtiergebisses. Mit Leichtigkeit durchbeisst sie die Stricke und zerreisst den Sack. Sie ist frei.
Frei in einem undurchdringlichen Gewölbe von Kälte und Finsternis.
Horch! Da beginnt von neuem die Stimme, die in ihre halbe Bewusstlosigkeit noch nachgeklungen hatte. Radanika kauert auf den Knien und lauscht atemlos.
Ein Mann singt. Ein knarrendes, ächzendes Geräusch begleitet seinen monotonen Gesang. Ein Rad wird gedreht, das in verrosteten Gewinden hängt und dessen Speichen knarren. Schauerlich klingt dazu das Lied einer Stimme, fernher, leise, immer im gleichen Rhythmus, voll erdrückender Traurigkeit, ein Lied ohne Hoffnung, ein Lied ohne Licht. Der Instinkt sagt Radanika, dass jenseits der Mauer ein Mensch ist, gefangen gleich ihr.
Sie ruft in der Drawidasprache:
„Lebender, du, hinter der Mauer! Was singst du?“
Das unheimliche Geräusch hört auf. Es ist, als lauschen das tote Ding und der Mann gleichzeitig auf die seltsamen Laute aus lebendem Munde. Doch keine Antwort kommt.
Das Lied tönt wieder. Das Ächzen setzt sich fort. Radanika wiederholt ihre Frage in fast dialektfreiem Sanskrit, in jener Ursprache der Arier, die in den meisten Gebieten des nördlichen Indiens gesprochen wird. Der Einsiedler war ihr Lehrer, ebenso wie im Gutscharati, der Sprache des Handels. — Keine Antwort! Doch der Mensch hinter der Mauer horcht auf. Da, von irgendwoher, von oben, ein zorniger Ruf.
Das Ächzen beginnt wieder, wieder das klagende Lied. Radanika rezitiert langsam und feierlich einen Rik aus einem der 1028 Sukta der Rig-Veda, einen Vers aus dem Schöpfungslied:
„Damals war nicht Unsterblichkeit noch Tod,
Und ungeschieden von den Nächten war der Tag.
Nur einer atmet ohne fremden Hauch: Ein Gott.
Da war kein Ding, das über diesem lag — —“
Und siehe! Siehe! Höre, Ohr! — Radanika lauscht voll Entzücken und Bewunderung, denn nur der Einsiedler, glaubte sie bisher, kennt die Geheimnisse dieses ur-uralten Liedes. Von jenseits der Mauern kommt Antwort:
„Wie ward die Schöpfung, als sie einst vollbracht?
War sie geschaffen?
Ward von selbst das Licht?
Das weiss nur der, des Auge sie bewacht.
Im Himmel. — Oder weiss auch Gottes nicht?“
Stille folgt.
Wieder knarrt das tote Ding.
Tiefes Mitleid erfasst Radanika. Ein Mensch leidet.
Eine Kreatur trägt Schmerz und Gram!
Ihr Auge sieht in der Finsternis eine riesige Mauer.
Sie horcht.
„Fremdling! Wer bist du? — Was tust du?“
Da antwortet eine müde Stimme, während das Geräusch sich fortsetzt:
„Ich trete!“
„Du trittst? Wie soll ich das verstehen, Fremder?“
„Ich trete das Rad der Zeit!“
„Das Rad der Zeit?“ wiederholt Radanika und sinnt den Worten nach. „Zeit .. was ist das?“
Da sagt die tiefe Stimme:
„Die Zeit ist alles. Die Zeit ist ein Strick, an den ich gebunden bin. Sie schleift mich durch die unendliche Nacht. Ich höre nicht, ich sehe nicht. Ich bin gebunden an die Zeit und trete!“
„Was trittst du, Fremder?“
„Ich trete das Schöpfrad der Zeit, Mädchen!“
„Das Schöpfrad der Zeit“, sagt Radanika leise. Vor ihr Auge tritt ein Bild, das sie oftmals vom Rande der Tarai aus gesehen hat. Armselige Menschen sah sie sich mühen, ohne zu begreifen, warum sie sich mühten.
Denn es war unnötig. Alles gab die Natur.
Sie hat Menschen gesehen, die traten ein Rad. Und das Rad ging in die Tiefe der Erde. Es trug viele Gefässe. Sooft ein Gefäss wieder aus der Erde tauchte, da war es voll Wasser, das es emportrug. Der Einsiedler hatte auf ihre Frage geantwortet: „Die Menschen schöpfen Wasser!“
„Trittst du ein Schöpfrad, um Wasser zu fördern?“ fragt sie.
„Ja, ja, ich trete das Schöpfrad!“ ist die Antwort, und das Rad ächzt.
„Leidest du Durst? Hast du kein Wasser?“
„Ich leide nicht Durst! Ich trete das Rad des Radschas!“
„Das Rad des Radschas? Warum tritt er es nicht selbst?“
„O Kind! Du Kind! Er tritt es nicht selbst, er wird es niemals treten. Denn dieses Rad ist die Zeit, und solange es sich dreht, gibt es Schande und Unrecht und Treulosigkeit in der Welt!“
„Ich verstehe dich nicht. Du sprichst so klug wie der Yoghi, und doch sprichst du Dinge voll Traurigkeit. Ich habe vorher nicht gewusst, dass Schlechtigkeit unter den Menschen ist. Die Menschen, Fremder, sind böse. Der Radscha ist sündig. Warum also trittst du das Rad, das dem Radscha Wasser bringt?“
„Weil ich sein Sklave bin!“
„Sklave? Was ist das?“
„Du weisst nicht, was ein Sklave ist? Mädchen, bist du keine Sklavin? Wer bist du denn?“
„Ich bin Radanika, das Kind der Leopardenmemmsahib. Die Menschen haben mich gefangen.“
Eine Weile setzt das Rad aus, und der Mann hinter der Mauer schweigt, als denke er nach. Dann antwortet seine Stimme:
„Ein Sklave, Kind, ist, wer das Unglück hat, in die Hand eines Mächtigeren zu fallen. Ich bin in des Radschas Hand geraten.“
„Warum hast du ihn nicht getötet?“
„Warum hast du ihn nicht getötet?“
Radanika schweigt.
„Siehst du, Kind! Ich wollte ihn töten!“
„Warum befreist du dich nicht?“
„Ich bin schwach. Ich bin mit Ketten an das Rad gebunden!“
„Seit gestern, Fremder?“
„Seit gestern? Unschuld du! — Jahre ... Jahrhunderte! ... Ein Menschenleben ...“
„Ich verstehe dich nicht!“
„Du verstehst mich nicht? Wohl dir, Mädchen, dass du mich nicht verstehst!“
„So sage mir, wer du bist, Fremder!“
„Wer ich bin? Was tut es?
Einstmals war ich ein Mensch. Ein glücklicher Mensch. Seit unendlicher Zeit bin ich ein Sklave am Schöpfrad der Zeit!“
Das Rad ächzt.
Die Stimme fährt fort:
„Kind, ich kenne dein Schicksal. Die wilden Tiere werden dich zerreissen. Trotzdem: Wohl dir, Kind, dass du nicht an das Rad der Zeit gebunden bist! Du stirbst, ich trete. Ich trete in alle Ewigkeit!“
Das Rad ächzt.
Eine zornige Stimme schallt.
Peitschenschläge klatschen. Ein dumpfes Stöhnen folgt.
Schneller ächzt das Rad.