Читать книгу Radanika. Die Gefangene des Urwalds - Robert Heymann - Страница 9

5.

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Die beiden Engländer sitzen auf der Terrasse des Regierungsgebäudes. Die Nacht naht, ein kühler Wind weht schon von den Bergen.

Die grauen Augen des alten Kolonialbeamten wandern in unbestimmte Fernen. Dort unten, am Fusse der Höhe, rollt der Fluss vorüber. An seinem Rande schwemmen graue Büffel schwerfällig Glut und Schmutz des Tages ab. Die grünen Triebe der Reisfelder lugen aus dem Wasser.

Dahinter beginnt das Tal des Todes, das Tal des Fiebers: die Dschungeln.

Sir Marshall wendet langsam den Kopf. Aus dem Urwald kommt ein Ruf, ein Schrei, der das Herz erbeben lässt, eine langgezogene Klage, das letzte Aufbäumen eines Lebens in Todesqual. Dann wird es wieder still.

Ein Elefant trottet unten an der Strasse vorüber. Bandikarren ächzen.

Der Colonel sitzt mit gesenktem Kopf, der Brand an seiner Zigarette eilt, von hastigen Zügen genährt, ruckartig voran.

„Dieser Barbar!“ stösst er hervor. „Dieser — ein Radscha? Ein Fürst? In Ketten möchte ich ihn nach Bombay schleppen!“

Er atmet schnell, seine Augen sind dunkel, sein Herz pocht unnatürlich hart und schwer.

Sir Marshall zuckt die Achseln.

„Was wissen wir von den anderen? Was wir sehen und was unsere Spione uns melden. Die belügen uns. Mögen sie uns auch noch so demütig Sahib und Sirdar nennen. Die Demut ist ihre Religion, sie bedeutet nicht Unterwerfung.

Ihre Kinder aber lernen schon, der Europäer sei mit dem bösen Blick behaftet, sie fürchten ihn wie den Verwachsenen und verachten ihn zugleich wie jene menschlichen Dämonen, denen sie Salatstrünke an den Kopf werfen, wenn sie ihnen den Rücken kehren. Naht ein Europäer einem Lingwamtragenden, so wirft der seine Speisen vor die Hunde, denn unrein ist selbst der Schatten des weissen Mannes. Die Höflichkeit ist des Inders Waffe, verderblicher und gefährlicher als alle unsere Gewehre.“

„Um so mehr müsste England auf der Hut sein! England beachtet die Zeichen zu wenig. Gerade an Einzelbeispielen müsste Britannien zeigen, dass es mit eiserner Kraft bereit ist, Auflehnungen niederzuhalten.“

Der Resident lächelt nachsichtig.

„Wir hätten nicht die Macht, dieses Volk zu bändigen, wenn es sich, beleidigt durch Übergriffe, einig erheben würde. Von Russland her fliessen die unterirdischen Ströme gefährlicher Ideen. Düstere Schatten fliegen den Erscheinungen voraus, die ich kommen ahne. Nein, wir müssen alles vermeiden, William, dieses Volk in seinem Lande zu beleidigen. Und was den Radscha betrifft: Wir haben kein Recht, in seine Häuslichkeit einzugreifen — und ich habe auch gar nicht die Macht dazu.“

„Aber dieses Kind“, stammelt William wieder. „Dieses blühende Kind! Diese rätselhafte Menschenblume!“ Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, Widerspruch oder Wiederholungen mit Schärfe abzuschneiden, schweigt Sir Marshall. Dieses Schweigen lastet auf den Männern. Sie achten nicht darauf, dass der weissgekleidete eingeborene Diener den Tisch deckt. Sie hängen ihren Gedanken nach.

Plötzlich sagt Sir Marshall unvermittelt, leise, zu sich selbst:

„Seit ich hier bin, muss ich immer an das Schicksal meines armen Bruders Eduard denken.“

William senkt den Kopf und blickt zu Boden. Der andere fährt fort. „Auch er wusste nichts von den Kräften und Gewalten, die dieses Land beherrschen. Jung und froh zog er mit seinem Zirkus durch Dschungeln und Städte und stieg die Berge hinan, ohne zu ahnen, welch furchtbares Schicksal neben ihm ging. Bis es zugriff. Keiner weiss, wie es geschehen.“

„Zirkus?“ stammelt der Colonel fassungslos. „Zirkus?“

„Ja. So bin auch ich einmal erschrocken. Bis ich Viktoria sah. Die Schulreiterin Viktoria. Arme, arme Viktoria!“

Der alternde Mann wechselt die Farbe. „Unvergesslich bleibt mir, wie sie in himmelblauer Seide, das blonde Haar im Nacken, auf den Ball der Oxforder Studenten ging. Sie war ja nun schon die Gattin meines Bruders, eines Viscount Marshall. Aber das Zirkusblut schwieg nicht. Mein Bruder liebte sie, wie man nur eine Frau mit solchen Gaben lieben kann. Sie war keine Zirkusreiterin. Sie war die letzte Amazone unserer Zeit. Sie war die vollendetste Künstlerin im Sattel. — Sie verliessen mit einem Zirkus England, wo man diese Heirat immer missgünstig beurteilte. Jahre blieben sie fort, dann kamen sie wieder und liessen Mary, ihre Älteste, hier, um wieder auf Reisen zu gehen. Diesmal nach Indien, in den Tod!“

Der Neffe legt plötzlich seine Hand auf die des Oheims.

„Verzeih! Ich dachte nicht daran, dass ich dir weh tun könnte.“

Der Resident hält die Hand des Neffen fest. „Es ist die Erinnerung! Sie fasst mich an wie ein Fieberschauer.“

William nickt. Sagt leise: „Du hast sie geliebt. Deines Bruders Frau. Ich weiss es. Alle wissen es.“

Der Onkel sieht ihn schnell und scheu an.

„Still, nichts davon!“ sagt er. Seine Stimme klingt zu einem Flüstern herab. Doch plötzlich tut er einen tiefen Atemzug. Er sieht sich um. Kein Diener ist in der Nähe. Dann beugt er sich zu seinem Neffen. „William“, beginnt er, von neuem die Hand des Offiziers ergreifend, „mein lieber, guter Junge, es ist meine Pflicht, dir einmal die Geschichte dieser deiner Tante Viktoria zu erzählen. Die Geschichte der wunderschönen Viktoria und des Viscount Marshall ... meines Bruders.“

„Es wird dich zu sehr erregen“, sagt William leise.

„Nein, es erregt mich nicht mehr als der Gedanke daran, und du musst alles wissen, denn vielleicht bin ich bald nicht mehr hier, und dann ...“

„Onkel!“ Der Colonel lacht gezwungen. „Du denkst doch nicht ans Sterben? Du, der so viele Gefahren überstanden hat!“

Der Resident fährt fort, ohne auf den Zwischenruf zu achten: „Ich habe damals, als das Drama an der burmanischen Grenze geschah, ein Gesicht gehabt. Und in den letzten Wochen hatte ich es wieder.“

„Was für ein Gesicht, Onkel?“

„Ich sah Viktoria im weissen Totenkleid ... damals ... und jetzt nochmals. Damals rang sie verzweifelt die Hände, aber sie sprach kein Wort. Und ich wusste doch, dass sie lebte, dass sie mit Eduard an der Grenze Nepals weilte. Als ich schweissgebadet erwachte, da hatte ich das klare Gefühl, dass sie in Gefahr schwebte, und bald darauf kamen die unklaren, erschütternden Nachrichten: der Zirkus verschollen — alle tot!“ Er schweigt, dann spricht er leise weiter: „Diesmal sah ich sie wieder. Aber ihr Antlitz ist friedlich geworden. Ihre Augen sind geschlossen, doch ich sehe ihren ruhigen Blick mit unendlich zärtlichem Ausdruck auf mich gerichtet! ... O, William! ... Wenn sie das drittemal erscheinen wird, werde ich sterben!“

Der Colonel presst die Hand des sonst so rauhen, wortkargen Mannes an seine Brust.

Lange herrscht Schweigen.

Die Diener sind wohlerzogen. Sie haben mit feinem Instinkt begriffen, dass ihre Anwesenheit nicht erwünscht ist. Die Männer sind ganz allein. Der Himmel ist voller Sterne. Die Nacht hat ihr Dunkel über die Erde gesenkt. Schwärme von Glühwürmchen ziehen wie kleine Sternschnuppen durch die Büsche. Die Luft ist betäubend. Ströme von Duft atmen die wilden Sympetalen.

Der Colonel wagt kein Wort in die Stille. — Ein Schakal heult in ungewisser Ferne.

Radanika. Die Gefangene des Urwalds

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