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4.

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Aber kurz vor Geschäftsschluß, dreiviertel sieben — der Chef sitzt drüben bei Siechen, Madame Loup arbeitet, und Lotte färbt sich umständlich die Lippen — kommt ein Brief.

Ein Bote gibt ihn ab: „Für Fräulein Ussi.“

Ussi nimmt ihn. Feines schweres Briefpapier. Sie dreht ihn unschlüssig zwischen den Fingern. Lotte malt eifrig weiter.

„Der geht mich nichts an“, sagt Ussi. Aber der Bote ist schon wieder draußen.

„Mach’ ihn doch auf“, sagt Lotte, ohne sich umzudrehen. „Gott, hab’ dich doch nicht immer so! Man könnte reinweg glauben, du wartest darauf, in ein adeliges Fräuleinstift aufgenommen zu werden. Der Flimmerfritze hat ihn geschickt! Das kann man doch riechen!“

Zögernd öffnet Ussi den Brief und liest. Lotte hält den Spiegel so, daß sie die Freundin beobachten kann. Ussi wird sehr rot, und einmal streicht sie sich während des Lesens erregt ein paar widerspenstige Locken aus der Stirne.

„Sehr geehrtes Fräulein!

Sie sind mir böse! Warum? Weil ich zuerst gedacht habe, Sie seien wie die andern? Die andern haben mich verwöhnt, und im allgemeinen sind junge Mädchen heutzutage, das wissen Sie selbst, zugänglicher als Sie. Ich weiß jetzt, daß Sie eine Dame sind, und ich verspreche Ihnen, Sie als solche zu behandeln. Aber soll sich eine junge Dame nicht amüsieren dürfen? Ist das ein Dasein, den ganzen Tag eingesperrt zu sein und am Abend vor lauter Ehrpußlichkeit das bißchen Leben, das da lockt, zu versäumen? Also darf ich Sie heute abholen? Wir essen fein zu Abend, dann gehen wir tanzen, und dann, parole d’honneur, dann bringe ich Sie vor Ihr Haus. Also, ich warte Punkt sieben einige Schritte vom Geschäft entfernt, gegen den Wittenbergplatz zu.

Küß’ die Hand respektvollst

Curt Heinrich Vogel.“

„Na?“ sagt Lotte.

Ussi knittert an dem Brief herum.

„Was heißt das eigentlich: ‚Parole donnheur‘?“

„Das kann ich nicht verstehen, und bestimmt spricht man es anders aus. Laß mich lesen.“

„Den ganzen Brief? Ausgeschlossen!“

„Ich bin doch nicht indiskret. Im übrigen interessiert mich das auch nicht.“

„Aber ich will wissen, was parole donnheuer heißt.“

Trotzig reicht Ussi der Freundin den Brief.

„Wo steht das, süßes Gänschen?“

„Du bist unausstehlich! Lies den Brief. Mir ist es egal, ich geh’ doch nicht mit ihm!“

Lotte liest, zieht die Brauen hoch und spitzt den Mund, als ob sie irgendeinem einen Kuß geben wollte.

„Der ist richtig, Ussi.“

„Was heißt das?“

„Das heißt, daß ich an deiner Stelle es mit ihm versuchen würde. Er hält sich für sehr gescheit, weil er etwas Bildung hat, und er denkt, er kennt die Frauen, weil die, und darin hat er recht, auf jeden Schmus hereinfallen. Immer wieder, weißt du! Und wenn eine schon dreimal verunglückt ist, wenn einer nur den rechten Schmus am Leibe hat, fällt sie totsicher auch das vierte Mal herein!“

„Das glaube ich nicht“, antwortet Ussi mit ihrem hochmütigen Lächeln.

„Nicht? — Na, du hast doch heute Abend was vor, sonst wärst du mit diesem Brief schon durch die heiligen Hallen von Dietrich Jonas getanzt. Also auf den Unbekannten, zu dem du heute Abend angeblich gehen willst, bist du doch schon ’reingefallen.“

„Gar nicht. Das ist eine Jugendliebe.“

„Jugendliebe ist ein absoluter Luxus. Jugendlieben sind immer irgendwie anrüchig. Das schmeckt nach Silbermond und Sentimentalität. So was leistet man sich nicht. Du gehst heute mit Curt Heinrich Vogel aus. Die Jugendliebe wird sich trösten. Die jungen Männer heute sind nicht so. Und dem Herrn Vogel zeigst du, was ’ne Harke ist. Unnahbar, verstehste? Zehn Schritt vom Leibe! Und kein Wort von der Fruchtstraße. Wenn er dich fragt, dann tu’ nicht etwa wie Lohengrin. Mach’ es wie die Filmstars. Sag’, deine Mutter wär ’ne flüchtige Adelige aus Kurland oder Lettland. Sag’, du wärst ’ne ehemalige russische Prinzessin, mindestens Gräfin — jetzt, wo halb Rußland unterwegs ist, prüft kein Mensch dergleichen nach. Später, wenn er dich heiratet, gibt sich die Wahrheit von alleine. Und im übrigen sind Pseudonyme gestattet.“

Ussi steht da und starrt die Freundin mit hochrotem Gesicht an. Ein reines Wunderland tut sich da vor ihr auf. Wie ein Filmstar — russische Gräfin — unerreichbare Ziele! „Und das kann man so einfach hinlügen?“

„Klar, du Kücken! Wenn du die Männer nicht anlügst, lügen sie eben dich an!“

„Aber das kommt doch mal auf! Das ist doch Betrug!“

„Betrug? Was heißt da schon Betrug? Wer betrügt heute nicht? Die Ehrlichkeit ist von der Inflation überholt, Liebling! Und dann merk’ dir eines: die Männer wollen betrogen sein. Nein, sag’ nichts! Wenn du nicht nach dem Rezept handelst, dann wirst du alt und grau als Angestellte, und wenn du erst mal nicht mehr nett aussiehst — na, da brauche ich dir nichts zu sagen. Der Chef wird dich nicht mehr anlächeln, und die Chefs, die nicht anlächeln, engagieren auch nicht. Anständigkeit ist sehr schön, aber du kriegst bei keinem Bäcker dafür ’n Stück Brot. Die Männer, sage ich dir, sind glücklich, wenn man ihnen gerade das sagt, was sie hören wollen. Und dieser Herr Vogel will nicht etwa noch so einen simplen Vogel haben, den hat er ja selber schon. Ne, Äffchen! Ne Prinzessin! Jotte doch, die sind ja heute schon so billig. Eine ganz echte Prinzessin ist in Paris Hausdame bei irgend ’nem reichen Industriellen, und der Sohn vom Erzherzog Salvator, habe ich gelesen, ist Chauffeur. Ehemalige russische Generale sind Straßenhändler. Warum soll man nicht mal umgekehrt lügen? Mach’ dich nicht lächerlich!“

„Aber ich kann ja gar nicht russisch.“

„Na, denkste er kann russisch?“

„Aber er wird mich doch ausfragen ...“

„Was kann er dich schon ausfragen! Ob du am Zarenhof gewesen bist? Sagste ja, und es war sehr vornehm, und die Zarin war eine wunderschöne Frau, und du bist sicher, daß die flüchtige Anastasia die echte Anastasia ist. Und im übrigen bist du über das Schloß deiner Eltern nicht weit hinausgekommen, die Bolschewiki haben es zerstört, du bist geflüchtet, die Ruinen blieben zurück, die Mutter ist vor Gram gestorben, der Vater ist Kosakenoffizier bei den Mongolen oder Chinesen geworden. Aus! Es schlägt sieben. Ich geh’ nach Hause.“

„Aber sag mir doch bloß noch schnell, was Parole ...“

„Ach so! Also Parole d’honneur heißt auf Ehrenwort. Er gibt sein Ehrenwort, daß er sehr anständig sein wird. Das heißt, sei vorsichtig, laß dich auf nichts ein. Die Männer halten ihr Ehrenwort nur den Männern gegenüber. Bei uns reden sie sich auf force majeur heraus!“

„Was ist nun das wieder?“ Ussi setzt mit einem Ruck das kokette Hütchen auf den Kopf. Sie steht vor dem großen Spiegel im Hintergrund des Ladens und mustert mit herabgezogenen Mundwinkeln ihren Mantel.

„Unmöglich! Ich hab’ ja nichts anzuziehen! So geh’ ich nicht!“

Lotte schaut sie prüfend an, dann schlüpft sie resolut aus dem kleinen schicken Pelzjäckchen, das Mutter ihr geschneidert hat.

„Hier! Trag das! Am Montag bringst du mir’s wieder. Daß du nicht in Abendtoilette bist, muß er verstehen. Du hast doch nicht erwartet — — — und wenn er dich vorher nach Hause fahren will, dann sag’, das ginge nicht, Mutter würde dich nicht mehr fortlassen.“

„Aber meine russische Mutter, sagtest du eben, ist doch tot!“

„Stimmt! Natürlich, die darf nicht leben! Also, dann verzichte lieber auf das Tanzen! Vielleicht kauft er noch schnell ein Kostüm für dich — es ist ja alles egal! Hauptsache, er heiratet dich!“

„Heiraten“, stottert Ussi entgeistert. Sie wird abwechselnd blaß und rot. Wie ein Kaleidoskop schwirren die Ideen und Möglichkeiten um sie herum. Sie kommt gar nicht zum Denken.

„Natürlich. Nur heiraten! Und alles, was er sich wünschen kann, erst nach dem Gang zum Altar. Probeehe und so, das ist sehr schön in Romanen und für reiche Damen, bei denen es nicht so darauf ankommt. Du bist kalt wie Herrn Gunthers Gattin, und ’n Siegfried wird er sich nicht holen, um dich ’rumzukriegen.“

„Ich kenne den Herrn Gunther nicht — — — und wer ist Siegfried?“

„Ich schließe, meine Damen“, sagt Madame Loup, die aus dem Hinterzimmer tritt. Sie trägt ein großes Schlüsselbund, der Ladendiener folgt ihr auf dem Fuße, der Wächter kommt schon langsamen Schrittes durch die dunkle Straße, die freilich noch voll Menschen ist. Aber überall rollen die Sicherheitsläden herunter, die Verkäuferinnen quirlen durch die Menge.

Ussi eilt mit flüchtigem Gruß hinaus und reißt Herrn Jonas beinahe um.

„Nanu? Nanu? So eilig?“

„Verzeihung, Herr Jonas ...“

Weg ist sie ... linker Hand raus, um die Ecke, der Gedächtniskirche zu. Dieser Herr Vogel kriegt mich nicht, denkt sie. Ich muß Peter wiedersehen! Ich darf doch Peter das nicht antun!

Lotte hat Herrn Jonas zugelächelt, aber das Gesicht des Herrn Jonas ist eiskalt geblieben. „Kesse Range!“ Mit diesen Worten hat er das Scherengitter aus der Versenkung gezogen. — Lotte jagt rechter Hand um die Ecke, die Straße lang.

Da steht das rote Auto, Herr Vogel totschick, daneben. —

„Herr Vogel — Verzeihung — ich bin Ussis Freundin — da oben rennt sie ihrem Glück davon. Wenn sie sich beeilen ...“

Vogel folgt mit den Augen Lottes ausgestreckter Hand. Er sieht eben noch das bekannte Hütchen. Er eilt hinterher. Und gerade, als Ussi auf die andere Seite geht, zur Haltestelle der Straßenbahn, da holt er sie ein, zieht tief den Hut und sagt: „Aber gnädiges Fräulein! Das ist nicht schön von Ihnen! Was soll ich denn noch tun, um Sie umzustimmen? Können Sie sich denn gar nicht vorstellen, daß ich mich hilflos in Sie verliebt habe?“

Ussi bleibt stehen und schaut in seine dunklen, bettelnden Augen. Sie muß lachen, sie kann nicht anders. Wie ein Filmfeldherr nach verlorener Schlacht sieht er aus, und ohne es zu wissen, geht Ussi mit ihm zurück bis zu dem roten Auto.

Sie steigt ein. Ganz gegen ihren Entschluß steigt sie ein. Die Erinnerung an Peter versinkt in einem Potpourri: russische Prinzessin, Traualtar, rotlackiertes Auto, schmeichelnde Männerstimme. —

Herr Jonas entfernt sich von seinem Laden. Er hat Ussi mit Vogel zurückkommen sehen und schüttelt mißbilligend den Kopf.

„Da denkt man nun, man hat ’n anständiges Mädl im Laden, endlich mal, und schon geht sie los! Und mit wem? Ausgerechnet mit dem Herrn Vogel, dessen Bedarf wirklich gedeckt ist!“

Jeder Mann liebt Ursula

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