Читать книгу Die Narrentour der Liebe - Robert Heymann - Страница 5

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Es war Johannes unmöglich, Mie zu berühren. Dieser Artist, der seine kranke Sehnsucht zwischen Heiligenbildern und Legenden von Correggio, Fra Bartolommeo und Schwind, zwischen weichen, schimmernden und wollüstigen Stoffen und den pikanten Chansonetten Fragonards vergrub, liebte zum erstenmal, und da, der innersten Natur seiner Gauklerseele entsprechend, eine Heilige. Es war ihm gleichgültig, wer Mie war, wie sie sich gab und ob man ihn verlachte. Er, der auf seinen Wanderungen Rousseau und Goethe, Verlaine und sogar Tibull mit sich schleppte, war zu klug, um nicht über Mies weiteres Leben besorgt zu sein, um nicht zu befürchten, dass sie, erst einmal Weib, ihm verloren war.

Aber es war ein Bedürfnis seines Lebens und seiner Kunst, zu entsagen, wo andere genossen, so, wie er leiden musste, um zu leben.

Mie war von jener Nacht an eine zärtliche, anschmiegende und ergebene Geliebte, die nur scheu und furchtsam jede natürliche Berührung mit Pierrot vermied. So, wie er ihre Liebe geweckt, blieb sie und erfüllte den aufblühenden Kinderkörper mit dem Zauber einer ungewissen Wollust, einer unsicheren Sehnsucht, die sich so gab, wie Harlekin es wünschte. Indessen bekam Johannes den Zirkus alsbald satt. Seine seltsame Kunst kam um so weniger zur Geltung, als ein neuer Clown mit den abgedroschensten Witzen und einer verblüffenden Handfertigkeit das Publikum zu begeistern verstand. Der Harlekin fühlte, dass in ihm ein schon gestorbener Zug der Tragödie wiedergeboren wurde, dass er der Vater einer neuen Kleinkunst war, die noch nicht den rechten Boden und die praktische Wirkungsstätte gefunden.

Vorläufig war er aber noch nicht imstande, sich vom Drahtseil zu trennen. Er beredete Mie, mit ihm zusammen ein Engagement nach Wien anzunehmen. Sie war bereits seine Schülerin geworden und lernte willig und eifrig auf dem Drahtseil dieselben pittoresken Kunststücke ausführen, mit denen Johannes seine possierlichen Spässe einleitete. Zuerst war ihr der Zirkus als das Paradies erschienen, das auch ihr eine glänzende, schillernde Zukunft versprach. Die blonde Kunstreiterin aus Polen hatte es ihr angetan. Obgleich die Baronin von Padrozewsky sie gar nicht beachtete, war sie immer in ihrer Nähe. Eine unerklärliche Sympathie beherrschte sie für die elegante Reiterin, seitdem sie sie einmal in der Garderobe in Tränen überrascht hatte. Als sie aber erfuhr, dass die Polin, die die Mätresse eines reichen und vornehmen Wiener Aristokraten war, ihre Gunst zu gleicher Zeit an ihren Stallknecht verschenkte, da fühlte Mie einen Schwindel und einen bitteren Geschmack im Munde. Sie wollte nicht daran glauben, weil sie es nicht begriff. Jack, der Stallknecht, der seine Geliebte während ihrer Produktion keinen Moment aus den Augen liess und jede ihrer Bewegungen mit einem heisslauernden Blick verfolgte, war ein Neger von gemeiner Rasse, mit stumpfer, breitlaufender Nase und schmutzigen Pupillen, der bei jeder Gelegenheit die Harmonie seiner Muskulatur erprobte und bei seinen Kameraden ebenso gehasst wie gefürchtet war. Johannes sprach etwas von der Allmacht des Bizeps und machte gelegentlich eine spöttische Bemerkung, die Mie nur halb begriff. Aber seitdem sie diese unfassliche Entdeckung gemacht, begann sie sich vor der Welt, die sie umgab, zu fürchten. Die rohen Spässe der Stallknechte erschreckten sie jetzt, und schliesslich sah sie als Symbol dieses Paradieses nur mehr die Peitsche, die abends im Lichterglanz paradierte und bei den Proben schmerzhaft genug auf manchen jungen, gekrümmten Artistenrücken niederfuhr. Sie wurde Zeuge der Misshandlungen und Schmerzen unter denen, die zu diesen halsbrecherischen Künsten erzogen wurden, um abends ein gedankenloses Publikum zu entzücken. Sie hasste Vater Selterini, der eine italienische Springertruppe führte, so leidenschaftlich, dass sie nur zitternd und mit heissen, nassen Augen die Proben verfolgen konnte, wenn er seine Söhne, angekaufte Sklaven der Armut, mit dem Stock peinigte, bis der letzte Odem der Todesfurcht ihren trockenen Lippen entfloh.

Johannes war ihr ein milder und gerechter Lehrer.

„Es geht auch so“, sagte er lächelnd, wenn er sie mit unermüdlicher Geduld immer wieder zu einer schwierigen Übung antrieb. „Die Artisten sind unvernünftige Leute. Hunde, die man dressieren will, darf man nicht schlagen. Die Menschen aber behandeln sich unvernünftiger als die Tiere.“

Endlich war Mie so weit, dass sie von Pierrot in sein Programm eingereiht werden konnte. Johannes löste seinen Kontrakt und reiste mit ihr nach Wien, um im Zirkus Avanti ein Gastspiel zu geben.

Einige Tage ging alles vortrefflich. Mie eignete sich im Fluge die Technik ihres Lehrers an, weil sie ihn liebte.

Sie schliefen zusammen in einem Hotel, Zimmer an Zimmer. Aber noch behielt ihre Freundschaft die gleiche Form wie am ersten Tage. Mie war es zufrieden, dachte wohl auch kaum weiter darüber nach, bis sie eines Abends, in einer Pause, in der sie im Foyer stand, ein Briefchen zugesteckt erhielt:

„Mein Fräulein! Ein Herr, der durch Ihre Kunst entzückt, durch Ihre Schönheit aber noch weit mehr begeistert ist, bittet Sie, ihm Gelegenheit zu geben, Sie kennen zu lernen. Er würde nichts scheuen, sich Ihnen gefällig zu erweisen, und wäre es nur, um als Dank ein einzigesmal die Lippen auf Ihre Füsse pressen zu dürfen, auf diese Beine, die vollendete Kunstwerke sind und selbst Boucher zu einer zweiten Sylvia begeistern würden. Erteilen Sie Ihre Antwort, teuerste Grazie, alsbald

Ihrem ergebenen Baron Lichtensteig.“

In der Nachschrift beschrieb er genau, wo er während der Vorstellung seinen Sitz hatte. Mie war während ihrer Nummer zerstreut und verwirrt, so dass sie den Tadel ihres Freundes herausforderte. Mit dem scharfen Instinkt der Eifersucht folgte er sofort der Richtung ihres suchenden Auges und entdeckte in einer der vordersten Logen einen Kavalier, dessen Lächeln unter dem blonden Schnurrbart an Mie klebte, und dessen Augen sich an ihren Bewegungen festsaugten. Pierrot wurde unter der weissen Schminke bleich wie der Tod. Er streute geschickt in seine Produktion neue Nuancen ein, die Mie zwangen, ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Drahtseil zu verlegen, wollte sie ein Unglück verhindern.

Pierrot war nie so burlesk, so verrückt ausgelassen wie an diesem Abend. Das Publikum, das sich der neuen Attraktion gegenüber bisher ziemlich kühl verhalten hatte, klatschte brausenden Beifall, den Johannes mit einem hohnvollen Lächeln beantwortete. Während das Drahtseil abgebrochen wurde und Mie sich noch neben ihrem Freunde in der Manege verneigte, purzelten schon die beiden Clowns mit einem Esel herein, um die kleine Pause auszufüllen, und knapp, dass sie das Publikum durch einige rohe, unmotivierte Scherze mit Ohrfeigen und Situationswitzen zum Lachen gereizt, erdröhnte der Boden unter dem Hufschlag von sechsundzwanzig Pferden, die aus dem Stall stürmten und einen galoppierenden Kreis um den Direktor schlossen.

Zwischen den schimmernden Trakehnern hindurch wand sich Pierrot mit funkelnden Augen. Gleich hinter der Portiere stellte er Mie zur Rede. Sie sah seine dunklen, sonst weichen Augen hart wie Stahl auf der weissen Schminke schimmern und erschrak.

„Du warst ungeschickt“, herrschte er sie an.

„Das Licht war schlecht“, entschuldigte sich Mie, der es gar nicht in den Sinn kam, Harlekin etwas von dem empfangenen Briefe zu sagen.

„Das Licht war es nicht! Du hast dich mit einem Laffen verständigt! Du betrügst mich.“

Sie schlug die Augen zögernd zu ihm auf und bemühte sich, den Zusammenhang zu begreifen. Sie verstand, dass er zornig wurde, wenn sie eine Pièce allzulange nicht begriff. Aber sie fasste nicht, mit welchem Recht Johannes eiferte. Sie betrachtete zum erstenmal seine Züge in dem Halbdunkel näher und wunderte sich, dass diese eingefallenen Wangen und die vorstehenden, umrandeten Backenknochen ihr nicht schon früher missfallen hatten. In seiner schäumenden Wut erschien er ihr hässlich. Er sprudelte einen Schwall von Anschuldigungen hervor, denen Mie hartnäckiges Leugnen entgegensetzte.

Sie ging zur Garderobe, mit allen Gedanken bei dem blonden Baron, der ihr ohne Unterlass zugelächelt hatte. In einer dunklen Ecke kam eine Garderobefrau an ihr vorüber und steckte ihr mit hastigen Flüsterworten etwas zu. Mie öffnete, als sie sich allein wähnte, die kleine Schatulle mit zitternden Händen. Sie fand einen prächtigen Ring auf blauer Seide und fühlte ihre Füsse wanken vor Glück. Denn der Strahl des Edelsteines leuchtete in die Abgründe ihres Herzens und weckte berauschende Wünsche. Sie konnte sie nicht fassen und ihre Gestalten nicht festhalten. Aber es war ihr, als ruhe ein Talisman in ihren Händen, der ihr die verschlossenen Pforten zu einer Welt, der all ihr Sinnen und Trachten zustrebte, auf zaubervolles Geheiss nun öffnen würde.

Harlekin hatte inzwischen durch Bestechung und Überredung alles erfahren. Er kniff die Lippen zusammen und schwieg, als er Mie abholte. Er spielte im Restaurant und der Bar, wohin sie noch spät abends gingen, den Galantuomo und liess sich nichts anmerken, bis sich die Türe seines Hotelzimmers hinter Mie und ihm geschlossen.

Sie wollte sogleich mit einem gewohnheitsmässigen Lächeln ihr Schlafzimmer aufsuchen. Aber er hielt sie zurück, wandte sich mit einer Schnelligkeit, die seine Kunst war, sowohl der einen wie der anderen Türe zu und versperrte beide.

„Was soll das?“ stammelte Mie.

Er trat auf sie zu und nahm sie in seine Arme. Sie fühlte seine feuchten, zittrigen Hände auf ihrem Nacken und empfand einen Kitzel, durch den ein unüberwindlicher Abscheu strömte.

„Du hast heute den ersten Versuch gemacht, mich zu hintergehen, Mie.“

„Ich weiss von nichts, Johannes.“

„Das ist gut, und ich will es dir glauben. Nur gib mir diesen verfluchten Stein, für den du morgen einen weit schöneren und kostbareren von mir erhalten sollst.“

„Welchen Stein, Pierrot?“

„Den Stein der Versuchung. Den Stein des Teufels.“

„Welchen Stein?“ wiederholte sie scheinbar gedankenlos, während sich alle ihre Wünsche daran klammerten, entschlossen, ihn unter keinen Umständen preis zu geben.

Er sah sie mit schmerzhaften Mienen an. Denn nun konnte er bei aller Verstellung, deren seine Seele fähig war, nicht mehr an die kleine Madonna glauben, die er bisher so nahe gewusst und mit dem Aufgebot einer in Askese geschulten Kraft vor sich selber beschützt hatte.

„Den Stein und den Brief des blonden Kavaliers,“ schrie er ausser Fassung.

Die Dämonen seines misshandelten Körpers regten sich und schrien nach Fleisch. Während er sie anklagte, pressten sich seine Wünsche liebkosend an ihren Körper. Während er bat, flehte, liebkoste, floss seine Gier über ihren Leib weg. Schliesslich spannten sich seine Arme wie straffgezogene Schnüre um das schlanke, bewegliche Weib, das ihm zu entgleiten suchte.

„Du musst mein werden,“ stammelte er und rang mit ihr, während sie, die ehedem mit Freuden ihm ihre junge Liebe gegeben hätte, dies plötzlich als eine widerwärtige Schmach empfand, ihn hasste und verabscheute.

„Nein, nein“, schrie sie und suchte sich keuchend loszulösen, aber er überwältigte sie und schleuderte sie zu Boden. Die Geschicklichkeit, die er sie gelehrt, bewahrte sie vor der Niederlage. Sie schnellte empor und stiess ihn mit einer Kraft, die ihr durch die lange Übung am Seil gekommen war, zurück. Aber als sie zur Türe floh, holte er sie wieder ein. Sie sah sekundenlang im Schimmer des Mondlichtes, das in breitem Strom durch das geöffnete Fenster strömte, seine blutgeäderten Augen und den weissen Mund, auf dem die Gier brannte. Sie warf sich von neuem gegen ihn, verzweifelt, als müsste sie um ihr Leben ringen, aber stumm, ohne Hilfe zu rufen oder einen Laut von sich zu geben, von allen ihren Kräften Gebrauch machend. Denn je länger dieses Ringen um ihren Leib währte, desto elender schien ihr Pierrot, über den ihre Sinnlichkeit längst hinausgewachsen war. Sie trat ihn mit den Füssen, fügte ihm mit den Zähnen schmerzliche Wunden zu und stachelte durch diese Misshandlungen seine Leidenschaft doch nur noch mehr auf.

So taumelten sie beide gegen das Fenster. Mie hatte einige Sekunden lang das Bewusstsein des Frühlings, der durch die Öffnung in das Zimmer strömte, und der Kastanien, die in früher Blüte standen. Die grünen Wipfel neigten sich in einer leichten Zugluft. Dann sah sie Pierrots wutverzerrte Fratze über sich. Ihr Widerstand erlahmte, er aber fand plötzlich satanische Kräfte.

Sie fühlte sich in die Höhe gehoben und schwebte über einer dunklen Tiefe, die ihre trügerischen Samtpfoten nach ihr ausstreckte.

Da begriff sie, dass der Tod über und unter ihr war, duckte sich zusammen wie eine Katze und nahm den Sprung berechnend und spähend wie am Drahtseil, von dem sie so oft schon aus schwindelnder Höhe in den gähnenden Abgrund gesprungen war.

Pierrots magere, zuckende Hände krallten sich in die Leere der Nacht. Er sah einen weissen Ball in der Finsternis verschwinden und schrie auf.

Nun begriff er, dass er Mie in die Tiefe geschleudert hatte. Ohne an seine Sicherheit zu denken oder Folgen zu überlegen, floh er, von der visionären Erscheinung eines blutbefleckten Körpers mit weit aufgerissenen Fischaugen verfolgt, aus dem Zimmer, über die Treppen, fort, fort ... fort ...

Die Narrentour der Liebe

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