Читать книгу Die Narrentour der Liebe - Robert Heymann - Страница 6

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Mie war kein Leid geschehen. Gewöhnt an halsbrecherische Sprünge, hatte sie sich in dem gefährlichen Moment der Lehren ihres Geliebten erinnert und war, wenn auch ein wenig betäubt von dem Niedergleiten aus zwei Stockwerken, mehr noch von dem überstandenen Schrecken, unbeschädigt auf der Rasenfläche angelangt, die den rückwärtigen Teil des Hotels säumte.

Zuerst eilte sie, von Furcht ergriffen, wahllos, nur ihrer spontanen Verwirrung folgend, davon. Sie fand sich nach langem Umherirren im Prater wieder, der in der verschwiegenen, süssen Lust einer Frühlingsnacht träumte.

Sie liess den blossen Nacken und die fiebernde Stirne von der kühlen Nachtluft kosen. Das tat gut und beruhigte ihre aufgeregten Sinne. Dann aber war ihr erster Gedanke: Harlekin!

Seltsam! Sie dachte an ihn weder mit einer Empfindung des Hasses noch des Ekels. Gleich als hätte diese ihrer Seele so verwandte Szene schlummernde Leidenschaften erst in ihr geweckt, überkam sie plötzlich eine wilde Sehnsucht nach dem Manne, der sie eben noch dem Tod geweiht hatte. Gerade durch diesen Paroxismus wollüstigen Schmerzes war er ihr nahegerückt und hatte ein neues Leben in ihr geweckt, dessen Regungen sie nun mit heimlichem Erstaunen verfolgte, während sie die Allee hinabschritt.

Sie war müde und setzte sich auf eine Bank. Es kam ihr in den Sinn, dass sie nun wieder heimatlos geworden war, denn trotz ihrer heimlichen Sehnsucht nach Pierrot wagte sie nicht, an die Rückkehr in das Hotel zu denken. Sie fürchtete sich jetzt vor Harlekin. Sie wusste nicht, ob er nicht bereits von neuem mit dem Gedanken umging, sie zu töten.

Von einer sentimentalen Stimmung ergriffen, weinte sie bitterlich ob ihrer verzweifelten Lage und Hilflosigkeit. Sie überlegte, was nun zu tun sei. Als sie aber in ihrer kleinen Börse nur drei Kreuzer vorfand, brach sie von neuem in Tränen aus. Da fühlte sie in ihrer Tasche noch einen harten Gegenstand. Sie zog mechanisch das Etui hervor und wurde so an den Urheber dieser schlimmen Szene erinnert.

Der Ring des Barons leuchtete ihr wie das Symbol eines unabwendbaren Verhängnisses, in der Dunkelheit entgegen. Sie empfand jetzt nur mehr Gleichgültigkeit gegen den blonden Kavalier, denn ihr Empfindungsleben war augenblicklich einzig von der Gestalt Pierrots ausgefüllt: wie er sich mit verzerrter Fratze im Mondlicht über sie gebeugt und sie in seine tottiefen Augen gestarrt. Wieder überfloss sie ein heimlich süsser Schauer.

Sie hungerte. Eine Bäckersfrau kam mit schlürfendem Schritt an ihr vorüber. Mie rief sie an und erwarb für ihre drei Kreuzer ein Stück Brot.

Die Blätter rauschten über ihr, und der Duft des Frühlings betäubte sie. Als sie in der Ferne die Gestalt eines Hüters der Ordnung auftauchen sah, entfloh sie und irrte noch eine Weile im Prater umher, bis sie sich wieder der Stadt näherte. Die Silhouette des Riesenrades wuchs gespenstisch aus der blauen Finsternis.

Sie bog zum Flusse ab. Träumend starrte sie in die Fluten der breiten Donau, bis sie schwindlig wurde. Dann kehrte sie schliesslich wieder in die Stadt zurück, ohne einen bestimmten Plan, ihrem Instinkte folgend, der sie Pierrot wieder zuführte.

Als sie vor dem Hotel stand, winkte ihr der Portier zu. Sie brauchte gar nicht erst zu fragen. Harlekin war abgereist, hatte in fliegender Hast seine Rechnung beglichen und Wien mit dem Orientzug verlassen.

Sie starrte den Portier wortlos an, bis sie seine spöttisch mitleidigen Blicke gewahrte. Da gewann sie eine Selbständigkeit, über die sie sich selber wunderte. Sie begriff, dass sie, wollte sie nicht zugrunde gehen, zunächst wenigstens ein Dach über dem Haupt haben musste, und übergab dem Portier den Ring.

„Wollen Sie mir für diesen Stein eine entsprechende Summe geben, damit ich zunächst weiterhin hier wohnen bleiben kann?“

Der Portier machte einen schiefen Mund, war aber nicht abgeneigt, ein so rentables Geschäft zu machen. Er bot ein Zehntel des Wertes. Mie war es zufrieden. Sie wünschte nichts sehnlicher, als den Ring, der ihr wie Feuer in der Hand brannte und dessen Glut sie durch die Lederhülle und die Kleider auf der Haut spürte, loszuwerden.

Sie begab sich also zunächst in ihr Zimmer und verfiel alsbald in einen unruhigen Schlummer, in dem ein wüster Traum sie quälte: Harlekin, der aus dem Ring des blonden Kavaliers eine glühende Schlinge drehte, ihr diese um den weissen Hals zu ziehen suchte. Sie wehrte sich mit der Kraft der Verzweiflung. Sie bat, biss, kratzte und entdeckte zugleich mit Entsetzen, dass Harlekin die Züge des Todes annahm, wie seine Mienen sich versteinerten und nichts in seinem Gesichte mehr lebendig war als die kristallenen Augen, die plötzlich aus der weissen Schneefläche seines Antlitzes fielen und auf der Erde zerbrachen.

Von ihrem eigenen Schrei geweckt, fuhr sie hoch. Gedrückt begab sie sich in den Zirkus, in der Hoffnung, dort etwas von ihrem Geliebten zu erfahren. Man sagte ihr aber nur, was sie schon wusste: Harlekin war Hals über Kopf nach dem Orient geflohen. Der Direktor fluchte wie ein Flösser, und der Stallmeister erklärte, dass sie nun nichts mehr hier zu suchen hätte.

Sie hielt sich zitternd und bebend eine Weile im Zuschauerraum verborgen.

Sie wunderte sich, wie verändert das Bild in der Manege aussah, wenn man es von den Logen aus betrachtete. Eine Weile sass sie ganz still und beobachtete die Probe. Der Stallmeister mit seinem mattbronzenen Kopf sah eine Sekunde lang herauf. Mie gegenüber brannte der purpurne Vorhang zu den Ställen. Die Loge, in der sie sass, war mit mattroten Plüschstreifen bezogen. Violett, grün, rot, gelb — eine Komposition von aufgesogenen Farben, lag der Teppich. Die rassigen Pferde, die sich eben in einem Paradestückchen übten, trugen einen Abglanz dieses aufregenden Farbengewirrs. Wie Pferdchen beim Konditor hoben sie in schöngemeisselten Bewegungen die weissen Vorderfüsse. Eine Reiterin stand in kurzem, veilchenblauem Rock und einem Mieder à la Eugenie neben einer Österreicherin, die Kunstfahrerin war und die Kaiserin Elisabeth kopierte. Sie hatte dieselbe königliche Figur und war sehr schön. Aber ihr fehlte der Adel wie er um den strengen Mund der toten Kaiserin gespielt hatte. Ein Clown mit roter Nase und dicken schwarzen Augenbrauen sprang umher. Ein anderer trug ein spanisches Jäckchen mit schweren Stickereien; der hatte die Lippen scharlachrot und breit wie einen Vorhang angemalt. Ihre Stimmen klangen heiser und übernächtig auf einen dressierten Pudel ein, der melancholische Sprünge machte, die jetzt, wo niemand die Naivität des Lachens fand, traurig abgeschmackt anmuteten. Der Direktor dirigierte das Lieblingspferd Hassan mit den edlen Nüstern und den wunderbar flammenden Augen, das Produkt einer sorgsamen Rassenhygiene. Dieser Aristokrat unter den Pferden musste auf zwei Hufen durch die Arena stolzieren und vor den Damen die Verneigung eines spanischen Granden üben.

Als die Probe zu Ende war, näherte sich Mie dem Stallmeister von neuem und bat in beweglichen Worten, sie doch nicht dem Elend und Schlimmerem preiszugeben. Der Stallmeister riet ihr, aufs bayrische Konsulat zu gehen und sich das Billett für die Heimreise nach München besorgen zu lassen.

Indes er mit ihr sprach, betrachtete er sie näher. Er fand, dass dieses halbe Kind einen seltsam reizvollen Körper und ein Versprechen ungewöhnlicher Lust im Auge trug. Er sagte zu, sich für sie zu verwenden.

„Kannst du reiten?“

„Ich will versuchen, es zu lernen, wenn Sie mir Ihre Zeit opfern wollen.“

Er lächelte wie ein Faun und begann gleich am selben Tage mit der Lektion. Mie war gelenkig, hatte Mut und besass Kraft. Wenn sie atemlos dem galloppierenden Pferde nachjagte, um sich, am Sattelgurt anklammernd, im schnellen Lauf am Halse hochzuziehen, keuchend zum Rücken aufzuschnellen, dann folgte ihr das Auge des Stallmeisters bewundernd und gierig. Geza, der Lehrer, war mit einer Artistin verheiratet, denn ehedem war er selbst ein Meister auf dem Trapez gewesen. Jetzt zählte er nicht mehr zu den Jungen. Aber seine martialische Figur und die Mittel, die er anwandte, um sein Alter zu verbergen, machten ihn in der Menge immer noch zu einer rennomistischen Erscheinung.

Im Verlaufe von acht Tagen lernte Mie das Reiten. Geza schonte die Peitsche nicht, weder bei Mensch noch Tier. Mie empfing manch schmerzhaften Streichhieb über Rücken und Schultern. Obgleich in ihr ein wilder Hass gegen ihren Peiniger aufflammte, wagte sie nicht dies zu zeigen. Geza aber schien das zu fühlen. Es machte ihm Vergnügen sie zu quälen, und je mehr Fortschritte sie machte, um so halsbrecherischer wurden die Übungen, zu denen er sie anhielt.

Indessen vollzog sich etwas in Mies Leben, dessen Bedeutung sie nicht begriff und das sie ohne sonderliche Gewissensbisse und Aufregungen hinnahm, weil sie weder den moralischen noch den physischen Konflikt darin erfasste. Geza benutzte eine frühe Vormittagspause, wo niemand anwesend war als er und Mie, sie zu nehmen. Seinen Riesenkräften war sie nicht gewachsen, und so unterlag sie.

Der Stallmeister tat in der Folge so gleichgültig, als sei nichts geschehen, und Mie verbiss wutvoll das Gefühl aufquellender Scham, das sie überflutete, so oft sie den Zirkus betrat.

Diese Scham war ein ursprüngliches Empfinden der Auflehnung gegen den räuberischen Akt, der Gezas Gewalttat darstellte, und sie erstreckte sich nur auf die Person, nicht aber auf die Sache. Denn das Schamgefühl als Ausdruck des sittlichen Gewissens war ihr fremd. Sie war entschlossen, dieser Atmosphäre zu entfliehen, sobald sie erst die nötigsten Mittel zur Reise nach München beisammen hatte. Im nächsten Programm trat sie zu Beginn der Vorstellung als Reiterin auf, ohne sonderlichen Beifall zu ernten. Gleich am ersten Abend ereignete sich ein schreckliches Unglück. Vilja, eine junge Elevin, die schon auf den Proben durch die Virtuosität, mit der sie ritt und sprang, den lauten Beifall des Direktors und aller Kollegen gefunden, fiel bei einem Sprung durch den Reif so unglücklich, dass sie mit einer schweren Schädelverletzung weggetragen wurde.

Rushton, der Clown, welcher den Reif gehalten, wurde mit Vorwürfen überhäuft. Man stellte fest, dass durch sein Verschulden Vilja der Sprung missglückt war, weil er im letzten Moment den Reif so nahe an die Füsse der Reiterin brachte, dass sie sich überschlug. Ein Huf des galoppierenden Pferdes traf sie so unglücklich an den Kopf, dass der Knochen brach.

Die Frau des zweiten Clowns bespuckte den Urheber der Katastrophe, als er sich verteidigen wollte. Man wusste, dass er Vilja schon seit Eintritt in den Zirkus mit seiner Liebe verfolgte, aber abgewiesen worden war. Der Streit endigte mit seiner Verhaftung. Da ihm aber die Behörde nichts nachweisen konnte, so wurde er wieder freigelassen. Die Artisten weigerten sich, nochmals mit ihm zusammen aufzutreten, und Rushton verschwand, um alsbald in Russland wieder aufzutauchen, wo man sich wenig um dieses Abenteuer bekümmerte.

Mie hatte die liebreizende, immer freundliche Vilja ins Herz geschlossen. Die Kunstreiterin entstammte keiner Artistenfamilie. Von einem Aristokraten verführt, musste sie aus dem Elternhaus flüchten und war schliesslich, um nicht unterzugehen, im Zirkus gelandet. Nun rang sie einsam in einem Saale der städtischen Klinik um ihr armes, nutzloses Leben.

Mie konnte den verzweifelten, anklagenden, in seiner Stummheit schreienden Blick Viljas, der über die schreckensbleichen Gesichter der Umstehenden geirrt war, als man sie hinaustrug, nicht mehr vergessen. Eine wahnwitzige Angst vor dem Zirkus, vor den Menschen, vor diesem dämonischen Leben ergriff sie. Als sie nach einigen Tagen wieder den blonden Kavalier in der Loge sitzen sah, steigerte sich diese Angst bis zu krankhaften Vorstellungen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, begab sie sich auf das Konsulat und liess sich die Fahrkarte nach München besorgen. Arm, wie sie von dort gekommen, schiffbrüchig, langte sie wieder in der Heimat an. Sie besass eben noch die paar Pfennige Zehrgeld, die man ihr mitleidig gewährt. Ein kleines Kofferchen in der Rechten, studierte sie die Anschlagssäulen und begab sich vom Bahnhof aus nach dem Varieté Monachia, um ein Engagement zu erbitten.

Dieses kleine Tingeltangel, das in einer Seitenstrasse des belebtesten Stadtteiles in der Nähe des Karlstores lag, hatte literarische Ambitionen. Als sie in den Saal trat, fand eben eine Probe statt. Der Direktor liess sie in sein Bureau kommen. Sie sah sich einem untersetzten, dicklichten Manne gegenüber, dessen verwaschene Züge auf den ersten Blick nichts Aussergewöhnliches aufwiesen. Nur das seitwärts gescheitelte blonde Haar, das zu beiden Seiten des Gesichts wie fransige Vorhänge niederfiel, verriet die künstlerischen Voraussetzungen Joseph Valliers. Er kam mit Mie überein, sie am Drahtseil auftreten zu lassen, und stellte ihr auch die Apparate, nachdem eine kleine Probe zu seiner völligen Zufriedenheit ausgefallen war.

In den nächsten Tagen also trat Mie in dem kleinen, raucherfüllten Lokal als Drahtseilkünstlerin auf. Sie erntete rauschenden Beifall, weniger durch ihre Fertigkeit, als durch ihre Beine, deren klassisch schöne Modellierung in der Nähe und bei einem Publikum, das sich in der Hauptsache aus Studenten zusammensetzte, zur erwarteten Geltung kam.

Schon in den nächsten Wochen bereitete sich eine entscheidende Wendung in Mies Geschick vor. Der Ehrgeiz des Direktors und ihr eigener trafen sich auf einem Gebiete, das ihnen beiden scheinbar völlig ferne lag — auf dem der Kunst.

Eine neue Ära war in München angebrochen. Aus Norddeutschland übernommen, wo Wolzogen sein Überbrettl gegründet, wurde die neue Kunstrichtung von einer Schar Münchner Künstler mit süddeutscher Kultur und dem Blute der Türkenstrasse belebt, die mit dem Montmartre jedenfalls mehr Berührungspunkte hatte, als der Berliner Westen je trotz allen guten Willens aufweisen konnte: Die Herrschaft des Chansons begann.

Die Literatur des Tages und das Vergnügen der Nacht bewegten sich seit langem in enger Berührung. In Deutschland allerdings erst mit einem stillen, verwunderten Protest. Dann in einer Art spontaner Übereinstimmung. Und plötzlich entwickelte sich aus dieser Verbindung heraus eine neue Literatur, eine Mischung naiven Lasters und raschlebiger Talente, eine Kultur für sich, die an den Stundenzeiger der Uhr gebunden war und um Mitternacht mit einem zynisch kindlichen Lächeln, dessen Verbindung restlos nur den Grisetten des quartier latin gelingt, durch die Grossstadt irrte.

Die Poesie des Cafés. Ein Kind verzehrender Träume, eingehüllt in Zigarrenwolken, die den dürstenden nackten Leib nicht verhüllten. Ein Nebel wirrer Phantasie krönte ihr Haupt. Zigeunerweisen umgaukelten ihren Flug.

Das Cafélied, das Chanson, trat auf eine provisorische Bühne, auf schnell und lose gezimmerter Bretter, und bot sich preis. Wie die Dirnen der Place Pigalle noch in den frühen Morgenstunden ein giftiges Getränk schlürfen, so suchte das Chanson dem Deutschen den Absynth zu ersetzen und Verlaines grünblaue Vorstellungswelt nach München zu importieren.

In dem Saal des alten Hirschen-Gasthofes in der Türkenstrasse etablierten sich die „Elf Scharfrichter“, als deren geistige Führer Marc Henri und Frank Wedekind gelten durften, deren geschicktester Satiriker aber Schlesinger war, der später in der prosaischen Redaktionsstube einer Tageszeitung landete. Alsbald begannen die literarischen Hinrichtungen. Sie begründeten die süddeutsche Kleinkunst. Sie schufen aus abgelauschten Vorbildern des Boulevard Saint Michel einen künstlerischen Stil, als deren sensitivste Mittlerin Marya Delvard gross wuchs.

Der Erfolg, den die Elf und die neue Richtung überhaupt in München errangen, liessen den kleinen Direktor der Monachia nicht ruhen. Josef Vallier war ein ungewöhnlicher Rechner, ein Genie der Nachahmung, ein Kleinhändler der Literatur, der in der ideenreichen Zeit der neunziger Jahre reichen Boden für Beute aller Art vorfand. Er erfasste mit scharfem Blick das unsichere Fundament, auf dem die künstlerische Produktion des Überbrettls in München fusste. Er kannte das Publikum aus vielfältiger Erfahrung, denn er war nicht nur ausübender Künstler und Schausteller von der Art des klassischen Schichtl gewesen. Er hatte nicht gezögert, die günstige Konjunktur, welche die Passionsspiele in Oberammergau boten, mit einer Truppe internationaler Ringkämpferinnen aus der Au und Giesing an Ort und Stelle auszunutzen, und er hielt sich für einen künstlerischen Märtyrer, seitdem er damals knapp der Steinigung entgangen war.

Immerhin hatten ihn seine Studien über den Geschmack des Publikums zu der Überzeugung gebracht, dass nur eine geschickte Vereinigung der jeweiligen modernen Strömung mit der ausgesprochenen Mittelmässigkeit Aussicht auf einen dauernden Bestand hatte.

Die extravagante Art der Darstellung, die künstlerische Zuchtwahl, die die Elf in ihrem Stadel an der Türkenstrasse betrieben, mussten zu einer Reaktion der Weisswurstweltanschauung führen.

Darauf baute Vallier seinen Plan.

Er wollte mit allen Mitteln aus den Niederungen des Tingeltangels zu den Sphären der reinen Kunst emporklimmen.

In einer Zeit, wo Biedermeierkravatten und Urwaldsträhnen die rechte Mischung des Übermenschentums in München ergaben, denen noch Nietzsches Weibverachtung die rechte Weihe verlieh, schien Vallier das Experiment nicht schwer.

Er begründete zunächst ein Theater ohne Männer, in der sicheren Voraussetzung, dass in dieser Epoche der Sensation, die durch bedingungslose Nachäfferei geheiligt wurde, die Männer am ehesten in seinem Theater vertreten sein würden, ohne ihm den Vorwurf der Geschmacklosigkeit zu machen.

Als aber diese Spekulation in künstlerischer Hinsicht misslang, verzichtete er schnell auf seinen geistigen Einfall und hielt sich an das Vorhandene.

Er begründete das Kabaret der sieben Scharfrichterinnen, stellte eine Amazone mit blutroter Fahne vor das Portal des Tingeltangels, erregte ein Verbot der Polizei, Skandal in der Presse, Aufmerksamkeit des Publikums und ging nun, einmal auf dem Weg eines Erfolges, schnell zur Konstituierung des reinen Kabarets über. Er gewann in dem begabten Komponisten Bela Szigeth einen künstlerisch fühlenden Organisator, der ein feines Tastgefühl für die sentimental-zynische Richtung der Talmikunst besass.

Das neue Kabaret der „Sieben Tantenmörder“ wurde mit einer Reklame eröffnet, die die „Elf Scharfrichter“ in Grund und Boden schmetterte. Dem Publikum wurden Namen aufgezwungen, die es nie vorher gehört. Es vernahm, dass die Sänger und Sängerinnen, Dichter und Komponisten berufen seien, die Moderne zu revolutionieren, und in der Tat hatte Vallier geschickt eine Auswahl von genialen Dilettanten und dilettantierenden Genies getroffen, die in ihrer improvisierten Zusammenstellung ein in literarische Mythe gehülltes Ensemble ergaben. Die Suggestion, die Vallier durch eine für die Kleinstadtverhältnisse Münchens unerhörte Reklame ausgeübt, hatte den grossen Saal des Etablissements Wittelsbach neben der Monachia, wohin die Tantenmörder übergesiedelt waren, vollständig mit einem teilweise sogar sehr distinguierten Publikum gefüllt.

Die elf Scharfrichter, die das Treiben der „Überbrettlhyäne“, wie sie ihren Konkurrenten getauft, bisher mit hohnvoller Überlegenheit verfolgt, spürten nun den Sieg ihres Feindes auf der ganzen Linie.

Im letzten Augenblick, kurz, ehe die so viel versprechende Vorstellung beginnen sollte, zeigte die Diva telegraphisch aus Hamburg an, dass sie nicht mehr rechtzeitig zu diesem Abend eintreffen konnte.

Der Direktor, der schon die letzte Stunde in fiebernder Erwartung verbracht und kaum mehr das kleine Loch am Vorhang verliess, durch das man das fröhlich schnatternde Publikum beobachten konnte, geriet ausser sich. Die Verlegenheit war nicht zu verbergen, denn es fehlte an und für sich schon an guten weiblichen Gesangskräften.

Mie hörte kaum von der Verlegenheit Valliers, da erbot sie sich, einzuspringen. Sie hatte des öfteren ihre niedliche, kleine Stimme erprobt.

Ihr Ehrgeiz, zum Brettl überzugehen, war alt, aber der Direktor wies sie barsch ab, der Kapellmeister lachte sie aus.

Mie liess sich nicht irre machen.

Sie folgte weder einer Überzeugung noch einer Laune, als sie an ihrer Begabung für das Überbrettl festhielt. Sie gehorchte einfach einem Instinkt. Dieser Spürsinn war in Mie in seltener Weise entwickelt, so sehr, dass er sie auch späterhin stets in das rechte Verhältnis zu den Aussendingen stellte und ihr in entscheidenden Momenten eingab, was die Klugheit erforderte.

Auf diese Weise kam Mie in den Verdacht eines besonderen Raffinements, während sie in Wahrheit bloss ein Triebleben führte. Doch war dieser Instinkt, ein hereditäres Erbteil aus Urzeiten her, so stark in ihr, dass sie geradezu mit einem prophetischen Spürsinn ausgestattet war.

Sie hatte sich vor Wochen von einem halbverhungerten Komponisten einen kleinen Singsang für einige Taler gekauft. Voll Aufregung lief sie in die kleine Künstlerkneipe zur Sonne, wo das verkommene Genie verkehrte, und liess sich das Chanson in einer schmierigen Nebenstube einstudieren. Atemlos kam sie zur Vorstellung zurück und wiederholte ihr Begehren, sie statt der ausgebliebenen Sängerin auftreten zu lassen.

Der Direktor sagte in seiner Verzweiflung zu.

Der Anfang des Abends war nicht sonderlich verheissend. Er spielte va, banque, gab schon nach der vierten Nummer, die gänzlich abfiel, seine Sache verloren und konnte auch von Mie nicht mehr Schlimmeres erwarten, als was ihm ohnedies bevorstand. —

Der Kapellmeister bat alle Grazien um Vergebung, als er sich endlich dazu entschliessen musste, Mie, die nicht einmal Lampenfieber hatte, zu begleiten. Da sie keine passende Toilette besass und keine ihrer Kolleginnen sich bereit erklärte, ihr ein Kostüm zu leihen, Mie aber, vom Fieber des Ehrgeizes erfasst, unter keinen Umständen nachgeben wollte, so trat sie in ihren fleischfarbenen Trikots auf, deren Schlachthauswirkung sie durch einen Flittermantel zu mildern suchte. Zum Überfluss setzte sie einen grauen Zylinder auf, den ihr Chanson, das irgendeine Eindeutigkeit aus dem Gebiete der Reiterei behandelte, rechtfertigen sollte.

Das Publikum war erst über den geschmacklosen Aufzug verdutzt, dann brach es in ein mitleidloses Gelächter aus. Aber die Kindlichkeit der Erscheinung, die in einer Atmosphäre der Sinnlichkeit aufging, erregte bald Befremden, allmählich Interesse und nahm schliesslich gefangen.

Nun begann Mie mit ihrer ungeschulten Stimme zu singen. Es war kein Singen, sondern ein Zwitschern, das nervenerregend sich in die Sinne stahl und dort in dunklen Tiefen ein zitterndes Echo weckte.

Augenblicklich wurde es still. Die Augen der jungen Männer glänzten dunkel. Man horchte; das gab Mie, die erst schon dem Weinen nahe war, neuen Mut. Mit Mischung von Naivität und Lasterhaftigkeit, die der Inbegriff ihres Lebens und ihrer Gefühle war, sang sie ihr dummes, freches Chanson zu Ende, in dem der abgeschmackte Refrain immer wiederkehrte: „Das Reiten, das ist mein Vergnügen.“

Dabei lächelte sie, halb ungeschickt, halb berechmend, das hell-laute Lachen eines Kindes und das tiefe, lüsterne Lächeln einer Dirne, das süsse Mundspitzen der Unschuld und das breite Versprechen des Lasters, ein Lächeln, das unbeschreiblich widerspruchsvoll, vielartig, schillernd, dunkel und tief war, wie eben Mie selber einen Zusammenhang der verschiedensten Leidenschaften bildete, die langsam ihre Akkorde anschlugen, ehe sie zu machtvollen Tönen wurden, die den jungen Leib durchzitterten. Als sie geendet, klatschten sich die Studenten in einen Rausch des Beifalls. Das Publikum, selbst die Frauen, auf welche dieses Kind mystisch erregend wirkte, wurden mitgerissen.

Sie sah sich veranlasst, noch eine Zugabe zu gewähren und taumelte schliesslich glückstrahlend, zu Tode erschöpft, hinter die Kulissen, wo der Direktor sie in den Armen auffing. Sie hatte den Abend gerettet. Er küsste sie im Enthusiasmus der Dankbarkeit und schalt sich im stillen einen Toren, der dieses Talent, diese Wunderblume nicht gleich entdeckt und beinahe gewaltsam unterdrückt hatte.

Der Kapellmeister kam herbei und drückte Mie die Hände. „Sie sind ein Stern,“ stammelte er. „Wir werden etwas aus Ihnen machen ... Sie brauchen nur noch das grosse Repertoire und eine schmeichelnde Musik ...“

„Und eine Regie, die aus diesem geschmeidigen Talent hervorholt, was noch verborgen schlummert,“ setzte der Direktor mit einem halben Lächeln hinzu.

Mie enteilte in ihre Garderobe, nicht ohne mit überlegenem Triumph einige hasserfüllte Blicke von Kolleginnen aufzufangen.

„Was sagen Sie?“

Kapellmeister und Direktor sahen sich an.

Vallier gab ein neues Klingelzeichen. Unter dem nachhaltigen Eindruck Mies gefielen auch die anderen Attraktionen. Aber in jeder Pause, die zwischen den einzelnen Nummern entstand, verlangten einige kecke Studenten von neuem nach Mie.

„Sie wird morgen berühmt sein.“

„Wir müssen ein eigenes Repertoir für sie schaffen.“

„Sehr richtig. Ein Schlagwort, das durch alle Gassen klingt. Das wie eine Fanfare ihre Erscheinung, ihre Eigenart, ihr Demiviergetum ankündigt. Sie werden die Musik schreiben. Aber wer schafft uns für diese Kraft das Chanson?“

Der Kapellmeister schlug Namen vor ... Namen ... der Direktor schüttelte den Kopf. Plötzlich:

„Ich hab’s! Dieser oder kein anderer.“

Am nächsten Tage sprach man in den Kreisen, die den Nächten pikante Sensationen ablauschen, von nichts anderem als von Mie. Man wusste eigentlich nichts Bestimmtes von ihr zu sagen. Man konnte nicht behaupten, dass sie gut sang, noch weniger, dass sie gut vortrug. Man wusste nicht, sollte man sie schön oder hässlich, lasterhaft oder naiv nennen, aber man sprach, und gerade das verlegene, doch überquellende Stammeln in dem öffentlichen Urteil machte auch andere neugierig. —

Direktor Vallier klopfte am nächsten Morgen in einer stillen Hinterstube eines alten Hauses in der Amalienstrasse an. In einem mit Papieren und Büchern, mit Folianten und alten Stichen vollgepfropften Zimmer, das durch den uralten Lehnstuhl noch trödlermässig aussah, sass vor einem Riesenschreibtisch, im Angesicht eines alten Lindenbaumes, der durchs offene Fenster lugte, ein hagerer junger Mann mit slavischem Typ und schrieb:

Das war der kaum mehr als zwanzigjährige Herausgeber des „Eselspiegels“, einer radikalen Zeitschrift unsicherer, aber jedenfalls ungemein freier Tendenz, eines Blattes, das gleich einem feurigen Schwert alle tollen Einfälle der Sturm- und Drangperiode eines kleinen, leidenschaftlichen Dichter- und Malerkreises ins Publikum trug und wie die Posaunen vor Jericho gegen die festgefügtesten Mauern der gesitteten Gesellschaft Sturm blies. Es war ein Risiko, gerade den Herausgeber des „Eselspiegels“, der noch drei ähnliche Zeitschriften leitete und über dem beständig das Damoklesschwert der Staatsjustiz schwebte, als den berufensten Dichter für Mie gewinnen zu wollen. Aber Direktor Vallier hatte einen sicheren Blick für Gegensätze, die sich ergänzen. Und er war seit dem gestrigen Abend entschlossen, alles zu riskieren, literarische Beachtung zu erringen um jeden Preis, die Konkurrenz niederzurennen, selbst auf die Gefahr hin, die eigene Existenz bei dem Unternehmen einzubüssen.

Der Herausgeber der vier radikalen Zeitschriften war so mit seinen Artikeln beschäftigt, dass er nur zerstreut auf die Vorschläge Valliers hörte. Er lehnte halb ab, versprach aber, sich Mie anzusehen.

Er arbeitete gerade an einem Werk, das Vorbilder wie Mie suchte. So kam er abends in das Kabaret der „Sieben Tantenmörder“, hörte Mie, schrieb in derselben Nacht ein Chanson und sandte es dem Kapellmeister, der es augenblicklich komponierte. Direktor Vallier las es und sagte: „In einem Vierteljahr werde ich das bestgehende Theater Münchens leiten.“

Es gab sich, dass Mie seine Geliebte wurde. Vallier hatte erst vor kurzem eine bittere Erfahrung machen müssen, denn Lola Lolette, ein früheres Dienstmädchen, aus dem er eine Varietégrösss gemacht, war mit einem simplen Schauspieler durchgegangen. Der äusserliche Unterschied zwischen Lola Lolette und Mie war zu gross, als dass Vallier ohne weiteres in Mie hätte verliebt sein können. Lola war gross, breitbrüstig und blond, hingebend und lieblich gewesen. Mie war knabenhaft, wechselnd in ihren Gebärden und Stimmungen, schlank und schmal und voll verhaltener Gluten. Ihre Beweglichkeit äusserte sich fast nur in ihren Beinen. Es war, als habe sich ihr Charakter auf diese Beine kapriziert, und diese waren vielleicht das einzige, was Direktor Vallier Lola vergessen liess und ihm die Illusion ermöglichte, Mie zu lieben. Dass er sie so schnell an sich gezogen, war Berechnung. Mie sollte an ihn gefesselt sein, denn Mie musste erst die Schule der Liebe durchmachen, ehe sie in der Kunst biegsam und empfänglich genug war, um Valliers künstlerische Inspirationen, die wirklich stilvoll waren, weil er sie in ihren Anfängen den Berufensten abgelauscht, zu erfassen.

Mie also war die Geliebte des Direktors. Das fiel nicht weiter auf, denn es war so Tradition. Nur zeigte sich, dass Mie stärker als dieser Mann war, der auf Frauen ihres Schlages einen ungewöhnlichen Einfluss ausübte. Sie beherrschte auf dem Felde der Liebe ihren Lehrmeister bald vollkommen, und Vallier, der durch alle möglichen Kunstmittel das Interesse des Publikums an Mie wachgehalten hatte, konnte daran gehen, den grossen Schlager aufs Programm zu setzen, das Chanson, das der Herausgeber des „Eselspiegels“ geschrieben hatte:

„Rasse.“

Ehe Vallier dieses Gassenlied, auf das er alle Hoffnungen seiner Existenz setzte, herausbrachte, vertauschte er das kleine und schlecht renommierte Lokal am Karlstor mit einem Raum, der ihm von vornherein die ernste Kritik der Presse sicherte. Er richtete sich ein bunt ausgestattetes Lokal in der Tonhalle ein, jenem breit ausladenden Eckgebäude in der Türkenstrasse, das der um das Münchner Musikleben so verdiente und so schnöde abgedankte Dr. Keim begründet hat.

Die Zeitungen nahmen von der äusseren Wandlung befriedigt Notiz. Ein Gastspiel Yvette Gilberts gab dem Unternehmen französisches Signum. Die Elf Scharfrichter waren an ihren künstlerischen Inspirationen gescheitert, und schon gingen einige der ehemals so erbitterten Feinde zu der Fahne des Siegers in das „Intime Theater“ über, wie das neue Unternehmen sich von jetzt an nannte.

Die ersten Proben von „Rasse“ waren selbst für die Mitglieder ein Ereignis. Wie Direktor Vallier immer neue Nuancen aus Mies Beinen formte, wie er ihre natürliche Begabung bis zur letzten Ausdrucksfähigkeit erschöpfte, das war ein Kunststück für sich, das ihm an dem späteren Erfolg Mies den Hauptanteil sicherte.

Der matte Schein der elektrischen Lampen fiel in den Zuschauerraum, wo die übrigen Mitglieder sassen: die Geliebte des Kapellmeisters, Helene Bien, eine talentierte Schauspielerin, die die unbeschränkte Freiheit ihres Lebens um den Verlust einer grossen künstlerischen Karriere erkauft hatte. Der Komiker Hirten, Jolly Jalla, die elegante, zierliche französische Liedersängerin, Else Walden, eine überschlanke Blondine mit norddeutschem Anschlag, und die grosse, wuchtige, berühmte Liane Leidner. Ihr Gang war tragödienhaft. Der wie von einem impressionistischen Bildhauer halbfertig hingeworfene Kopf war rassig und rätselhaft. Sie war Gast und in Berlin ein „Star“.

Selbst die Kolleginnen schwiegen, als Mie ihr Lied zum Vortrag brachte: diesen aufreizenden Refrain, dieses heisse Werben, dieses Schnellen nach Lust, dieses Aufsaugen der Stimmungen einer Weiberseele.

Der Direktor sprach weder von der Stimme, noch von dem Text oder der Komposition. Er legte allen Ausdruck und jeglichen Wert in Mies Beine, und er erstrebte damit in Wahrheit nur eine künstlerische Geste, denn Mie war imstande, mit einer Bewegung ihrer Glieder mehr zu sagen als mit einem ganzen Liede, mehr zu geben als mit aller stimmlichen Kunst.

Der Abend wurde ein Erfolg, der alle Erwartungen übertraf.

Nach der „Rasse“ sang Mie ein zweites Lied ihres Dichters, in dem rückschauend und vorausahnend ihr Leben in einige Verse gepresst war, die dem damals sentimentalen Geschmack entsprachen. Mie wurde unruhig und zauderte, als sie nach dem ersten Beifallssturm wieder auf die Bühne trat, um dieses Lied zum Vortrag zu bringen. In der vordersten Reihe des dichtbesetzten Theaters waren bis jetzt zwei Plätze leergeblieben, die nun besetzt wurden. Zwei Herren, die sich offenbar nicht kannten, sahen mit gespannten Augen zu Mie herauf. Der eine mit einem Ausdruck gefesselten Schmerzes, sehnsüchtig verschwiegener Erinnerungen voll, der andere mit jener Mischung von Gier und Sklavenhaftigkeit, die Mie schon zur Genüge kannte.

Aber das braune, von Jagdluft gesättigte Gesicht des Kavaliers weckte irgendeine halbvergessene Erinnerung. Während ihr Auge sich von einem magnetischen Bann gepackt, dem anderen zuwandte, kam es ihr in den Sinn:

Jener ist Lichtensteig, der Baron aus Wien.

Sein Erscheinen schmeichelte ihrer Eitelkeit. Ob er sie wohl noch erkannte? Ob er sich noch an das kleine Zirkusmädchen aus Wien erinnerte? Aber der andere ... der andere ...

Der Kapellmeister gab schon mehrmals ein geheimes Zeichen. Sie übersah es, bis der Direktor hastig einige zornige Worte zwischen den Kulissen hervorstiess.

Da setzte sie ein.

Die Mienen der Zuschauer wurden gespannt. Eine zitternde Sinnlichkeit lag in der Luft. Mies Körper wurde mit den ersten Tönen ein einziger Nerv, der zuckte und litt, jauchzte und jubelte und alle Phasen einer vom Leben erborgten Phantasie durcheilte.

Ihr Oberleib wiegle sich leise. Sie stand nun mitten auf der Bühne, die schwarzen, welligen und glänzenden Haare gelöst, in einem mohnblumenroten, engen Kleide, und zwitscherte:

Ich bin die kleine Mieze

Mieze Mausekatz.

Ich bin ein kleiner süsser

Ach, vielgeliebter Fratz!

Erst lief ich ohne Strümpfe

Und hatte keine Schuh ...

Sie trippelte mit unsicheren Kinderschritten die Rampe entlang und die Stimme schlug in einen tiefen, leicht vibrierenden Ton um:

Und bettelte und weinte

Und stahl noch nebenzu.

Sie hielt inne und streckte balancierend die Arme nach beiden Seiten aus, flüsterte mit halb verschleierter Stimme, indes ihr Blick gross und weit, von einer schreckhaften Vision ergriffen, an dem blassen, schlanken, vorgebeugten jungen Manne da unten hing, der sie förmlich einkreiste mit seinen grünen Augen:

Da lernte ich das Tanzen

In meiner grossen Not.

Auf schwankem, schwachem Seile

Verdiente ich mein Brot.

Und wohl noch was darüber,

Weil ich mich selber bot ...

Sie hielt inne. Der Blasse unten in seinem Fauteuil fuhr hoch, und es sah aus, als sei er weih geschminkt. In diesem Augenblick erkannte ihn Mie und schrie hinaus:

„Aus Not!“

Der Blasse sank in seinen Sessel zurück und liess die Arme willenlos an dem mageren, ausgemergelten Körper niedergleiten.

Mies Stimmung schlug um. Sie warf den Oberkörper vor und schlug die Arme frech übereinander.

Mit gebrochener Stimme und in einem burschikosen Jargon schleuderte sie die nächste Strophe in den Saal.

Der Zirkus ward zum Brettl

Da ward ich Chansonett,

Und sang ein freches Liedl

Und schlief in seidnem Bett.

An einem roten Faden

Hing ich die Herzen an,

Zuletzt war auch ein reicher

Und echter Graf daran.

Nun trag ich Diamanten ...

Sie brach ab. Der Blasse dort unten war aufgesprungen. Zwei Augen, stahlhart, glänzten sie an. Sie versuchte, weiter zu singen, aber der Ton blieb ihr in der Kehle stecken. Verwirrt, verschüchtert, bebend verneigte sie sich. Der blonde Kavalier wandte sich an einige Freunde hinter sich, und während diese den Blassen mit einem herausfordernden, spöttischen Lächeln musterten, klatschte er Mie, die hilflos, unsicher, wie blind abging, lauten Beifall. Das Publikum, das wohl einen Zwischenfall erriet, ihn aber nicht begriff, stimmte ein.

Ein Sturm brach los, den die Studenten durch Trampeln zu einer wilden Demonstration steigerten. Mie musste noch einmal heraus, ein drittes Mal, man wollte sie nicht mehr von der Bühne lassen, aber sie konnte nicht mehr singen, sie war erschöpft, von einer fremden suggestiven Kraft gefangen. Als sie zum letztenmal in die Kulissen zurücktrat, stiess sie einen leisen Schrei aus, denn da stand Pierrot, der blasse Pierrot mit seinen kranken Augen und den schiefen Schultern und sah sie an. Er legte einen Moment den Zeigefinger auf die Lippen.

Sie begriff.

Und schwieg.

„Komm her, Mie!“ rief Vallier. „Jean Tibaut möchte dich kennenlernen.“

Mie näherte sich mechanisch. Jean Tibaut, summte es in ihren Ohren. Jean Tibaut ...

„Der grosse Pierrotdarsteller! Der grösste überhaupt und der Begründer einer neuen Kunst ...“ Vallier vergass schon auf die Vorstellung, von Geschäftsgier gepackt: „Meister, wenn Sie bei uns auftreten würden ... nur ein paar Tage ...“

Harlekin lächelte. Mie presste die Hände vors Gesicht.

Dies Lächeln ... oh, dies Lächeln kannte sie ... dies Lächeln senkte sich wie eine dunkle Welle in ihr Herz und tauchte alle ihre Gedanken in einen blauen Nebel, dass sie sich wie berauscht fühlte und den sicheren Boden verlor ... was war das nur?

„Vielleicht,“ sagte Harlekin ... „vielleicht ... wer weiss ... wünschten Sie es, Mie?“

„Ich? ... Oh ...“ sie sah den Direktor an; Vallier nickte eifrig, offenbar zornig über ihre zaudernde Antwort. Harlekin fing diesen Blick auf und sah finster zu Boden. In Mie aber begann ein Klingen, und ihre Seele bebte, und sie umfing mit einem Blick voll Zärtlichkeit, deren sie bisher nie fähig gewesen, den Körper Harlekins, der in seiner Magerkeit und Müdigkeit aussah wie wund, von Peitschen geschlagen, von Not geschüttelt. Das also ist der berühmte Jean Tibaut, dachte sie. Er ist gross geworden, gefeiert, von aller Welt bestaunt, der grösste Mimiker — es war ja selbstverständlich, dass er berühmt werden musste. Und sie sah ihn wieder an ... und Pierrot lächelte ihr seltsam zu, als ob er sagen wolle:

Weisst du noch? Und sprach:

„Ich werde auftreten ... in meiner Pantomime ‚Marchand d’habits‘ — eigentlich ist es ja des grossen Debureau Stück ... aber ich glaube, ich komme meinem Meister darin am nächsten ...“

„Was ist das für eine Pantomime?“ fragte Mie.

„Ich will Ihnen einmal davon berichten,“ erwiderte er. Dabei sah er über sie hinweg, als ob er die Mauern durchdringen wollte und weite Fernen suchte ...

Mie ging in ihre Garderobe. Ihre neue Zofe, die sie sich trotz Valliers Widerspruch engagiert, eine junge Böhmin, die vom ersten Tage an in geradezu sinnlicher Liebe an Mie hing, kam ihr freudestrahlend entgegen, einen Korb köstlicher Marschall-Niel-Rosen in Händen:

„Für Sie, Fräulein Mie ...“

Mie beugte sich über die Rosen und atmete den betäubenden Duft. Sie legte das heisse Gesicht in die kühlen, schwellenden Blätter und sagte kein Wort.

Die Zofe reichte ihr einen Brief mit einem Wappen.

Mie las: Einladung ... berauschende Beine ... Ihr Sklave ... und legte mit einem Gähnen das Schreiben beiseite.

„Aber ...“ sagte missbilligend die Zofe.

Mie lächelte, während sie sich abschminkte. Ihre Brüste kamen dabei zum Vorschein. Sie waren wie zwei zarte weisse Nelken mit einem scharlachroten Stern. Auf dem Nacken schimmert rippenförmig eine warme, mattrosa Welle durch das aufgetragene Puder.

Die Arme waren noch übermager, aber jede Geste reich an Rundung und Grazie ...

„Nun, Greta?“

„Er ist sehr reich.“

„Woher weisst du das?“

„Er hat es mir erzählt.“

„Du kennst ihn?“

„Seine Equipage steht jeden Abend vor dem Theater.“

„Und?“

„Sie könnten ein eigenes Schloss besitzen, Fräulein Mie, Pferde, Diener. Sie müssen herrschen ... herrschen ... Sie sollen auf diese Menschen wie Vallier heruntersehen ... tief heruntersehen ...“

Mie schwieg.

Greta nahm sich vor, den Zufall zu begünstigen. Denn sie liebte ihre Herrin und konnte kaum erwarten, bis sie sie in dem Glanze sah, auf den sie Anspruch hatte wie der Edelstein auf eine vollkommene Fassung.

Die Narrentour der Liebe

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