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Memoria

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Der Weg führt durch weite Felder aus ockergelbem Gras. Hüfthohe Blumen mit großen, weißen Blüten durchziehen das Land in verschlungenen Linien. Die Luft ist angefüllt mit Pollen, welche im Abendlicht rosa schimmern. Das entfernte Rauschen des Wasserfalls wird zunehmend von Vogelgezwitscher überlagert. Will deutet auf die tief am Horizont stehende Sonne und erklärt mir, dass sie sich auf einer Kreisbahn bewege, deren Mittelpunkt sich nie ändere und weit über dem Horizont liege. Daher sei es nachts nie richtig dunkel.

»Die Sonne, so haben wir uns hier geeinigt, zieht ihre Kreisbahn im Norden«, erklärt er.

»Aber ist Norden nicht dort, wo die Kompassnadel hin zeigt?«

»Klar, nur ... also ich kann es dir auch nicht richtig erklären. Das Magnetfeld dreht sich ständig, ... ich glaub, alle drei Tage einmal ... aber da frag am besten Sid«, erwidert er und zieht die Schultern hoch.

Ich nicke zögerlich. So folgen wir — der Sonne entgegen — dem Weg nach Norden und passieren zunehmend dichtere Waldabschnitte. Im Licht der Abendsonne fällt mir auf, welche kunstvolle Kleidung Will trägt: eine braune Weste mit eingesticktem Karomuster, darunter ein graues Hemd mit silbernen Knöpfen. An seiner rotbraunen Hose befinden sich aufgenähte Taschen, auf die jeweils ein Vogelmotiv gestickt wurde. Alles scheint ihm auf den Leib geschneidert worden zu sein. Er wirkt elegant und nicht erinnerungslos, gestrandet oder gar bedürftig. Seine gelöste Art ist ansteckend, den auch ich fühle mich seit unserer Begegnung irgendwie entspannt. Vermutlich, weil ich hier überhaupt einem anderen Menschen begegnet bin. Auch wenn es unsinnig erscheint, ist dies auf eine Art die Bestätigung dafür, dass ich — existiere. Obwohl mich vieles von dem was er sagt, verwirrt, mich zweifeln lässt — schließlich kenne ich ihn ja gar nicht. Mein Blick mustert ihn bei dem Gedanken. Er lächelt mich mit einer natürlichen Unbedarftheit, mit einer mühelosen Freude in seinen grünen Augen an. — Nein, ich glaube ihm. Zum ersten Mal seit meinem Erwachen spüre ich wieder festen Boden unter den Füßen.

Er zeigt auf ein Getreidefeld.

»Schau, dort ist das Feld von Austin, dann ist es nicht mehr weit.«

Ich blicke auf eine ausgedehnte, ebene Fläche, die wie ein Schachfeld mit verschiedenen Getreidearten bepflanzt wurde.

»Wie habt ihr es geschafft, ein so großes Feld zu bestellen?«

»Na ja, wenn Austin sich was in den Kopf setzt, kann er sehr hartnäckig sein. Das Feld war anfangs natürlich kleiner. Als wir immer mehr über die Schmiede herausfanden, hat er sich quasi die nötigen Dinge für Bewässerung und Ernte anfertigen lassen.«

»Ihr habt eine Schmiede?«

»Also ... es ist keine gewöhnliche Schmiede. Sie liegt etwas außerhalb der Stadt. Ein erstaunlicher Bau, sag ich dir. Er wandelt so Zeugs wie Holz, Erz und Getreide um, aber das wirst du bald selber sehen.«

Der Weg zieht eine Schneise durch den Wald und das entfernte Rauschen des Wasserfalls versiegt endgültig. Wir laufen einen Hügel hinauf. In der Entfernung sehe ich etwas schimmern, es bewegt sich gemächlich auf uns zu, dann erkenne ich schwarze Reifen unter einer silbernen Fahrerkabine.

»Wo wir grad von Austin sprechen, da ist er«, meint Will und zeigt auf das Fahrzeug. Es wirkt wie eine Mischung aus Strandbuggy und Mondfahrzeug, einfach aber robust. Ein kräftiger Mann mit grauen, scheckigen Haaren sitzt hinter dem Steuer.

»Tag, William. Hast du einen Neuen aufgegabelt?«, ruft er mit tiefer Stimme.

Will hebt grüßend die Hand.

»Ja, nur war es quasi umgekehrt. Paul hat mich aufgegabelt.«

Austin nickt mir kurz zu.

»Na, besser, wenn sie zuerst auf dich treffen«, meint er und fährt an uns vorbei.

Will zeigt mit dem Daumen über seine Schulter zum Vehikel.

»Also der Tog, wie wir ihn nennen, ist unser einziges Fahrzeug. Er stand, wenn ich mich recht erinnere, einfach in der Schmiede rum. Wir haben schon überlegt ihn zu kopieren, aber dafür ist er, wie Sid meint, zu kompliziert.«

Ich schüttle den Kopf.

»Ich verstehe das nicht. Der Tog und die Schmiede waren einfach da?«

Er nickt. »Aber irgendwer muss sie doch gebaut haben? Wer weiß, vielleicht hast du den Tog gebaut und kannst dich nur nicht mehr daran erinnern?«

»Ich glaube nicht, dass ich den Tog gebaut hab«, erwidert er, »aber gelegentlich frag ich mich schon, ob ich das eine oder andere, womöglich bereits einmal gemacht habe.«

»Wenn ich mich umschaue, habe ich jedenfalls nicht das Gefühl, diesen Weg schon einmal gegangen oder diesen Wasserfall schon einmal gesehen zu haben«, erwidere ich.

»Das hast du sicherlich auch nicht. Ich kenne jeden in Memoria und wir sind uns heute das erste Mal begegnet ... also ... zumindest, seitdem ich mich erinnern kann.«

»Aber wie bin ich dann dort oben hingelangt?«

Er zieht die Schultern hoch.

»Das ... ich weiß nicht ... ist das so wichtig?«

Ich bleibe stehen und schaue ihn fragend an. Er scheint irritiert, beinahe erschreckt von meinem Blick.

»Paul, solche Fragen stellen wir uns einfach nicht mehr. Uns geht es gut!«, versichert er und nickt nachdrücklich.

Ich überlege, ob es einem gut gehen kann, wenn man sich keine Fragen mehr stellt? Aber ich nicke wieder zögerlich und wir setzen unseren Weg fort.

Der Wald wird lichter und zwischen den Zweigen kann ich die ersten gelben Häuser erkennen.

»Da ist es«, sagt Will.

Der Weg führt direkt auf einen hohen Torbogen aus Holz zu. Er ist mit kunstvoll geschnitzten Ornamenten überzogen. Es gibt weder eine Mauer noch irgendwelche Türen. Der Bogen steht frei vor dem Eingang zur Siedlung. Er wirkt eher wie ein massives Schild als ein Tor. Über dem Bogen ruht ein mächtiger Sockel, auf dem eingeschnitzt in großen Buchstaben MEMORIA steht. Wir gehen durch das Tor und betreten die Stadt. Der Kiesweg knirscht unter unseren Schritten und windet sich einen leichten Anstieg hinauf. Die meisten Häuser sind quadratisch und besitzen zwei Etagen. Eine Brise trägt den Geruch von frischem Brot durch die Luft. Aus einem Haus höre ich Gelächter. Das Erdgeschoss einiger Gebäude ist zur Straßenseite offengelegt. In einem Parterre kann ich einem Mann beim Schnitzen einer Figur zusehen. In einem anderen drängen sich Menschen an Tischen und stoßen mit ihren Gläsern an. Wir nähern uns einem ovalen Platz, in dessen Mitte ein massiver, silberner Zylinder von etwa einem Meter Durchmesser haushoch emporragt. Er besteht aus dem gleichen Material wie die Wand hinter dem Wasserfall. Der Platz ist umgeben von kleinen runden Rasenflächen, in denen steinerne Skulpturen gelblich in der Abendsonne glitzern. Überall schlendern Menschen in eleganter Kleidung durch die Gegend. Meine Anwesenheit wird hier und da von einem nickenden Gruß zur Kenntnis genommen. Ich bin mir nicht sicher, was ich eigentlich erwartet hatte, aber diese rege Stadt erstaunt mich. Nichts deutet darauf hin, dass sie isoliert oder rückständig wäre, dass es eine Stadt von Erinnerungslosen sei.

»Ihr seid hier gut organisiert«, meine ich schließlich.

»Organisiert ...«, wiederholt er langsam, als hätte er das Wort zum ersten Mal gehört. »Ach was, jeder geht dem nach, was er am besten kann. — Lass uns gleich zu Maria gehen, sie wird dir ne Behausung einrichten. Sie weiß gut Bescheid mit dem Brunnen«, fügt er an und zeigt auf die silberne Säule. Am Sockel des Zylinders befindet sich ein Becken. Der Zylinder ruht jedoch nicht zentriert, sondern versetzt am Beckenrand. Er sieht tatsächlich wie ein Brunnen aus. Auf der vom Becken abgewandten Seite gibt es eine etwa zehn Zentimeter hohe Plattform direkt vor dem Zylinder. Ich beuge mich vor und blicke in das Becken. Es ist mit etlichen, etwa daumengroßen, blauen Kugeln gefüllt. In diesem Moment kommt eine Frau vorbei, lächelt mich an und nimmt sich einige Kugeln aus dem Becken.

»Gut, und wozu dient nun der Brunnen?«

Will bläst die Backen auf, als hätte ich ihm eine unlösbare Aufgabe gestellt.

»Mit dem Ding können wir die Stadt ausbauen. Klingt womöglich seltsam, ... da wachsen Häuser aus dem Boden«, erklärt er.

»Ich verstehe das nicht, ihr seid hier aufgewacht und habt dann diese Stadt gefunden?«

Er schüttelt den Kopf.

»Nein, damals gab es noch keine Stadt, nur den Brunnen.«

Wir gehen auf das Haus zu, welches auf der linken Seite vom Platz liegt.

»Ihr habt das alles selbst aufgebaut?«

Er nickt. »Keine einfache Zeit, ... zum Glück hatten wir Salvento. Er hat schnell herausgefunden, wie Brunnen und Schmiede funktionieren. Maria kam erst später dazu.«

Ein schmaler Weg führt uns durch eine Rasenfläche. Vor dem Haus befindet sich eine Veranda. In einer Ecke stehen zwei alte Stühle und ein winziger Tisch. Die gelben Wände und die großen Fenster geben dem Gebäude ein schlichtes, aber dennoch idyllisches Aussehen. Will klopft an die Tür, da fällt mir der glänzende Knauf ins Auge. Er hat die Form einer Blume aus poliertem Metall. In den Blättern sind rote Steineinlagen eingearbeitet. In der Blütenmitte schimmert ein Schmetterling in einer runden Glasverzierung.

»Ja, immer herein«, höre ich eine Frauenstimme rufen. Noch bevor Will reagiert, packe ich den Knauf und öffne die Tür. Wir betreten einen kurzen Korridor. Zur linken Seite liegt ein großer Raum, in dem eine Frau mit langen, dunkelbraunen Haaren an einem massiven Esstisch sitzt.

»Hallo Will, kommt rein und setzt euch«, sagt sie.

Auf dem Tisch stehen ein Topf, eine Schale und etwas Brot. Sie schöpft sich mit einer Kelle Suppe in die Schale. Der Tisch ist umgeben von zwei einfachen Bänken. Das Fenster hinter ihr zeichnet eine leuchtende Kontur auf ihren Körper und taucht das Zimmer in ein helles Gelb. Ein würziger Geruch von Muskat und Orange liegt in der Luft. Will setzt sich ihr gegenüber und deutet mir an, mich danebenzusetzen.

»Maria, ich hab jemand Neues gefunden, oben am Wasserfall«

»Mensch Will, dort ist alles sehr instabil. Sei bloß vorsichtig!«

Ihre durch eine Haarsträhne verdeckten Augen springen kurz zu mir und zurück zu Will.

»Ich mag es nicht, wenn du jemand Neues sagst. So etwas kann einem fraglos Angst einflößen. Mir hat es damals Angst gemacht«, erwidert sie und greift zum Löffel neben der Schale. »Kennst du schon deinen Namen?«

»Ja, Paul«, sage ich und lege meine Ellenbogen auf den Tisch.

»Hat dich Will schon aufgeklärt?«

»Er hat mir von dem Brunnen erzählt und das sich hier niemand mehr erinnern kann.«

»Und von der Schmiede«, fügt Will an.

Ich nicke. »Ja, und dem Tog, aber sicher gibt es hier noch so einiges, von dem niemand mehr weiß, wo es eigentlich herkommt.«

Wieder springen ihre Augen kurz zu mir, diesmal begleitet von einem Lächeln. Will fängt an, ausschweifend zu gestikulieren.

»Es hat mich beinahe oben erwischt auf der Treppe. Aber zum Glück kam mir Paul zur Hilfe, ansonsten wäre ich womöglich immer noch dort eingeklemmt oder längst von nem Brocken erschlagen.«

»Alleine sollte dort niemand mehr hingehen«, erwidert sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Also, ich mag ja hin und wieder übertreiben ... aber diesmal stimmt es aufs Wort: Paul ist ein Held!«, meint Will.

»Ein Freund«, füge ich schnell hinzu.

Er schüttelt den Kopf.

»Und ein Held. Völlig erinnerungslos hat er keine Sekunde gezögert.«

»Will übertreibt, es war nur ein Felsbrocken, den ich wegräumte.«

Maria streicht sich die Haare aus dem Gesicht, große braune Augen kommen zum Vorschein.

Er blickt auf die Schüssel.

»Das duftet aber gut. — Nun braucht er natürlich ne Bleibe.«

Sie nimmt ein Stück Brot, zerteilt es in kleine Stücke und lässt sie in die Suppe fallen.

»Dort drüben sind ein paar Schalen, bedient euch ruhig«, erwidert sie. »Soso, ein Held. Ja sicher, lass uns nach dem Essen zum Brunnen gehen. Hinten an der Bellusbrücke ist noch viel Platz, da werde ich dir was einrichten.«

Will holt das Geschirr herüber und füllt uns jeweils die Schalen auf. Ich nehme mir etwas Brot und tunke es hinein. Die Suppe ist rötlich, sämig und hat einen leicht fruchtig-süßen Geschmack. Ich merke, wie eine würzige Schärfe im Gaumen emporsteigt — nicht zu stark, sondern genau richtig und mit nichts zu vergleichen, an das ich mich erinnern kann. Während ich versuche, die Suppe nicht zu gierig zu verschlingen, berichtet Will noch einmal in allen Einzelheiten von den Ereignissen am Wasserfall.

Als wir zum Brunnen aufbrechen, hat sich die Dämmerung auf die Stadt gelegt. Maria übernimmt mit schwungvollem Schritt die Führung. Wir gehen über den mittlerweile leer gewordenen Platz. Sie wirkt sportlich, ich schätze sie auf Ende dreißig. Hohe Wangenknochen umrahmen ihre intelligenten Augen. Die schulterlangen, dunkelbraunen Haare fallen strähnig in einem Bogen herab. Sie trägt ein dunkelrotes Kleid mit langen Ärmeln und einer Kordel um die Hüfte.

»Wie kann der Brunnen dabei helfen, ein Haus einzurichten?«, frage ich.

Sie gestikuliert und zeichnet mit den Fingern ein Rechteck in die Luft.

»Über die Konsole am Brunnen können wir die Stadt verwalten und Bauaufträge erteilen«, erklärt sie.

»Und dann?«

»Das ... ist nicht leicht zu erklären. Die Wände wachsen gewissermaßen aus dem Boden. Ich denke, es ist eine Art von intelligentem Bauschaum.«

»Und der kommt einfach so aus der Erde?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Nein, nur an vorbestimmten Stellen. Wenn man genau hinschaut, kann man sie erkennen. Er schiebt sich heraus und baut Schicht für Schicht das Haus auf. Präzise in die Form, die ich an der Konsole eingebe«, erklärt sie und versucht, den Vorgang mit den Händen zu veranschaulichen.

»Beeindruckende Technologie«, bemerke ich.

»Fraglos beeindruckend«, erwidert sie. »An der Konsole kann ich vorgegebene Segmente zusammenstellen oder alles selbst errichten. Ich kann sogar Abschnitte wieder verflüssigen und umbauen.«

Wir bewegen uns unter einem dunkelgrauen Himmel direkt auf den Zylinder zu.

»Ja, und Wasseranschluss, Küche, Bad und Heizung sind integriert«, fügt sie an.

»Aber wie kann so etwas aus einem Bauschaum erzeugt werden?«

»Soweit wir wissen, gibt es mehrere Sorten davon. So werden die Fliesen und Leitungen von einer Art Keramik gegossen. Fensterscheiben von wieder einer anderen Sorte von Bauschaum ... also ich gebe zu, das Wort trifft es irgendwie nur ungenügend.«

Wir erreichen den Brunnen, und ich nehme eine der blauen Kugeln aus dem Becken.

»Und wozu sind diese Dinger da?«

»Die Globen, wie wir sie nennen, sind gewissermaßen Energiebehälter. Alles hier wird über die Globen mit Energie versorgt. Dazu gibt es diese runden Öffnungen«, erklärt sie und zeigt auf ein Loch auf Hüfthöhe, mitten in der silbernen Säule.

»Für dein Haus werde ich vier Globen benötigen«, meint sie.

»Verstehe, so etwas wie Batterien. Wo kommen die Globen her?«

Maria stellt sich auf die Plattform vor dem Zylinder.

»Batterien ... was für ein lustiges Wort, das habe ich lange nicht mehr gehört«, murmelt sie. »Die Globen werden allem Anschein nach von dem Brunnen produziert. Wie genau, wissen wir nicht.«

Sie berührt mit ihren Fingern die Zylinderwand. Es erscheinen weiße Kreise an den Fingerspitzen und quadratische Symbole direkt darüber.

»Die Bedienung beruht auf einer Symbolsprache, die wir erst zum Teil verstehen«, erklärt sie und schaut konzentriert auf die Eingabefläche.

»Also, ich hab bei diesen Symbolen noch nie durchgeblickt«, bemerkt Will.

Ihre Finger gleiten geübt über die Oberfläche. Es erscheint eine Abfolge von weiteren Zeichen, dann erkenne ich eine Karte, die wie ein Stadtplan aussieht. Darin befindet sich ein blinkendes Quadrat an einer Kreuzung.

»Ich gebe dir zwei Etagen am Bellusplatz. Jetzt brauche ich die Globen«, sagt sie und deutet in das Becken. Ich nehme vier von den blauen Kugeln aus dem Brunnen und reiche sie ihr. Sie beugt sich vor; ihr Kleid flattert im Wind, da bemerke ich etwas Metallenes — eine Stange mit Drähten — wo eigentlich ihr linkes Bein sein sollte. Sie blickt mich kurz an und wirft die Globen in die Öffnung.

»Das war‘s.«

»Das ging schnell. Kann ich es von hier aus sehen?«

Sie schüttelt den Kopf und zeigt in eine Richtung quer über den Platz.

»Dafür ist es zu weit weg, auf der anderen Seite des Flusses.«

Sie steigt von der Plattform hinunter und reicht mir die Hand.

»Willkommen in Memoria, Paul.«

Unsere Augen treffen sich zum ersten Mal für einen längeren Moment.

»Ich hoffe, meine Prothese hat dich nicht erschreckt?«, fragt sie.

Ich schüttle den Kopf.

»Nein.«

»Ja, das war schon ein Schock, als ich hier ohne Erinnerung aufgewacht bin und dann bemerkte, dass mir ein Unterschenkel fehlt. Stattdessen nur diese Prothese.«

»Das kann ich mir vorstellen«, erwidere ich.

»Damals hatte sie noch eine Gummi-Manschette, hat ziemlich echt ausgesehen. Ich hab sie jedoch entfernt, so komme ich viel besser ran, um sie hin und wieder zu reparieren«, erklärt sie und streckt ihr linkes Bein — die Prothese — vor. Die Stange endet in einem ebenso metallenen Fuß, der in einem gewöhnlichen Schuh steckt. Sobald sie ihr Gewicht verlagert, gibt eine Feder fein dosiert nach, sodass ihre Bewegungen geschmeidig bleiben.

»Ich hab es überhaupt nicht an deinem Gang bemerkt.«

»Ich bin damit genauso beweglich wie jeder andere.«

»Und du hast keinerlei Erinnerung an einen Unfall?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Nein, in all den Jahren kein einziges Mal.«

»Würdest du es überhaupt noch wissen wollen?«, wirft Will ein.

»Anfangs ... aber mittlerweile ... es würde ja nichts ändern«, erwidert sie.

Sobald ihr Mund ein Lächeln formen will, zeichnet sich ein feines Grübchen auf ihrer rechten Wange ab. Sie streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht und schaut mich sanft an.

Aus einer Gasse taucht eine ältere Frau auf und kommt zielstrebig auf uns zu. Maria blickt zu ihr hinüber und ihr Lächeln verschwindet.

»Judit, wie geht es Sebastian?«, fragt sie.

»Nicht gut ... ich ... ich suche Jules, weißt du, wo er ist?«

»Ich glaube im Theater«, erwidert Maria. »Will, zeige Paul doch sein neues Haus, dann kann ich mit ihr nach Jules suchen.«

»Okay«, erwidert er.

Er zeigt in eine Straße.

»Zum Bellusplatz geht es dort am Primus entlang bis zur Brücke.«

Ich verlasse mit ihm den Brunnenplatz und blicke kurz zurück zu Maria, sie biegt mit Judit in eine Seitengasse ab.

»Maria ist offensichtlich sehr wichtig in Memoria«, sage ich.

»Ja, sie kümmert sich quasi um alles, was mit der Stadt zu tun hat.«

»Dann ist sie so etwas wie die Bürgermeisterin?«

»Äh ... das Wort kommt mir bekannt vor ... ich glaube, das ist sie wohl, obwohl wir hier dieses komische Wort nicht verwenden.«

Wir laufen an großen und kleinen Häusern vorbei, kaum eines gleicht dem anderen. Die meisten Fenster sind eher unregelmäßig angeordnet, sie formen mit den Türen unsymmetrische Gesichter, manche fröhlich andere grimmig dreinschauend. Wir treffen auf einen Fluss und folgen dem Ufer. Will erklärt mir, dass vom Wasserfall drei große Flüsse abgehen. Vom Plateau aus gesehen befände sich links der Primus, in der Mitte der Secum und ganz rechts der Ora. Vor uns taucht eine elegante Holzbrücke auf, die auf einem Bogen über dem Fluss zu balancieren scheint. Ein Dunstschleier verstärkt die Dämmerung und gibt den erleuchteten Fenstern der Häuser einen diffusen Lichtkegel. Hin und wieder erscheinen darin Silhouetten, die wie Pupillen in die Stadt blicken und den Häusergesichtern Charakter verleihen.

»Was ist mit Sebastian?«, frage ich.

»Weiß nicht ... er ist schon sehr alt. Jules hat ihn auf über hundert geschätzt.«

»Wer ist Jules?«

»Er und Ben sind bei uns quasi die Ärzte.« Zum ersten Mal sehe ich Will mit ernster Miene. »Schade, dass wir hier kaum noch Neuankömmlinge wie dich haben.«

»Wie viel leben hier eigentlich?«

»Wir sind nun auf unter eintausend geschrumpft.«

»Und wie lange ist es her, seitdem der Letzte vor mir erschienen ist?«

Er blickt grübelnd in die Luft.

»Hm ... es muss etwa ein Jahr her sein, da ist Jules auf Austin getroffen. Das war verrückt, Jules war völlig außer sich — nicht so besonnen wie du, Paul. Austin wollte ihn beruhigen, nicht eben seine Stärke, da wurde Jules handgreiflich. Austin verlor die Balance, schlug hart mit dem Kopf auf, ja, da lag er dann mit blutender Kopfwunde. Irgendwas muss daraufhin in Jules klick gemacht haben. Er vergaß seine Aufregung, behandelte die Wunde mit einer Pflanze und zerriss sein Hemd, um Austin zu verbinden. Ja, und so wurde er schließlich unser Arzt.«

»Aber auch Jules ist nicht wieder eingefallen, was er zuvor tat und wie er hierherkam?«, frage ich, obwohl ich die Antwort schon erahne.

»Nein, auch er kann sich nicht mehr erinnern.«

»Ist das da vorne die Bellusbrücke?«

»Ja, aber lass uns zuerst zum nächsten Bona-Fama.«

»Bona ... Wohin?«

Er zeigt auf ein Gebäude gleich neben der Brücke.

»Das Bona-Fama ist ... eine Art Lager, in das quasi jeder hineinstellen kann, was er nicht mehr benötigt oder anderen geben möchte.«

»Eine Tauschbörse?«

Er überlegt und schüttelt den Kopf.

»Eigentlich nicht. Du musst ja nichts tauschen. Dort gibt es alles, was man so braucht wie Nahrung, Kleidung ... ja und womöglich auch Matratzen und Bettdecken. Oder wodrauf willst du heute schlafen?«

»Ja, richtig.«

Sein Gesicht strahlt mit einem Mal.

»Mina ist bei uns die Frau für Kleidung, Polster und Stoffe. Sie ist so süß und wunderschön wie ein Engel, sag ich dir. Sie stellt immer was ins Bona-Fama.«

Gleich am Eingang des Lagers stehen einige Handkarren. Will nimmt einen davon, zieht ihn hinter sich her und drückt die Schwingtür auf. Er berührt eine Fläche an der Wand, und große Quadrate an der Decke fangen an zu leuchten. Der hohe Innenraum ist mit Trennwänden in drei Abschnitte unterteilt. Umlaufend befinden sich schmale Fenster direkt unterhalb der Decke, doch zu hoch, als dass man hinausschauen könnte. Auf der rechten Seite befindet sich ein Regal mit seltsamen, silbernen Platten, darüber eine Schale mit Globen und daneben ein weiteres Regal mit kleinen Gefäßen, aufgerollten Tüchern und einer Schere.

»Das ist unsere kleine Not-Apotheke«, meint er und zeigt auf das Regal.

Ich nicke. Mein Blick fällt auf einen blauen Sessel, er steht inmitten einer Ansammlung von Möbelstücken, gegenüber vom Eingang. Ich ziehe ihn hervor und setze mich hinein.

»Sehr bequem!«

»Dann rauf damit auf den Karren«, erwidert er.

Wir packen den Sessel und legen ihn auf die Ladefläche. Auf der rechten Seite führt ein Durchgang zum nächsten Bereich. Hier sind diverse Lebensmittel auf Regale verteilt. Daneben gibt es Schüsseln, Töpfe und Besteck.

»Werden die Lebensmittel nicht irgendwann schlecht?«

»Nein, wir kümmern uns regelmäßig darum. Und alles, was zu schnell verdirbt, ist dort drüben im Kühlfach«, erklärt er und zeigt auf eine metallene Klappe in der Wand. Er nimmt ein Stück Brot, eine Kräuterpaste und eine Wurst aus dem Regal und legt sie in den Karren.

»Honwurst, die musst du probieren. Hon ist ein großer Vogel, der gar nicht fliegen kann. Lena führt bei uns ne Zucht. Die Hon-Eier haben so ne hellblaue, gepunktete Schale. Sind so lecker ... aber leider grad nicht da.«

Wir gehen zurück, an den Möbeln vorbei, zu den Kleidern und Polstern. An zwei langen Stangen, die bis zur Mitte des abgetrennten Bereichs verlaufen, hängen unzählige Kleider, Hemden, Jacketts und Hosen. Will meint, ich solle jedoch besser zu Mina gehen, damit sie genau Maß nehmen könne. Die Kleidung hier sei eher als Reserve gedacht, sagt er. Mir fällt eine dunkelgrüne Jacke ins Auge, ich nehme sie vom Bügel und probiere sie an. Sie ist innen mit einem weichen Flanellstoff bedeckt, besitzt zwei große Taschen und passt, als wäre sie für mich geschneidert worden. Will meint, dass sie viel zu warm für Memoria wäre, aber ich lege sie trotzdem in den Karren. Gegenüber der Kleidung liegen zwei aufgerollte Matratzen. Er nimmt eine davon und zeigt auf einen Stapel aus Decken und Kissen.

Der Karren füllt sich zunehmend. Mir erscheint es etwas merkwürdig, sich all diese Dinge einfach so zu nehmen. Aber Will erklärt, sie seien genau dafür da und dass ich womöglich bald selber etwas ins Bona-Fama stellen würde.

Der Karren poltert über die Dielen der Holzbrücke. Ich blicke in den dunkelgrauen Himmel.

»Ist diese Dämmerung ... die Nacht?«

»Ja, dunkler wird es nicht. Ich weiß, dass die Nächte normalerweise düster sein sollten, aber ich kann mich an keine solche Nacht mehr erinnern«, sagt er und fängt an zu lachen. »Womöglich bekäm ich bei einer dunklen Nacht mittlerweile richtig Angst.«

Der Platz hinter der Brücke öffnet sich zu einem kleinen Park. In der Mitte entfaltet ein alter Baum seine Krone. Der Stamm wirkt wie ein geschnürtes Bündel aus verschiedensten Pflöcken, als hätte sich ein ganzer Pulk von Bäumen entschieden, zu einem Baum zu verschmelzen. Die mächtigen Wurzeln sprießen bereits über dem Boden in Schlaufen heraus und vergraben sich behutsam in die Erde. Der adrige Stamm verläuft kerzengrade in die Höhe, dann, als würde er an etwas zerschellen, zerbirst die Krone in einem beinahe waagerechten Astgeflecht. Der Baum ist von Sitzbänken umgeben, und um den gesamten quadratischen Platz verlaufen steinerne Säulen, die mit schmalen Bögen verbunden sind. Es ist ein pittoresker Ort, an dem einem Maler vermutlich nie die Motive ausgehen würden.

Will zeigt auf ein Haus direkt am Platz gegenüber der Brücke.

»Das dort ist es.«

»Es ist etwas dunkler als die anderen«, erwidere ich.

»Ja, weil es noch ganz frisch ist, aber das verliert sich in den nächsten Stunden.«

»Ist es denn überhaupt schon bewohnbar?«

»Sicher. Ist bereits ausgehärtet, aber könnte noch etwas riechen«, erklärt er.

Wir gehen quer über den Platz an dem Baum vorbei. Dann bemerke ich tatsächlich den seltsamen Geruch.

»Es riecht ... schwer zu beschreiben ... säuerlich?«, meine ich.

»Kein Problem, bis du deine Matratze hier aufschlägst, hat sich das verzogen.«

Ein Ruck fährt durch Will, und er fängt an, mit einer aufgesetzten Stimme zu sprechen.

»So, Herr Paul, wenn ich ihnen ihre neuen Gemächer zeigen dürfte?«

Er hält die Tür auf, macht eine Verbeugung und winkt mich übertrieben hinein.

»Zu ihrer Linken sind die Ess- und Kochbereiche. Zur Rechten haben wir ein Wohnzimmer, womöglich für ausgelassene Feierlichkeiten, und wenn sie mir bitte nach oben folgen würden.«

Er springt mit großen Sätzen die Treppe hinauf. Ich folge ihm.

»Hier haben wir dann das Schlafzimmer, mit einem Balkon zum Platz und auf der anderen Seite ein Bad.«

»Danke, Herr William«, entgegne ich. »Fehlen nur noch die Möbel.«

»Die kannst du dir quasi Stück für Stück aus dem Bona-Fama holen oder du fragst Alex, er macht die Schränke, Stühle und Tische genau auf Maß.«

»Irgendwie verrückt, ich wache an einem unbekannten Ort auf und bekomme gleich am ersten Tag ein Haus geschenkt. Wie kann ich das je wieder gutmachen?«

Er blickt mich fragend an.

»Geschenkt? Es ist ja nur ein Haus. Schließlich braucht ja jeder eine Unterkunft. — Finde einfach etwas, das du machen möchtest, der Rest ergibt sich dann von selbst.«

»Du meinst etwas Nützliches wie ... Tische schreinern oder Kleidung schneidern? Wer weiß, vielleicht bin ich ja ein Schneider?«

Er zieht die Augenbrauen hoch.

»Ja, wer weiß.«

Ich schüttle den Kopf.

»Nein, wohl eher nicht. Es ist schwierig herauszufinden, was man ist, wenn man nicht mehr weiß, wer man ist.«

»Ach was, das ist nicht schwer. Tue einfach irgendwas ... und das bist du dann!«, erwidert er und nickt.

»Und wenn ich feststelle, dass ich das gar nicht sein will?«

Er blickt mich wieder fragend an.

»Dann machst du halt was anderes.«

Seiner unkomplizierten Logik habe ich nichts Brauchbares mehr entgegenzusetzen.

»Danke, Will, hoffentlich wache ich morgen nicht auf und habe wieder alles vergessen.«

Will gähnt und seine Stimmung wechselt schlagartig in eine matte Müdigkeit.

»Das wirst du nicht. Das ist hier jedem nur einmal passiert«, erwidert er.

»Woher willst du das wissen?«

»Also ... ich weiß es einfach!«

Er taumelt die Treppe hinunter.

»Richte dich erst mal in Ruhe ein. Bin echt müde, war‘n langer Tag. Maria wird dir morgen sicher die Schmiede zeigen. Du wirst staunen, sag ich dir.«

»Ich bin gespannt«, erwidere ich.

Nachdem er gegangen ist, hole ich die Matratze, das Kissen und die Decke aus dem Karren und mache es mir im Schlafzimmer bequem. Als ich die Geschehnisse dieses seltsamen Tages durchgehe, überkommt mich tiefe Müdigkeit, der ich unvermittelt nachgebe.

Die unbeschriebene Welt

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