Читать книгу Die unbeschriebene Welt - Robert Hoffmann - Страница 7

Оглавление

Der Sonnenschirmmacher

(.| )

Vom Balkon aus betrachte ich den alten, knorrigen Baum in der Mitte des Platzes. Die Morgensonne wirft lange, goldgelbe Schatten. Es sind nur wenige Tage vergangen, seitdem ich die Stadt zum ersten Mal betrat und dennoch finde ich mich in Memoria gut zurecht. Die Menschen hier besitzen eine Ruhe, die schwer mit Worten zu beschreiben ist. Die meisten fanden etwas, dass sie mit großer Hingabe tun. Ob es Brot backen, Getreidefelder bestellen oder Kleidung schneidern ist, sie tragen ihren Teil zur Gemeinschaft bei; dies gibt ihnen eine innere Zufriedenheit, die sich auf andere überträgt. Und obwohl viel Arbeit in allem steckt, ist das Leben von einer mühelosen Leichtigkeit geprägt.

Was ist mein Beitrag? Wann stelle ich etwas in das Bona-Fama? Mich fordert natürlich niemand dazu auf, dennoch — es nagt an mir. Ich nehme das Q und lege eine Notiz an. Zunächst sollte ich herausfinden, was ich überhaupt kann. Da ich keine Erinnerung mehr habe, muss ich wohl einiges ausprobieren. Am besten, ich erstelle mir eine Liste. Es müsste etwas sein, das mich interessiert. Ich beginne zu schreiben:

Wo bin ich hier?

Gibt es noch andere Städte wie Memoria?

Wieso sind wir hier alle erinnerungslos aufgewacht?

Mir wird klar, dass es die Rätsel dieser Welt sind, die mich interessieren. Aber wie kann dies für das Bona-Fama nützlich sein? — Die Gegend zu erkunden könnte vielleicht zu einer Karte führen. Ich berühre wieder das Q, die Buchstaben flackern kurz auf und verblassen dann gänzlich. Mein Finger streift über die Oberfläche, aber es bleibt ohne jede Reaktion — nur noch ein flaches Stück Metall. Beim Ablegen des Qs merke ich eine Spannung in der Haut, die von der rechten Schulter bis zum Oberarm reicht. Dieses Spannungsgefühl plagte mich schon die ganze Nacht. Die Haut fühlt sich dort uneben und verdickt an. Ich blicke in die verspiegelte Tür meines Kleiderschranks. Auf dem Rücken, der Schulter und dem Oberarm ist die Haut hell, porenlos und mit leichten Vernarbungen durchzogen. Ich erschrecke für einen Moment, prüfe dann die Haut an der anderen Schulter — dort ist alles normal. Was ist mit mir passiert? Ein Unfall? Ich schaue meinem Spiegelbild in die Augen, als könne ich eine Antwort herauslesen. Es ist ein seltsames Gefühl, als hätte jemand Fremdes sich meinen Körper ausgeborgt und ihn beschädigt wieder zurückgegeben. Ich werde am besten Jules einen Blick darauf werfen lassen und ihn auch gleich fragen, was mit dem Q los ist.

***

»Jules wohnt am Rande der Stadt, nördlich vom Brunnenplatz«, erklärt mir Maria. »Es ist das Gebäude mit dem Gewächshaus im Vorgarten.«

»Danke, warst du gerade auf dem Weg zu mir?«, erwidere ich.

Sie schüttelt den Kopf.

»Sid kam gestern noch aufgeregt zu mir und meinte, dass du vermutlich recht hattest mit dem Erz. Ich bin auf der Suche nach Will, um ihm zu sagen, dass er sich den Tog nehmen soll. Wir brauchen anderes Erz, für weitere Tests.«

»Wisst ihr schon, wo es noch anderes Erz gibt?«

»Ja, in Richtung des Secum liegen einige Gesteinsfelder, aber das war uns bisher zu weit weg.«

»Gibt es eigentlich noch mehr Siedlungen wie Memoria?«

Maria dreht sich langsam von mir weg.

»Anfangs haben wir die Gegend etwas sondiert, aber wir sind auf keine weiteren Siedlungen gestoßen. Alles, was wir weit draußen fanden, waren Brunnen.«

»Ach, es gibt noch andere Brunnen?«

»Paul, lass uns besser ein anderes Mal darüber sprechen. Ich habe dort hinten gerade Will gesehen.«

»Natürlich«, meine ich, kann jedoch meine Enttäuschung nicht verbergen. Maria dreht sich um, geht einige Schritte, hält inne und richtet den Blick wieder zu mir. »Ach so, Paul, morgen Abend wird Der Sonnenschirmmacher aufgeführt. Wollen wir uns das ansehen?«

»Oh, sicher.«

»Schön, ich hole dich dann ab.«

Ich schaue ihr kurz nach und setze schließlich meinen Weg zu Jules fort.

***

»Das sind Brandwunden! Meines Erachtens gut verheilt. Die Vernarbungen führen zu dem Spannungsgefühl, ist infolgedessen normal. Ich hole dir etwas zum Eincremen der Narben,« erklärt Jules und geht aus dem Zimmer.

Ich schätze ihn auf Ende fünfzig, allerdings ist das schwer zu sagen, er besitzt eine sehr dynamische Ausstrahlung. Seine Haare sind grau meliert und seine Schläfen schneeweiß. Die blaugrauen Augen haben einen präzisen, durchdringenden Blick. Seine Wohnung sieht aus wie eine Mischung aus Gewächshaus und Labor. Auf dem Tisch liegt ein Stapel von Qs. An den Wänden hängen einige Skizzen von der Schmiede und dem Brunnen. Auf der anderen Seite des Raumes gibt es ein Regal mit Töpfen, in denen die verschiedensten Pflanzen wachsen.

Er betritt schnaufend das Zimmer.

»Hier habe ich dir einen Becher davon aufgefüllt«, sagt er und reicht mir ein kleines Glasgefäß mit einer gelben Salbe.

»Einmal täglich, am besten kurz vor dem Zubettgehen, dünn auftragen, das sollte das Spannungsgefühl deutlich lindern.«

»Danke, Jules.«

Er schaut mich musternd an.

»Normalerweise würde ich diese Frage nicht mehr stellen, aber ... erinnerst du dich an irgendetwas bezüglich der Brandwunden?«

»Nein, leider nicht. Kannst du abschätzen, wie alt die Wunden in etwa sind?«

»Ich würde, angesichts des Heilungszustandes, auf ein bis zwei Jahre schätzen.«

Ich greife in meine Tasche und nehme das Q heraus.

»Maria meinte, dass du dich am besten mit den Qs auskennst. Es ist plötzlich einfach ausgegangen.«

Er nimmt das Q und schaut es prüfend an.

»Hm ... die Energie wird aufgebraucht sein, kommt nicht allzu oft vor.«

Er geht zu dem Regal, legt das Q auf einen dunklen Kasten und wirft einen Glob hinein.

»Ist das eine Ladeplatte?«

»Korrekt.«

»Du hast hier sehr viele von den Qs«, sage ich und zeige auf den Stapel, »bist du der Einzige, bei dem man sie aufladen kann?«

Er schüttelt den Kopf.

»Keineswegs. Vielleicht besitzt nicht jeder eine Ladeplatte, aber einige schon. Ich experimentiere zurzeit mit den Qs, daher ist es sehr nützlich eine davon hier zu haben«, erzählt er und zeigt auf die Notizen.

»Experimente? Was versuchst du herauszufinden?«

Er zieht seine grauen Augenbrauen hoch.

»Ja ... wir Spätankömmlinge sind wissbegierig, das haben wir den anderen voraus«, meint er. »Ich möchte besser verstehen, wie die Qs funktionieren und wie sie kommunizieren, beziehungsweise ob sie untereinander Daten versenden können.«

»Du meinst, sodass wir uns Nachrichten schicken könnten?«

»Richtig, sodass wir uns Emails schicken können«, erklärt er und fixiert mich mit seinen blaugrauen Augen. »Email ... sagt dir das etwas, Paul?«

»Ja ... jetzt wo du es erwähnst ...«

Seltsam, wie mir in Memoria immer wieder Wörter begegnen, die bisher bedeutungslos waren, so als hätte es sie und das, was sie beschreiben, zuvor gar nicht gegeben.

»Sich Nachrichten mit dem Q schicken zu können, wäre natürlich praktisch. Aber wieso glaubst du, dass die Qs dazu überhaupt in der Lage sind?«

Er nickt. »Zum einen können die Qs bereits mit der Schmiede kommunizieren. Allerdings bisher nur, wenn sie direkt auf der Konsole liegen«, entgegnet er, nimmt ein Q von seinem Tisch und reicht es mir herüber. »Versuche mal damit auf deine Texte zuzugreifen.«

Ich öffne die Tastatureinblendung und sehe dort, obwohl es ein anders Q ist, tatsächlich meine Texte.

»Also werden die Daten nicht im Gerät gespeichert, aber wo dann?«

Er hebt den Zeigefinger.

»Richtig, das ist die Frage. Meiner Meinung nach im Brunnen.«

Ich nicke. »Ja, das würde Sinn machen, schließlich ist der Brunnen die Grundlage von Memoria. In dem Fall müssten die Qs mit dem Brunnen natürlich in Verbindung stehen. Aber ... Moment, warum funktioniert es dann nicht schon? Wieso sehe ich nur meine Texte und nicht alle, die auf dem Brunnen gespeichert sind?«

Jules zieht wieder seine grauen Augenbrauen hoch und nickt.

»Paul, du besitzt eine schnelle Auffassungsgabe. Du siehst nur die Daten, welche zu deinem Login gehören.«

»Login? Ich habe mich doch gar nicht eingeloggt.«

»Dies geschieht demzufolge automatisch. Meines Erachtens über den Fingerabdruck bei der ersten Berührung«, erklärt er.

»Das ... wäre durchaus möglich.«

Er setzt sich an seinen Schreibtisch und zieht eine Schublade heraus.

»Paul, erkennst du diese Geräte?«

Ich gehe zu dem Tisch und blicke hinein. Dutzende schmaler Plastikkarten und andere flache Objekte in verschiedenen Farben und Formen sind zu sehen. Ich überleg kurz, dann fällt es mir ein.

»Das sind Handys!«, stelle ich fest, »Wo hast du sie her?«

Seine Stimme wird tief und seine Augen verengen sich.

»Ich wusste es! Paul, ist es dir nicht auch schon aufgefallen? Wir sind anders.«

»Was? Wegen der Handys?«

»Unsinn! Die Leute kamen damit einfach zu mir, sagten, dass sie das bei sich trugen, als sie hier ankamen.«

»Und, funktionieren sie noch?«

»Nein. Ich habe versucht, sie aufzuladen, aber sie sind alle defekt«, erwidert er und schiebt die Schublade wieder zu, »doch das ist nicht der Punkt. Was ich meine ist, dass wir später als alle anderen hier ankamen, infolgedessen sind wir anders. Wir können uns schneller an solche Begriffe wie Handy oder Email erinnern ... und wir wollen wissen, was passiert ist.«

Ich komme ins Grübeln. Kann das sein? Ist die Wirkung des Gedächtnisverlustes bei uns schwächer?

»Vielleicht ist da was dran«, erwidere ich zögerlich.

Er wird immer unruhiger.

»Es ist evident! Und nicht nur das, die Leute haben aufgegeben.«

»Inwiefern aufgegeben? Memoria ist doch voller Leben und überall diese Kunstfertigkeit.«

»Sie haben aufgehört, sich die wichtigen Fragen zu stellen: Wo kommen wir her? Was ist passiert? Wer sind wir? Das interessiert sie nicht mehr, sie sind wie indoktriniert«, entgegnet er mit solcher Empörung, dass seine Wangen erröten.

Ich schüttle den Kopf. »Nein, das glaub ich nicht. Sie haben viel herausgefunden über den Brunnen und die Schmiede.«

»Sicher, ich sage ja nicht, dass sie nichts täten. Aber alles, was vor Memoria war, ist ihnen egal.«

Er hält kurz inne und schaut aus dem Fenster.

»Paul, sag mir, was denkst du, wo wir hier sind?«

»Ich weiß nicht, vielleicht auf einer Insel?«

Er lacht laut.

»Du meinst, auf der Erde? Und wie erklärst du dir den 28-Stunden-Tag?«

»Das ... sicher ein Messfehler ... ich habe darüber noch nicht nachgedacht, aber wo sonst?«

»Dann hast du es noch nicht gesehen?«

»Was gesehen?«

»Sie haben es dir also nicht gesagt oder wissen es nicht einmal mehr. Allerdings macht es auch wenig Sinn, es zu erklären. Wenn du schon die 28 Stunden nicht glaubst, würdest du mich wahrscheinlich für verrückt halten. Du musst es dir selbst anschauen.«

»Was?«

»Nimm dir den Tog und fahre immer entgegen der Richtung des Wolkenzugs«, erklärt er und zeigt aus dem Fenster.

»Was ist dort?«

»Das musst du herausfinden.«

In diesem Moment klopft es an der Tür.

»Ja, ich komme!«, ruft er. »Siehst du, dein Q ist wieder voll einsatzbereit«, erklärt er ruhig, als hätte die Diskussion nie stattgefunden.« Er reicht mir das silberne Gerät und geht zur Tür.

»So, Paul, ich habe nun im Theater zu tun. Du kommst doch morgen Abend zur Aufführung?«

»Ja, mit Maria.«

***

»Das wird großartig!«, meint Will, während wir uns auf den Weg zu meinem Haus machen. Ich packe mir den großen Stoffsack und schwinge ihn mir über die Schulter.

»Mina hat mir da wirklich viel Kleidung gegeben. Gut, dass du mir beim Tragen hilfst.«

»Natürlich, du musst heute Abend schließlich was hermachen.«

»Worum geht es in dem Theaterstück überhaupt?«

»Mina wollte mir nichts verraten. Ich weiß quasi nicht mehr, als dass es von einem Sonnenschirmmacher handelt. Maria war übrigens gestern auch bei Mina ... hat sich ein wirklich schönes Kleid ausgesucht«, meint er und lächelt mich an.

Die Dielen der Holzbrücke knarren unter unseren Füßen. Ich muss an Maria denken, an ihren schwungvollen Gang und wie sich ihre braunen Haare über der Schulter kräuseln.

»Hat sie mit dir bereits über das neue Erzfeld gesprochen?«, frage ich.

»Ja, ich werde mich gleich morgen auf den Weg machen. Willst du nicht mitkommen?«

»Natürlich, das wollte ich dich gerade fragen. Warst du schon einmal dort?«

Er nickt. »Ich bin dem Secum schon einmal gefolgt, hab die Erzfelder aber nur von Weitem gesehen. Damals, als wir noch die Gegend erkundet haben.«

»Warum habt ihr das Erforschen der Umgebung aufgegeben?«

»Naja, es gab keinen zwingenden Grund mehr dafür.«

»Keinen Grund? Die unbekannte Gegend zu erkunden kann nur von Vorteil sein, dafür braucht man doch keinen weiteren Grund?«

Er hebt abwehrend die Hand.

»Paul, da redest du quasi mit dem Falschen. Ich fahre gern mit dem Tog raus. Ja ... und morgen ist es wieder so weit, das wird ein Riesenspaß!«

»Ich würde danach gerne noch einmal zum Wasserfallplateau. Mein Notizbuch muss dort oben irgendwo liegen.«

»Ach so? Können wir machen ... mal gucken, ob die Treppen überhaupt noch stehen.«

Als wir an meinem Haus ankommen, reicht mir Will den Stoffsack mit der Kleidung.

»Okay, ich geh dann mal rüber zu Austin. Werd ihm sagen, dass wir morgen den Tog brauchen. Wir sehen uns dann nachher im Theater«, meint er.

»Gut. Bis dann.«

Nachdem ich einige Jacken, Hemden und Hosen durchprobiere, finde ich schließlich etwas, das mir angemessen erscheint. Die restliche Kleidung sortiere ich in den bisher nahezu leeren Schrank ein. Ich nehme mein Q und setze mich in den Sessel. Maria wird sicher bald kommen, die Dämmerung legt sich bereits über die Stadt. Mir fällt wieder das seltsame Gespräch mit Jules ein. Ich denke, ich sollte Maria davon vorerst nichts erzählen. Es erscheint mir sinnlos, irgendwo hinzufahren, um nach etwas zu suchen, von dem ich nichts weiß. Ich schaue auf mein Q und frage mich, ob es tatsächlich mit dem Brunnen in Verbindung steht. Sich Nachrichten mit den Qs schreiben zu können, würde die Kommunikation natürlich erheblich vereinfachen. Vielleicht könnten wir dann auch Kontakt mit anderen Siedlungen aufnehmen, sofern es da draußen überhaupt noch weitere gibt.

»Wer sitzt denn hier so betrübt?«, höre ich plötzlich eine Stimme.

»Maria! Wo sind die ... Sonnen...«, stottere ich.

Sie trägt eine rote Schleife im Haar und ein ebenso rotes, langes Kleid, das mit einem silbernen Blumenmuster durchsetzt ist. Sie schaut mich andächtig mit ihren tiefen, braunen Augen an.

» ...schirme!«, versuche ich, meinen Satz zu beenden.

»Sonnenschirme? Naja, bei dem Wetter sollten es besser Regenschirme sein, aber noch ist alles trocken«, erwidert sie.

»Dann sollte das Stück wohl besser Der Regenschirmmacher heißen?«

»Ach, das klingt so trübsinnig, dann würde ich es mir nicht anschauen wollen«, erwidert sie und ihr Grübchen kündigt ein Lächeln an.

Ich streife mir das Jackett über und wir machen uns auf den Weg.

»Wo befindet sich das Theater eigentlich?«

»Es liegt vor dem großen Tor, etwas außerhalb von Memoria, in einer breiten Senke. Daher haben wir es ohne dem Brunnen, komplett mit eigenen Händen, errichten müssen.«, erklärt sie.

»Wieso ausgerechnet dort?«

»Es heißt, dass Mina beim Pilze sammeln im Wald, ein Lied vor sich hingesungen hat. Ja ... und da sei ihr dort die perfekte Akustik aufgefallen.«

»Mina singend beim Pilze sammeln im Wald? Das hört sich beinahe selbst wie ein Theaterstück an.«

Sie lacht und gibt mir einen Klaps auf den Arm. Von allen Seiten treffen immer mehr Menschen zusammen und strömen den Weg hinunter zum Theater. Das Gewirr von Stimmen und Gelächter erzeugt eine knisternde, erwartungsfrohe Atmosphäre.

Das Theater ist größer, als ich es erwartet hatte. Die Senke ist kreisförmig und nimmt zur Mitte hin an Steigung ab. Es erinnert mich von der Form an etwas, ... dessen Name mir im Moment nicht einfallen will. Die Bühne wurde in den gegenüberliegenden Hang hineingebaut. Sie erstreckt sich bis beinahe zur Mitte des Beckens und wird von einer aufwendigen Holzkonstruktion umrahmt. Die in einem Halbkreis angeordneten, weißen Bänke reichen Reihe für Reihe bis zum obersten Rand der Mulde. Jetzt fällt es mir ein — die Form erinnert mich an eine riesige Radioschüssel. Dieser Eindruck wird von einem schlanken Mast, der vom Bühnengerüst bis in die Mitte ragt, noch verstärkt. Von ihm aus verlaufen Gewebebahnen wie die Speichen eines Rades über das gesamte Theater. Den Eingang säumen zwei lebensgroße Holzfiguren. Eine davon stellt eine Frau in einem langen Gewand dar, sie hat die Augen geschlossen und ist in ein Harfenspiel vertieft. Bei der anderen Figur handelt es sich um einen Mann, der mit gespitzten Lippen in eine Querflöte bläst.

»Da ist Will«, bemerkt Maria und zeigt auf eine der hinteren Reihen.

»Ihr seid ja spät dran«, meint er angespannt, als wir uns zu ihm setzen.

»Der Bau ist sehr beeindruckend«, meine ich, »und das, wo er ohne Brunnen errichtet wurde.«

Will nickt. »Ja, das war ein ganzes Stück Arbeit, hat echt ewig gedauert.«

Maria meint, dass das Einsetzen der Bänke sogar länger gedauert hat als der Bau der Bühne selbst.

Ein Gong erklingt. Der Ton schwebt für einige Sekunden klar und weich im Raum, bis er sich ausbreitet — an all den Ecken und Kanten bricht und schleichend an Stärke verliert. Zur selben Zeit schwillt ein gelbes Licht an, als würde es die Energie des Tons verschlingen und in Helligkeit umwandeln. Die Bühne löst sich nun leuchtend aus der Dämmerung heraus und der Vorhang gleitet geräuschlos zur Seite. Mina tritt in das Licht. Ein einfaches, weißes Gewand fällt von ihren Schultern in unzähligen Falten herab. Sie schreitet bis zum linken Bühnenrand. Ihr schweifender Blick scheint jede Reihe zu sondieren, dann hebt sie die Hand, als würde sie in dem lautlosen Theater um Ruhe bitten.

»Es gibt Geschichten, die berichten von Helden und ihrem Kampf gegen übermächtige Dämonen, von Hinterlist, Mord, Liebe und Leidenschaft. Die Geschicht‘, die ich euch heut‘ erzählen will, besitzt gewiss von allem etwas, und doch ist sie ganz anders. Es ist die Geschicht‘ von Phil, dem Sonnenschirmmacher.«

Ein kleiner Mann mit kurzem, grauen Haarkranz betritt die Bühne. Er blickt suchend über den sandigen Boden. Sein Hemd und seine Hose sind völlig zerschlissen. Hin und wieder durchzieht er mit einem Stock prüfend das Erdreich. Im Hintergrund befinden sich Palmen, aufgemalt auf einer Leinwand. Er kniet sich nieder, scharrt etwas frei und streift den Sand davon ab.

»Ja, genau, was ich suche!«, ruft er. »Diese Muschel hat die richtige Form.«

Das Licht fällt wieder auf Mina.

»Phil war ein Reisender auf der Suche nach dem Baum der Wahrheit. Seinerzeit gab es einen weitverbreiteten Glauben an ein verzaubertes Gewächs. Es sollte die Gabe besitzen, einem zu offenbaren, wer man sei. Menschen, so die Mär, welche unter dem Baum nächtigten, riefen am Morgen voll Freud: Nun kenn ich meinen Klang im Lied der Welt!«

Ein weiterer Vorhang öffnet sich und offenbart die ganze Tiefe der Bühne. In einer einfachen Hütte fertigt Phil aus Ästen und Stroh ein Gestell an. Erst als er es mit großen Blättern bedeckt, erkenne ich, dass es sich um einen Schirm handelt. Die geriffelte und geschwungene Form erinnert tatsächlich an eine Muschel.

Mina tritt erneut am Rand der Bühne hervor.

»Phil war sich sicher, dass der Baum jenseits des großen Ozeans liegen müsse. So nahm er das nächste Schiff.« Sie bewegt sich einen weiteren Schritt nach vorn. Auf ihr Gewand fällt ein flackerndes Licht. »Aber dann zeigte das Meer sein teuflisches Gesicht: peitschende Winde, gewaltige Wellen, panische Schreie im berstenden Körper aus Holz und Metall. Phil rettete sich auf eine Planke und nach endlosen Tagen spülte es ihn an diese Insel.«

Im Hintergrund fertigt Phil weiter seine Schirme an.

»Dies alles hat ihm der Schreck längst aus seinem Verstand geraubt. Im Wald traf er auf seltsame Eingeborene. Sie nahmen ihn auf und teilten ihr Essen mit ihm. Er bedankte sich mit dem Einzigem, das er nicht vergessen hatte, mit dem, was er am besten konnte.«

Phil tritt vor die Hütte. Von allen Seiten erscheinen Darsteller mit verzerrten Masken. Sie tanzen in einer merkwürdig gebückten Haltung um ihn herum. Er nimmt seine Schirme und verteilt sie unter den Maskenwesen.

»Ja, Franziskus, du bekommst auch einen, ... und du Sophia, du auch. So seid ihr immer geschützt vor der Sonne, meine Freunde.«

Sie nehmen die zerbrechlichen Objekte gerne an, scheinen jedoch nicht zu verstehen, wozu sie gedacht sind. Einer schlägt den Schirm freudig gegen einen Baum, ein anderer dreht seinen Schirm auf den Kopf und setzt sich hinein. Phil beachtet es nicht weiter. Der Schiffbruch hat seinem Verstand offensichtlich schwer zugesetzt. Er fängt an, wirre Geschichten zu erzählen.

»Wollt ihr wissen, wie ich hierher fand?«

Die Eingeborenen scharen sich um ihn.

»Ich segelte auf Schnee, ... natürlich kein echter Schnee. So nannte ich mein Schiff. Hatte es mir aus dem Salzbaum geschnitzt. Der wächst hier nicht. Das Holz, das ist ganz weiß, so wie das Fruchtfleisch der Kokosnuss. Ihr müsst wissen, es hatte keine Segel, also ... keine über dem Wasser. Zwei Krebsscherensegel unter dem Bug, in den Planktonwind gesetzt, gaben ihm den Antrieb. So machte ich beinahe zwanzig Knoten, selbst bei stärkster Flaute. Nur ... die See ist hungrig in diesen Breiten, langsam aber unaufhaltsam fraß es das weiße Holz. Hilflos musste ich zusehen, wie es sich auflöste, wie es unter meinen Füßen dahin schmolz. Dann als ich auf der letzten Ecke stand, sah ich die Insel, sah, wie sie im Mondlicht glitzerte. Die Sterne tanzten vor Aufregung, immer schneller und schneller. Die Wolken konnten nicht widerstehen und nahmen den Rhythmus auf. Es wirbelte und brauste um mich herum, ich sage euch, Poseidon selbst riss es aus seinem Becken und mich gleich mit. Da spannte ich meinen besten Schirm auf, hielt ihn derart geschickt in den Strom von Äther und Sternenstaub, dass ich — ihr werdet es nicht glauben — doch tatsächlich trockenen Fußes meine Ballen in den Sand des Ufers bohrte.«

Die Eingeborenen geben zustimmende Laute von sich, obwohl ich bezweifele, dass sie auch nur ein Wort verstanden haben. Einer von ihnen reicht Phil eine längliche Frucht.

»Nein, das ist keine gute Form. Ach, Mantis, du musst noch viel lernen, so kann man doch keine Sonnenschirme bauen.«

Maria beugt sich zu mir herüber. »Das ist allem Anschein nach doch ein trauriges Stück. Ich wünschte, es würde nun regnen«, flüstert sie.

In der nächsten Szene sucht Phil wieder den Strand ab, dabei stößt er auf angespülte Kisten und Trümmerteile.

»Von wo kommt das denn her?«

Ein Klopfen dringt aus einer der Kisten. Er geht einige Schritte auf sie zu, da springt sie auf. Eine Frau fällt heraus, ich erkenne sie an ihrem weißen Gewand — es ist Mina. Phil kniet sich neben sie.

»Wer bist du?«

Plötzlich öffnet sie die Augen und packt ihn am Arm.

»Phil, es ist an der Zeit; verliere die Welt, erlange die Freiheit«, raunt sie.

Er erstarrt. Ein dünner Vorhang — eher ein Schleier — fällt herab. Dahinter verliert sich die Szene in unscharfe Schattenspiele.

Als sich der Vorhang wieder hebt, liegt Phil zwischen den Trümmern am Strand. Von Mina fehlt jede Spur. Er richtet sich mühsam auf und reibt sich die Augen.

»Ich ... ich erinnere mich, ... das sind die Reste der Astonia. Ein Gewitter zog auf, der Mast brach, ... ich hatte Glück, eine Planke wurde mir ein Rettungsfloß. Wo bin ich? Gab es im Wald nicht eine Siedlung?«

Er scheint wie ausgewechselt. Seine Körperhaltung lässt ihn nun größer erscheinen und in seiner Stimme liegt eine Zielstrebigkeit. Er muss nicht lange nach der Siedlung suchen. Die Eingeborenen tauchen auf und umkreisen ihn wieder. Diesmal jedoch haben sie ihre Masken verloren. Affengesichter, die auf die Darsteller gezeichnet wurden, kommen zum Vorschein. Sie geben Affenlaute von sich und bewegen sich nun wie welche. Einige benutzen die Sonnenschirme, um sich zu kratzen, andere versuchen damit Früchte zu pflücken. Phil sackt auf die Knie.

»Ich Narr, ich hab unter Affen gelebt!«

In den nächsten Szenen fertigt sich Phil aus den Resten der Astonia ein Floß an. Er kann sich nicht verzeihen, Affen für Menschen gehalten zu haben.

»Ich bin doch nicht verrückt! Ich muss mir beim Schiffbruch den Kopf gestoßen haben. Sobald ich den Baum der Wahrheit finde, kann er mir sicher sagen, was das alles zu bedeuten hat.«

Phil setzt das Floß in Bewegung und hält Ausschau nach Rettung. Schließlich trifft er auf ein Handelsschiff, das ihn an Bord nimmt. Der Kapitän erklärt ihm, dass er auf dem Weg zur Stadt Riga sei. Phil ist sehr erfreut, da er einst gehört hat, dass der Baum sich irgendwo im Umkreis von Riga befinden soll. Er fragt den Kapitän, ob er schon von dem Gewächs gehört hätte.

»Natürlich! Ich bringe regelmäßig Pilger auf die andere Seite des Ozeans. Aber ich halte es nur für eine Legende.«

»Nein, es gibt einfach zu viele Hinweise, die können doch nicht alle erfunden sein. Es soll sogar ein Buch geben, das Arbor Vera, in dem der Weg genau beschrieben sei«, erwidert Phil.

Der Kapitän nickt. »Ja, ich hielt es sogar schon in der Hand. Ein Pilger zeigte es mir einst.«

Phils Augen springen auf. »Erzählte er ihnen auch, wo er es erworben hatte?«

»Nein, aber soviel ich weiß, kam er aus Riga. In der Stadt gibt es einige Buchhändler. Sie sollten es dort probieren.«

In der nächsten Szene durchstöbert Phil Bücherregale, die auf Leinwandbahnen gezeichnet, von der Bühne hängen. Er trifft auf den Buchhändler, der ihm erklärt, dass es einige Abschriften des Arbor Vera gebe, die aber wertlos seien, da sie die Karten nicht enthielten. Nur der uralte Einband im Museum von Riga sei noch komplett.

Phil macht sich sofort auf, betritt das Museum und findet nach kurzer Suche tatsächlich das Buch. Es liegt unter einer der Vitrinen. Das Interesse der meisten Besucher fällt jedoch auf eine silberne Lanze, dem offensichtlichen Prunkstück des Museums, auf der anderen Seite des Raumes. Auf dem Einband ist ein goldener Baum zu erkennen, darunter steht in roten Buchstaben: Arbor Vera. Er blickt prüfend um sich, wickelt seine Hand in den Mantel und nähert sich der Glasscheibe. Der Vorhang fällt.

Als er sich wieder öffnet, betritt Phil ein einfaches Zimmer mit einem kleinen Tisch. Er greift unter seinen Mantel, zieht das Buch hervor und legt es darauf ab. In den nächsten Szenen sieht man ihn in die Seiten vertieft.

»Das ist es!«, ruft er mit einem Mal. »Ich muss die Feuerhöhlen durchqueren, den Pfad durch das blaue Moor beschreiten, und dem Fluss Somnus zur Quelle folgen. Hier steht es: An der Quelle des Stroms grab ich meine Wurzeln, an der Quelle ergießt sich mein Wissen in den Schlaf.«

Phil erkundigt sich in der Stadt nach der Feuerhöhle. Einige erzählen ihm von einer Felsengrotte, andere von Klüften, in denen Bären hausen. Schließlich findet er jemanden, der ihm von einer glühenden Höhle im Süden berichtet. In den nächsten Szenen irrt Phil mit einer flackernden Laterne über die mit grauen Tüchern verhangene Bühne. Hin und wieder tauchen leuchtende rauchende Spalten auf. Bei dem Überspringen einer breiten Lavaspalte verbrennt er sich beinahe den Fuß. Er irrt durch die Gänge. Immer mehr glühende Risse und Spalten tun sich um ihn herum auf. Phil ist orientierungslos und blättert hektisch durch das Buch.

»Ja ... hier ist eine Karte der Höhle, ... aber ... wo bin ich?«

Schließlich betritt er einen großen Dom, von dem drei Abzweigungen weiterführen.

»Diese Stelle, sie war doch markiert ... ja ... die große Kreuzung ... hier ist es!«, ruft er und tippt auf die Karte. Er findet die Orientierung wieder und folgt dem eingezeichneten Weg.

Als er endlich aus der Höhle tritt, liegt kein Moor, sondern eine Steppe vor ihm. Unbeirrt setzt Phil seinen Weg fort. Die Nacht bricht herein, und ein heulendes Geräusch schreckt ihn auf.

»Wer ist da?«

Knurrende Darsteller umkreisen ihn auf allen vieren. »Wölfe«, höre ich Will neben mir flüstern. Sie greifen ihn an. Er versucht, sich mit einem Knüppel zur Wehr zusetzen. Inmitten des Chaos fällt der Vorhang. Unruhe im Publikum.

Als sich der Vorhang öffnet, ist der Kampf vorbei, und Phil hält sich den blutenden Kopf.

»Nur das Ohr, ... mehr bekommt ihr nicht von mir!«, flucht er.

Phil verbindet sich mit einem Tuch den Kopf und setzt seinen Weg fort. Nach einer Weile sieht er in der Entfernung die Lichter einer Siedlung. Er ist völlig euphorisiert, als er erkennt, dass ein schmaler Fluss aus ihr herausführt.

»Der Somnus! ... Bald werden all meine Mühen belohnt.«

Phil betritt die Stadt und ist sichtlich verwirrt, als er feststellt, dass niemand dort je von dem Baum der Wahrheit gehört hat.

»Die Quelle des Flusses liegt etwas außerhalb der Stadt«, erklärt ihm ein Anwohner. »Allerdings ist dort mittlerweile ein Stausee.«

In der nächsten Szene steht Phil auf einer Holzkonstruktion — dem Staudamm — und beugt sich kopfschüttelnd über das Geländer. Nicht weit von ihm schlägt jemand mit einer Axt einen Holzpfahl spitz. Er bemerkt Phil und stellt seine Arbeit ein.

»Ziemlich beeindruckend, nicht wahr?«, meint er. »Der Damm treibt alle unsere Mühlen und Maschinen an. Ich bin Murus, der Dammwächter.«

Phil blickt ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht an. »Ihr Narren! Ihr habt den Baum der Wahrheit ertränkt. Warum habt ihr das getan?«

Murus schaut ihn verwirrt an.

»Da ... da unten im See sind viele Bäume, aber ... es sind ja nur Bäume.«

Außer sich vor Wut greift Phil Murus an und schlägt ihn zu Boden. Er nimmt die Axt an sich und haut sie krachend in einen der Pfeiler der Konstruktion.

»Ich werd dich wieder zurückholen. Es ist nicht meine Schuld. Sie wussten nicht, was sie taten!«

Murus rappelt sich wieder auf und packt Phil von hinten.

»Nein! Bist du wahnsinnig? Der Damm wird brechen, und alle in der Stadt werden ersaufen!«

Sie kämpfen um die Axt, bis Murus stolpert und zu Boden stürzt. Phil steht über ihm und holt zu einem Schlag aus.

Ich spüre Marias Hand auf meinem Arm.

Phil verharrt in der Ausholbewegung. Ein dünner Vorhang fällt herab. Nur wenige Sekunden später öffnet sich der Schleier. Phil hält immer noch die Axt in der Hand, jedoch liegt nun nicht Murus, sondern Mina am Boden. Sie streckt ihm den Arm entgegen. »Phil, es ist an der Zeit; verliere die Welt, erlange die Freiheit!«

Er schreckt zurück und lässt die Axt fallen. Sein Körper sackt in sich zusammen, er kauert nieder und weint bitterlich. Der Vorhang senkt sich. Ein Licht fällt auf den rechten Bühnenrand. Mina tritt in den leuchtenden Kegel.

»Es war gewiss nicht leicht für Phil, seine Suche aufzugeben. Für einige Zeit spürte er nichts mehr, nahm die Welt um ihn herum kaum wahr. Die Tage vergingen und er beschloss, ohne ein Ziel vor Augen, weiter zu ziehen.«

Der Vorhang öffnet sich. Phil steht an einer Reling, hinter ihm sind weiße Wolken, aufgemalt auf einer blauen Leinwand zu sehen. Taue und Verstrebungen verlaufen von einem Mast bis zu der Reling herab. Jemand nähert sich ihm von der Seite, ich erkenne ihn wieder, es ist derselbe Kapitän, der ihn einst aus dem Ozean fischte.

»Und, ... konnten sie den Baum der Wahrheit finden?«, fragt er.

Phil zögert. »Nein.«

»Es ist eben doch nur eine Legende«, erwidert der Kapitän.

»Ich weiß nicht, ... aber selbst wenn es ihn gäbe, welcher Antworten könnte ich überhaupt gewahr werden, wenn mich die Suche nach ihm erblinden und ertauben lassen?«

Beide blicken für einige Zeit auf das Meer.

»Wir sind auf dem Weg nach Altus, einem kleinen Land auf einer Halbinsel im Norden. Der König persönlich wird seine Lieferung entgegennehmen. Er liebt solche Geschichten, sie sollten ihm diese nicht vorenthalten.«

In der nächsten Szene legt das Schiff am Hafen an und der Kapitän stellt Phil dem jungen König vor. Sie kommen schnell ins Gespräch und Phil schildert, wie er unter Affen lebte und von seiner Suche nach dem Baum. Der König ist völlig fasziniert von den Abenteuern und lädt ihn zum Speisen an seinen Hof ein. Dort erzählt Phil von seiner Leidenschaft Sonnenschirme anzufertigen. Der König erwidert, dass er zufällig nach einem Hoftischler Ausschau halte.

»Wenn es euch gelänge, unseren Hof mit einigen von euren Schirmen zu erfreuen, würde ich euch die Stelle eventuell offerieren«, meint der König und prostet Phil zu.

»Wenn ihr mir eine kleine Werkstatt bereitstellt, werde ich sofort damit beginnen«, erwidert Phil.

Inspiriert von dem Giebel eines hohen Turmes, den er vom Palast aus mitten in der Stadt emporragen sieht, formt er seine Sonnenschirme. Die Leute am Hof sind begeistert. Seine Schirme werden schnell zur Mode und er wird zum königlichen Hoftischler ernannt. Er erhält einige Zeichnungen, nach denen er neue Möbel anfertigen soll. Phil ist über die seltsamen Formen verwundert, will jedoch den König nicht enttäuschen.

»Ist euch von den Aufständen in der Stadt zu Ohren gekommen?«, fragt der König Phil eines Tages.

»Nein, ich arbeite den ganzen Tag an euren Möbeln. Gegen was begehren sie denn auf?«

»Diese ... Bauern glauben, ich würde zu viele Abgaben verlangen. Sie haben keine Vorstellung davon, wie aufwendig es ist, das Land zu verwalten. Ich liege oft in der Nacht wach und sorge mich, ... ja, sorge mich um jeden einzelnen Bürger. Aber mir scheint, dass nicht jeder meine Sorge verdient.«

»Und wenn ihr versucht, es ihnen zu erklären?«, erwidert Phil.

Der König lacht mit einem Geräusch, das mich irgendwie an eine knarrende Tür erinnert.

»Es sind Bauern und Mägde! Sie können es nicht mit ihren kleinen, winzigen Schädeln begreifen, dafür wurden sie nicht geschaffen«, entgegnet er.

Nun folgen größere zeitliche Sprünge. Phils Werkstatt vergrößert sich, und er bekommt Untergebene. Er nimmt an Leibesfülle zu. Seine Kleidung wird immer pompöser. Allerdings kann er sich an dem Luxus schon lange nicht mehr erfreuen, stattdessen wirkt er angespannt und verhält sich abschätzig gegenüber seinen Bediensteten. Er befürchtet ständig, er könne seinen Stand beim König verlieren. In der nächsten Szene blickt er von seinem Fenster aus auf die Stadt.

»Was ist dort unten los? Der Turm, er brennt! Oh nein, die Meute hat ihn angezündet.«

Sein Entsetzen steigert sich, als er bemerkt, dass die aufgebrachte Menschenmasse, mit brennenden Sonnenschirmen, zum Palast strömt. In Panik sucht er nach dem König und findet ihn, blutüberströmt mit einem Messer in der Brust, tot im Speisesaal liegen. In diesem Moment erstürmen die Aufständischen den Palast. Die Wachen fliehen vor der Überzahl. Der tobende Mob erreicht schließlich den Speisesaal. Sie umkreisen den toten König und starren ungläubig auf den Leichnam.

Der Vorhang fällt. Ein aufgeregtes Gemurmel durchläuft das Publikum. Ich blicke zu Maria hinüber.

»Wie spannend, was so ein Sonnenschirmmacher alles erlebt«, meint sie.

Der Vorhang hebt sich. Phil sitzt auf einem Stuhl. Der Lichtkegel öffnet sich und vor ihm sind nun drei Personen zu erkennen, die ihrerseits an einem großen Tisch sitzen. Die Frau in der Mitte trägt eine schwarze Robe. Einige Zuschauer befinden sich hinter einer roten Kordel als Absperrung auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Ein hochgewachsener, schlanker Mann in einem Frack schreitet eine Weile vor dem Tisch hin und her, dann wendet er sich Phil zu.

»Sie wollen dem Gericht ernsthaft weiß machen, dass sie nichts über den Turm wussten?«

Er nimmt einen Sonnenschirm vom Tisch und öffnet ihn. Empörung bricht im Gerichtssaal aus. Die Richterin muss um Ruhe bitten.

»Und das die Form ihrer Sonnenschirme genau der Turmkuppel entspricht, ... nur ein Zufall?«

Phil wischt sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn.

»Ich ... ich hatte keine Ahnung davon, mir wurde nicht mitgeteilt, dass es sich um ein Gefängnis handelte. Ich sah nur das Dach von meinem Fenster aus und gab den Schirmen die Form, ... ich wusste nicht ...«

Gelächter erschallt im Gerichtssaal.

»Ich habe den Königspalast nie verlassen ...«

Der Ankläger zeigt mit ausgestrecktem Arm auf Phil.

»Ganz genau! Warum verließen sie den Palast nie? Weil sie eben doch von dem Elend und dem Terror da draußen wussten!«

Der Ankläger wendet sich der Richterin zu.

»Ich bitte nun um das Beweisstück.«

Die Richterin nickt. Es wird eine Bank mit Riemen und Ketten hereingetragen.

»Dieses Möbelstück, hier nur als Referenz von über zwanzig Exemplaren, stammt aus ihrer Werkstatt, richtig?«

»Ja ... aber ...«, stammelt Phil.

»Das heißt, sie bauten Folterinstrumente für den König und wussten nichts davon? Wollen sie uns zum Narren halten?«

»Nein, nein, so sah die Bank nicht aus, als sie meine Werkstatt verließ. Von Riemen und Ketten weiß ich nichts.«

Rufe und Aufregung breiten sich im Saal aus. Diesmal hebt der Ankläger die Hände und bittet um Ruhe.

»Ich habe mich erkundigt, es stimmt, dass diese Dinge erst im Turm angebracht wurden. Aber sie fragten auch nicht, wozu die ganzen Ösen und Bolzen nötig sind, ... weil sie es ja wussten!«

Der Vorhang fällt.

In der nächsten Szene läuft Phil in einer Gefängniszelle auf und ab.

»Was wollen diese Bürger nur von mir? Was habe ich ihnen denn getan?«

Mit einem dumpfen, schleifenden Geräusch schiebt sich plötzlich eine Wand zur Seite. Phil bleibt wie erstarrt stehen. Aus dem dunklen Spalt ragt zuerst eine Hand heraus, dann zwei Arme. Eine Gestalt schält sich aus dem Schatten — es ist Mina.

»Phil, es ist an der Zeit; verliere die Welt, erlange die Freiheit«, flüstert sie.

Wieder fällt der dünne, seidige Vorhang und taucht alles dahinter in ein Spiel von dunklen Flächen und Silhouetten. Als er sich schlagartig öffnet, liegt Phil auf der Pritsche. Der Spalt in der Wand wie auch Mina sind verschwunden. Er richtet sich auf und ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Eine neue Szene beginnt im Gerichtssaal.

»Sie baten um das Wort und wollen sich erklären«, meint der Ankläger. »Nun, da bin ich sehr gespannt.«

Phil nickt und erhebt sich von seinem Stuhl. »Ich habe über die Geschehnisse nachgedacht. Es stimmt, dass ich von dem Gefängnis und der Folter nichts wusste, jedoch trifft es auch zu, dass es mich nicht interessierte. Ich hinterfragte nie, wie der König zu seinem Wohlstand kam und wie es seinem Volk ergeht. Die Wahrheit ist, ich war ausschließlich bemüht meinen Besitz und Stand zu mehren, oder zumindest zu halten. Mein Eigennutz entsprang nicht aus einer Boshaftigkeit, er formte sich aus der Furcht. Der Furcht zurückzufallen und der Befürchtung den Erwartungen nicht zu genügen. Dessen bekenne ich mich schuldig.«

Phil setzt sich. Die Stille im Gerichtssaal wird erst von dem sichtlich überraschten Ankläger unterbrochen.

»Über die Schuld haben sie nicht zu entscheiden. Das ist die Angelegenheit der Richterin«, sagt er mit dünner Stimme.

Nach der Anhörung weiterer Zeugen, welche Phils Aussage zu bestätigen scheinen, kommt die Richterin zu ihrem Urteil.

»Ich befinde den Angeklagten für schuldig, jedoch nicht im Sinne der Anklage. Ich bin davon überzeugt, dass er tatsächlich nicht wusste, was im Turm vor sich ging. Die Schuld liegt, wie der Angeklagte selbst ausführte, im Narzissmus. Desinteresse und Egoismus sind jedoch keine Straftaten vor dem Gesetz. Wären sie es, würde ein Großteil unserer Gesellschaft unter Anklage stehen. Dennoch half er dem König und schädigte somit unserem Volk. Da er kein Bürger dieses Landes ist, erkläre ich ihn hiermit zu einer unerwünschten Person. Der Angeklagte wird dazu verurteilt, das Land binnen eines Tages zu verlassen. Ende des Verfahrens.«

In der nächsten Szene nimmt Phil auf einer Bank in einem Zugabteil Platz. Neben ihm befindet sich ein großes Fenster, hinter dem eine aufgemalte Landschaft vorbeizieht. Er blickt in eben diese, als eine dunkelhaarige Frau das Abteil betritt und sich ihm gegenübersetzt.

»Hallo, wenn ich sie fragen darf, wohin geht ihre Reise?«, fragt sie.

»Ich weiß es nicht, ich glaube nirgendwo hin.«

»Das klingt ... melancholisch?«

»Nun, bisher war ich beständig auf der Suche nach einem Sinn, und immer wenn ich dachte, ich hätte ihn gefunden, erkannte ich, dass es nur eine Illusion war. So langsam komme ich zu der Überzeugung, dass es womöglich gar keinen gibt«, erklärt er ohne sich vom Fenster abzuwenden.

»Ah, ich sehe, sie suchten nach einer Bestimmung, einem Zweck im Leben.«

Phil nickt und beide schauen für einige Zeit aus dem Fenster.

»Eine Bestimmung«, meint sie schließlich, »so wie dieser Zug, dessen Zweck es ist, für immer auf dem Gleis zu fahren. Aber ... würde ein solcher Zweck uns nicht ziemlich einschränken? Immerzu auf denselben vorbestimmten Bahnen, nur hier und da bereits gestellte Weichen? Für eine Lok ist dies gewiss alles, was sie braucht, ... nur ... wird der Mensch ja nicht mit Dampf betrieben.«

Phil schaut sie an und lehnt sich zurück.

»Also sind wir zwecklos, sinnlos und bedeutungslos, weil wir Menschen sind«, fährt es aus ihm heraus.

Sie schüttelt den Kopf. »Zwecklos, im Sinne von: frei von Zweck. Aber nicht bedeutungslos. Gerade weil wir zwecklos sind, sind wir frei und können, ja müssen, über Bedeutung selber verfügen, unseren eigenen Sinn bestimmen, ... in jedem Augenblick und immer wieder von Neuem.«

Phil streift sich nachdenklich über das Kinn.

»So hab ich das noch nie betrachtet.«

»Ich bin Silvia«, sagt sie und reicht ihm die Hand.

»Ich bin Phil.«

Sie erzählt ihm, dass sie auf dem Weg zurück in das Rotgebirge sei. Er berichtet ihr, von seiner Suche nach dem Baum der Wahrheit und sie ihm von ihrer Heimatstadt Parius im Rotgebirge. Sie erklärt ihm, dass es dort regelmäßig rot regne und der Schlamm danach alles mit einer ziegelroten Schicht überdecke. Dies käme von der Vulkanasche des Rufus. Er beschreibt, wie er es liebe, sich immer wieder neue Formen für seine Sonnenschirme auszudenken. Sie fragt ihn schließlich, ob er sie nicht nach Parius begleiten möge, wo er doch sowieso kein Ziel habe. Er stimmt zu.

»Phil, wenn du bleiben möchtest, solltest du aber von Sonnen- auf Regenschirme umsteigen. Nicht, dass wir keine Sonnentage hätten, aber der rote Regen ist nicht ohne Grund unser Wahrzeichen.«

Zwischen den nächsten Szenen liegen abermals größere zeitliche Abstände. Phil richtet sich in Parius eine kleine Werkstatt ein und fertigt Regen- und Sonnenschirme an. Er und Silvia werden ein Paar und bekommen eine Tochter. In einer Szene bringt Phil ihr die Herstellung der Schirme bei. Er erklärt dem interessierten Mädchen, welche Stoffe sich für den Schirm am besten eignen und wie der Klappmechanismus funktioniert. Plötzlich durchdringt ein heftiger Paukenschlag das ganze Theater. Einige erschreckte Laute sind im Publikum zu hören. Silvia kommt in die Werkstatt gerannt.

»Phil, es ist, wie wir befürchtet hatten, der Rufus, er ist wieder aktiv! Die Leute sagen, er könnte kurz vor dem Ausbruch stehen.«

»Pack das Nötigste zusammen, wir müssen hier sofort weg!«

Sie rennen durch die Stadt. Auf den Straßen ist ein wildes Durcheinander von hektischen Menschen. Ein weiterer Paukenschlag lässt die Bühne vibrieren. Die Luft ist durchsetzt von kleinen roten Stofffetzen. Alle Darsteller bewegen sich nun wie in Zeitlupe.

»Nein«, haucht Maria neben mir.

Mina läuft von der Seite in die unwirkliche Szene hinein und kommt vor Phil zum Stehen.

»Es ist an der Zeit, ... verliere die Welt, erlange die Freiheit.«

Mit einem Mal löst sich Phil aus der Zeitlupenbewegung und schaut sie ruhig an.

»Jetzt erkenne ich dich. Du bist Mina!«

»Ja, und du bist Alex«, erwidert sie. Er nickt.

Ich bin verwirrt. Natürlich ist das Mina, aber wer ist Alex? Phil wendet seinen Blick in das Publikum. Mit einem Ruck springt er plötzlich von der Bühne.

»Es ist nur ein Theaterstück!«, ruft er und rennt durch die Zuschauerreihen. »Nur ein Theaterstück!«

Das Bühnenlicht erlischt. Der Hauptvorhang fällt herab. Es bleibt nur die Dämmerung und totale Stille. Im Theater sind verwirrte und teilweise erschreckte Blicke zu erahnen. Dann, wie die ersten Tropfen eines heraufziehenden Sommerregens, fallen vereinzelte Klatscher; immer mehr stimmen ein, scheinen kurz einen Rhythmus zu finden, bis alles zu einem tosenden Applaus anschwillt. Der Vorhang hebt sich. Die Bühne wird erleuchtet und die aufgereihten Darsteller verbeugen sich. Will springt neben mir auf und macht sich auf dem Weg zur Bühne.

»Ja, das war fraglos ein überraschendes Ende«, bemerkt Maria. »Ich weiß nicht, war es nun ein trauriges oder doch eher hoffnungsvolles Stück?«

Ich bemerke einige Regentropfen auf meinem Arm.

»Angesichts dessen, dass wir hier in der Nähe eines Wasserfalls und nicht eines Vulkans leben, stimmt es mich eher hoffnungsvoll.«

»Ja, es ist eben eine Frage der Perspektive«, erwidert sie und schaut blinzelnd in den Himmel, dann schüttelt sie den Kopf. »Aber ich will die Welt nicht verlieren, ich finde sie gut, so wie sie ist.«

Ihr Gesicht ist so nahe, dass ich ihren Atem spüre.

»Aber nichts ist für immer, alles ändert sich irgendwann.«

Sie lächelt. »Aber im Moment doch nur zum Guten.«

»Ach, da seid ihr ja noch«, höre ich Will hinter mir. »Mina und ich wollen noch in das Lokal vorn am Brunnenplatz. Wollt ihr nicht mitkommen?«

»Sicher«, erwidert Maria.

Das Lokal ist gut gefüllt, wir finden dennoch einen freien Tisch. Mina, immer noch in ihrem weißen Bühnengewand, wird mit einem kleinen Applaus begrüßt, sie lacht herzhaft und wirkt beinahe etwas verlegen. Von einem der anderen Tische tönt ein Lied herüber, sie stoßen mit ihren Gläsern an und brechen in Gelächter aus. Der Regen prasselt auf das Dach der Veranda, die Tropfen ziehen feine senkrechte Linien, die hier und da im Schein der gelben Laternen durch die Dämmerung flirren. Es liegt ein Geruch von frischem Gebäck und Mandeln in der Luft.

»Mina, ich bin über das Theaterstück wirklich erstaunt«, betone ich. »Die Welt von Phil hatte so viel — wie soll ich sagen — Dinge, mit denen wir in Memoria eher nicht vertraut sind, so als ... wenn sich doch jemand wieder erinnert hätte.«

Sie nickt. »Ja, wir haben einiges an Material im Depot gefunden, eine unsagbare Inspirationsquelle, sag ich euch. Wusstet ihr, dass Will die Rolle des Anklägers angeboten wurde? Aber er wollte nicht.«

Will nippt kurz an seinem Getränk.

»Bin halt kein Schauspieler, ... ist quasi nich‘ meine Richtung.«

»Was meinst du mit: im Depot gefunden?«, frage ich. Maria streicht mit dem Finger über den Rand ihres Glases.

»Im Depot sammeln wir alle Gegenstände, die wir so dabei hatten, als wir hier in Memoria aufgewacht sind«, sagt sie.

»Jules hat mir gestern eine Schublade voll mit Handys gezeigt, ... aber das ist nicht das Depot?«

»Nein«, erwidert sie, »die meisten Geräte aus dem Depot sind mittlerweile bei Jules. Keines von ihnen funktioniert mehr, und er wollte herausfinden weswegen. Das Depot befindet sich im Auditorium, es ist ein kleines Zimmer rechts vom Foyer.«

Mina winkt jemandem zu.

»Joseph, kannst du uns noch einen Krug von dem Gerstenwein bringen? Ach, und natürlich einen Mohnkuchen für uns — das wär ganz lieb«, ruft sie. »Wo waren wir? Ach ja, das Depot, dort haben wir auch ein paar alte Bücher. Das Theaterstück basiert freilich nicht direkt auf einem davon, aber die verschiedenen Schauplätze und so einige Ideen — wie die Szene mit der Gerichtsverhandlung — beruhen schon auf der einen oder anderen Geschichte.«

»Und Paul, was befand sich damals in deinen Taschen?«, fragt Will.

»Ich hatte ein Notizbuch dabei. Voll mit Listen und Abkürzungen, die ich nicht recht verstehe. Leider habe ich es wohl irgendwo oben am Wasserfall verloren.«

Maria schmunzelt. »Nun ja, wenn du damit nichts mehr anzufangen weißt, dann kannst du ja auch darauf verzichten.«

Ich merke, wie mir unwohl bei dem Gedanken ist, das Notizbuch aufzugeben. Irgendetwas, irgendein Hinweis könnte dort vielleicht enthalten sein. Joseph taucht mit der Bestellung an unserem Tisch auf.

»Mina, da hast du aber Glück, das ist mein letzter Mohnkuchen für heute«, sagt er und stellt einen großen Teller vor uns ab. Darauf befindet sich ein kreisrunder Kuchen, umgeben von einigen kleinen Schalen, die mit verschiedenfarbigen Soßen gefüllt sind. Will nimmt sich ein Stück und tunkt es in eine der Schalen.

Mina lacht. »Wie süß von dir, dass du mir immer einen zurückhältst. Übrigens, ich hab ganz neue Stoffmuster, die passen vorzüglich zu deiner Einrichtung. Komm einfach vorbei«, sagt sie und prostet ihm zu.

Will zeigt auf das dunkelbraune Gebäck.

»Paul, probiere ein Stück mit der Pilzsoße, das ist so lecker ...«

»Pilzsoße? Naja, solange sie nicht aus dem Depot kommt.«

Ich nehme ein kleines Stück, tunke es in die Soße und koste davon.

»Also«, sagt Will zögerlich, »quasi ... kommt sie schon von dort.«

Ein leicht fauliger Geschmack breitet sich im Mund aus, und ich schlucke das Stück widerwillig herunter. Es bleibt mir im Hals stecken, und ich muss husten.

»Das Rezept meine ich natürlich, nicht die Pilze«, fügt Will hinzu.

»Die Soße ... schmeckt wirklich wie hundert Jahre alt«, erwidere ich räuspernd.

Mina fängt schallend an zu lachen, und kurz darauf lachen wir alle. Maria meint, dass sie die Pilzsoße auch widerlich finde und ich es mit der Honigsoße probieren solle. Nachdem ich sie koste, verstehe ich, warum der Mohnkuchen hier so beliebt ist. Auch wenn die dunkelbraune, körnige Struktur dem ähnelt, was ich mit Mohnkuchen verbinde, scheint der Geschmack nicht dazu zu passen. Er ist fruchtig, herb und besitzt eine süße Schärfe, die mich an Zimt erinnert.

Wir diskutieren über das Theaterstück und stellen fest, dass jeder eine andere Auffassung davon hat. Für Mina war es ein Riesenspaß. Will meint, dass er es sehr spannend fand und sich frage, ob Phil nicht hinunter zum Baum hätte tauchen können. Maria mochte das Ende nicht, es hätte die Leute zu sehr erschreckt. »Phil hat einmal zu viel die Welt verloren«, meint sie. Ich erwidere, dass ich es gerade deswegen so gut fand und es zum Nachdenken anregt, da Phil mit jedem Verlust auch immer etwas gewonnen hatte.

Der Kuchenteller leert sich schnell, und Joseph schenkt uns von dem Wein nach. Ich erzähle, dass ich an Marias Grübchen erkennen kann, ob sie gleich lachen wird.

»So wie zum Beispiel jetzt!«, meine ich.

Die Blicke springen zu Maria, und sie lächelt breit. Mina winkt ab und wirft ein, dass sie an Wills Ohren erkennen könne, ob er gleich niesen werde. Dann schaut sie betont auf sein Ohr und meint: »Nein, wird er nicht.«

Will blickt sie verwirrt an.

»Seht ihr!«, meint sie schließlich.

Wir brechen wieder in Gelächter aus. Ich nehme mein Glas und lehne mich zurück. Eine wohlige Stimmung breitet sich in mir aus. Es ist einer dieser Abende, die nie zu Ende gehen sollten. Solche Momente müsste man einrahmen und ins Bona-Fama stellen, damit sie jeder erleben kann.

Die unbeschriebene Welt

Подняться наверх