Читать книгу Die Prüfung - Robert Korn - Страница 3
I.
ОглавлениеEs klingelte. P. erhob sich von seinem Stuhl und öffnete kurz darauf die Tür.
Zu seinem Erstaunen stand die Nachbarin aus dem obersten Stock vor ihm, mit der er zuletzt auf dem schon länger zurückliegenden Hausfest gesprochen hatte.
„Entschuldigung!“, sagte sie mit angespannter Miene.„Kann ich Sie einen Moment in Ihrer Wohnung sprechen?“ „Bitte, treten Sie ein!“, antwortete P. Sobald die Nachbarin, eine Frau mittleren Alters, an ihm vorbeigegangen war, schloss er die Tür und folgte der Frau durch seinen kleinen Flur. Erst jetzt sah er, dass sie einen weißen, modisch geschnittenen Hosenanzug trug.
Im Zimmer angelangt, deutete P. auf das rechts vor der Wand stehende Sofa, vor dem ein kleiner, weißer Couchtisch stand. Nach wenigen, raschen Schritten setzte sich die Frau aufs Sofa, streifte von ihrer Schulter die goldfarbene Kette ihrer rechteckigen Umhängetasche und legte diese dicht neben sich.
„Ich komme gerade vom Elternsprechtag“, sagte sie, nachdem sich P. auf einem Korbsessel niedergelassen hatte, den er aus einer Ecke seines Zimmers geholt hatte. „Zu meinem Erschrecken“, fuhr die Frau fort, „habe ich erfahren, dass die Mathe-Leistungen meiner Tochter wieder so schlecht sind, dass sie zum zweiten Mal sitzenzubleiben droht. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie als Mathematikstudent ihr bis zum Ende des Schuljahres Nachhilfe geben könnten. Sie sollen hierfür“, ergänzte die Frau noch, „auch gut bezahlt werden.“ Bei ihren beiden letzten Sätzen hatte sie P. beinah flehentlich angeblickt.
P. konnte der Frau nicht sogleich antworten. „Mein Examen“, sagte er sich, „ist noch nicht ganz abgeschlossen.“ Während er weiter überlegte, ob er der Bitte der Nachbarin entsprechen könne, bemerkte er, dass sich die dunklen Augen der ihm gegenübersitzenden Frau immer mehr verengten. In dem Augenblick, wo ihm schien, dass sie fast schon einen bösartigen Ausdruck annahmen, sagte er: „Sie haben Glück! Da ich, wie mir gerade klargeworden ist, mit der Vorbereitung auf meine mündliche Philosophie-Abschlussprüfung schon recht weit gekommen bin, kann ich Ihrer Tochter auch zweimal wöchentlich Nachhilfe geben.“
P. sah, dass sich die Augen der Frau schlagartig wieder weiteten. „Danke!“, sagte sie geradezu freudestrahlend. Hatte sie vorher mit stark angewinkelten Beinen dagesessen, so schlug sie jetzt eines über das andere.
„Auch ich“, sprach sie, „bin schuld daran, dass meine Tochter in der Schule so schlecht ist. Seit ich vor zwei Jahren zur Projektleiterin ernannt worden bin, habe ich nur noch wenig Zeit, mich um meine Tochter zu kümmern. Hinzu kommt, dass sich mein werter Ex-Mann fast gar nicht an der Erziehung unserer Tochter beteiligt. Ich hoffe“, sagte sie und stockte.
In ihrer Umhängetasche klingelte mit einem Mal ihr Smartphone. Kaum hatte die Frau auf das Display geschaut, sagte sie zu P.: „Einen Moment, bitte!“ und nahm dann den Anruf an. „Ich rufe Sie möglichst bald zurück!“, beendete sie nach wenigen Worten ihr Gespräch. „Ich muss leider gleich ein dringendes geschäftliches Telefonat führen!“ wandte sich die Frau wieder an P.
Sowie sie mit ihm zwei wöchentliche Termine für die Nachhilfe vereinbart und ihm einen tatsächlich guten Stundenlohn genannte hatte, griff sie nach ihrer Tasche und stand ruckartig vom Sofa auf. „Nochmals danke!“, sagte sie, ohne P. dabei anzusehen.
Mit schnellen Stöckelschuhschritten verließ sie die Wohnung.