Читать книгу Die Prüfung - Robert Korn - Страница 4
II.
ОглавлениеKurz vor drei Uhr klappte P. das Buch zu, worin er gerade ein Kapitel über Bias gelesen hatte, einen der sogenannten Sieben Weisen. Um deren Lehren sollte es im ersten Teil seiner mündlichen Philosophieprüfung gehen. Auf den zweiten Teil, dessen Thema viel schwieriger war als das des ersten, hatte er sich schon vorbereitet.
P. ergriff das Buch vor ihm und stellte es kurz darauf wieder in sein links neben der Tür stehendes Bücherregal zurück. Dann ging er über den Flur in seine kleine Küche, von wo aus er einen der beiden dort stehenden Küchenstühle bis zu seiner Schreibtischplatte trug, die auf zwei voneinander entfernten Schubladenelementen ruhte. Nachdem er den Küchenstuhl neben seinem gepolsterten Bürostuhl abgesetzt hatte, entnahm er einer Schublade einen Block mit karierten Blättern und legte ihn auf die Schreibtischplatte.
„Ich werde ihr den bequemen Bürostuhl anbieten, damit sie sich hier willkommen fühlen kann“, dachte P. und setzte sich auf das Sofa, um dort auf die Ankunft seiner Nachhilfeschülerin zu warten. Als sie nach zehn Minuten immer noch nicht erschienen war, wurde er unruhig. Er erhob sich und trat rechts neben der Schreibtischplatte ans Fenster. Von da aus blickte er eine Weile auf die schwach befahrene Straße hinab, die vor dem Haus verlief, worin er wohnte.
Er wollte sich schon vom Fenster abwenden, als er plötzlich sah, dass eine blaue Vespa mit zwei Jugendlichen vor dem Haus hielt. Die weibliche Beifahrerin stieg von der Vespa herunter, nahm ihren silbern glänzenden Helm ab und fuhr sich dann zwei- oder dreimal mit gespreizten Fingern durch ihre langen, dunkelblonden Haare. P. erkannte, dass es sich bei dem Mädchen um seine Nachhilfeschülerin handelte. Nachdem sie ihren Helm in der hinter dem Vespasitz montierten Helmbox verstaut hatte, ging sie zu dem Fahrer und küsste ihn so lange und ungestüm, als müsste sie sich von ihm für immer trennen.
Schließlich hörte es P. an seiner Tür klingeln. Wie er erwartet hatte, stand vor ihr seine Nachhilfeschülerin. Er begrüßte sie mit einem kurzen „Hallo!“ und bat sie einzutreten. Im Zimmer angelangt, schaute er auf seine Armbanduhr und teilte dem Mädchen mit, dass laut Absprache mit ihrer Mutter die Nachhilfestunde schon vor fünfzehn Minuten hätte beginnen sollen. „Tut mir leid!“, sagte das Mädchen mit betont treuherzigem Augenaufschlag, „der Bus, mit dem ich gekommen bin, stand im Stau.“
„Seit wann fahren Busse auf zwei Rädern“, wollte P. sagen, unterließ es jedoch, um die erste Nachhilfestunde nicht in einer Missstimmung zu beginnen. Stattdessen wies er auf den Bürostuhl und bat das Mädchen, dort Platz zu nehmen. Bevor sie es tat, nahm sie ihren rotfarbenen Rucksack ab und stellte ihn neben ihrem Sitzplatz auf dem Boden ab. Als sie schließlich nebeneinander vor der Schreibtischplatte saßen, drehte sich P. leicht zu dem Mädchen hin und fragte sie nach dem derzeitigen Thema ihres Mathematikunterrichts.
Eine Zeitlang blickte sie angestrengt durch das Fenster vor ihnen. Dann sagte sie lediglich: „Altersaufgaben.“ „Kannst du mir ein Beispiel dafür geben?“, fragte P. und erhielt von dem Mädchen eine Antwort, mit der er nur wenig anfangen konnte. Er bat sie deshalb, ihm ihr Mathematikbuch und Mathematikheft zu geben. Nach einem kurzen Blick in ihren vorher hochgehobenen Rucksack hob sie bedauernd die Schultern. „Leider“, sagte sie, „habe ich vergessen, das Buch und das Heft aus dem Schulspind mitzunehmen.“
Kaum hatte das Mädchen den Rucksack wieder auf den Boden gestellt, kam P. eine Idee. Er zog sein Tablet, das rechts von ihm auf der Schreibtischplatte lag, zu sich heran und gab wenig später in das Suchfeld die Begriffe „Altersaufgaben“ und „8. Klasse“ ein. Nach dem Anklicken des ersten auf dem Bildschirm erschienenen Links öffnete sich dort eine Seite, worauf zuoberst der folgende Text stand:
„Regina ist 5 Jahre älter als ihre Schwester Hannah. In 20 Jahren ist sie doppelt so alt, wie Hannah heute ist. Wie alt sind die beiden heute?“
Sobald P. die Aufgabe überflogen hatte, las er sie seiner Nachhilfeschülerin vor. Auf seine Frage hin, ob es sich bei den in ihrem Unterricht gerade behandelten Altersaufgaben um Aufgaben wie die soeben von ihm vorgelesene handele, nickte sie bejahend.
Erleichtert schob P. nun das Tablet ein wenig zu ihr hin, entnahm dem Stiftegefäß auf der Schreibtischplatte einen Druckbleistift und überreichte ihn dem Mädchen mit der Bitte, den ersten Satz der Textaufgabe auf dem Rechenblock vor ihr in eine Gleichung umzuformen.
Kaum hatte das Mädchen den Satz durchgelesen, fing sie an, sich mit den lila lackierten Fingernägeln ihrer linken Hand den Oberschenkel an einer Stelle zu kratzen, die aufgrund eines großen, extra verursachten Risses in ihrer hellblauen Jeans nicht bedeckt war.
Da das Mädchen nach einer Weile immer noch nichts notiert oder gesagt hatte, nahm P. einen weiteren Bleistift aus dem Stiftegefäß, zog den Rechenblock etwas zu sich heran und schrieb hierauf die beiden folgenden Zeilen:
„x = Alter von Regina heute
y = Alter von Hannah heute“
Sich dem Mädchen wieder zuwendend, fragte er sie, wie die Gleichung lauten müsse, wenn Regina genauso alt wäre wie Hannah. „x = y“, sagte das Mädchen, worauf P. sie bat, sich jetzt noch einmal den ersten Satz der Aufgabe durchzulesen und dann erneut zu versuchen, ihn in eine Gleichung umzuwandeln. Es dauerte nicht sehr lange, bis das Mädchen schrieb: „x = y + 5“. „Sehr gut!“, sagte P. und sah, dass das Gesicht des Mädchens einen Augenblick lang strahlte.
Doch bei dem Versuch, den zweiten Satz der Aufgabe in eine Gleichung umzuwandeln, schlug ihre Stimmung wieder um. Erneut kratzte sie sich ihren Oberschenkel und warf P. bald einen hilfesuchenden Blick zu. Die Erklärungen, die er gab, halfen dem Mädchen schließlich, auch den zweiten Satz als eine mathematische Gleichung darzustellen. Durch einen Tipp von P. war das Mädchen ebenfalls noch in der Lage, beide Gleichungen zu einer zusammenzufassen.
Als es aber darum ging, die Gleichung: (y + 5) + 20 = 2y nach y aufzulösen, blieb P. nichts anderes übrig, als ihr die Auflösung selber auf dem Block neben ihm zu demonstrieren. An dem ungläubigen Gesicht des Mädchens erkannte P., dass ihr die Auflösung nicht klargeworden war. Er entschloss sich deshalb, ihr die Auflösung einer Gleichung nach einer Unbekannten anhand eines einfachen Beispiels darzulegen. Hierfür fragte P. das Mädchen, wie alt sie sei. „Fünfzehn!“, sagte sie und richtete dabei ihren Oberkörper zur vollen Größe auf. „Stell dir vor“, sprach P. weiter, „jemand würde dein Alter nicht kennen, hätte aber gehört, du würdest in drei Jahren volljährig. Mit welcher mathematischen Gleichung könnte er herausfinden, wie alt du jetzt bist?“ Nach kurzem Überlegen schrieb das Mädchen: x + 3 = 18 auf den Block vor ihr. „Hervorragend!“, lobte P. wieder das Mädchen. Zu seiner Überraschung strahlte sie jedoch diesmal nicht, sondern sah P. nur abwesend an.
Sobald P. auf dem Block mit raschen Strichen eine Waage mit zwei Waagschalen im Gleichgewicht skizziert hatte, schrieb er auf die linke Waagschale: x + 3 und auf die rechte: 18. „Wenn man“, wandte er sich nun wieder an das Mädchen, „die Gleichung nach x auflösen will, muss man auf der linken Waagschale die 3 wegnehmen. Um aber“, betonte er, „die Waagschalen auch weiterhin im Gleichgewicht zu halten, ist es erforderlich, auch von den 18 auf der rechten Waagschale 3 abzuziehen, sodass sich die folgende Gleichung ergibt.“ P. fing an, sie auf den Block zu schreiben. Am Ende stand darauf: x + 3 - 3 = 18 - 3. „Da sich“, begann er wieder, „+3 und -3 aufheben, steht links nur noch x oder, mit anderen Worten, ist die Gleichung nach x aufgelöst worden. Zur Veranschaulichung schrieb er noch: x = 18 - 3 auf den Block und setzte noch daneben: = 15.
„Dein Alter“, sagte er und sah dabei das Mädchen wieder an. Sie machte eine heftig nickende Kopfbewegung und erklärte dann mit leiser Stimme: „Erst jetzt habe ich die Auflösung nach x verstanden.“
Erfreut über ihre letzte Äußerung ließ P. das Mädchen nun selbständig einige einfache Gleichungen mit einer Unbekannten lösen. Später erhöhte er noch den Schwierigkeitsgrad der Gleichungen, indem er in diese z.B. Klammerausdrücke einfügte.
Gerade als P. eine weitere Gleichung auf den Blockschreiben schreiben wollte, schaute das Mädchen auf das schwarz-weiße Zifferblatt ihrer Uhr und sagte, die Nachhilfestunde sei gleich zu Ende. Ebenfalls kurz auf seine Uhr blickend, sah P., dass sie fünf vor 16 Uhr zeigte. „Du bist eine Viertelstunde zu spät gekommen“ erwiderte er. „Da ich mit deiner Mutter“, fuhr er fort, „eine einstündige Nachhilfestunde vereinbart habe, fühle ich mich verpflichtet, dir bis 16.15 Uhr Nachhilfe zu geben.“ „Für die Verspätung konnte ich nichts!“, sagte das Mädchen fast beleidigt. „Mein Freund holt mich in fünf Minuten ab.“
„Dann“, gab P. nach, „bitte ich dich, deiner Mutter mitzuteilen, dass sie mir für die heutige Stunde ein Viertel des vereinbarten Stundenlohns weniger bezahlen soll.“ „Mache ich!“, rief das Mädchen und begann, sich zu erheben. „Einen Moment noch!“, sagte P., „ich werde für die nächste Stunde noch ein paar Übungsaufgaben auf den Block schreiben.“
Das Mädchen, das sich inzwischen wieder hingesetzt hatte, schaute P. plötzlich mit einem grimmigen Gesichtsausdruck an. „Ich weiß von deiner Mutter“, sagte P. begütigend, „dass du wegen Mathematik sitzenzubleiben drohst. Es liegt daher in deinem eigenen Interesse, noch weitere Aufgaben zu lösen. „In Ordnung“, sagte das Mädchen und rollte dabei gleichzeitig auf ihrem fahrbaren Bürostuhl ein wenig zur Seite.
Während P. die Aufgaben auf den Block schrieb, sah er aus dem Augenwinkel, dass das Mädchen aus der Innentasche ihrer schwarzen Kunstlederjacke einen kleinen runden Spiegel und einen Lip-gloss-Stift hervorholte. Damit fuhr sie vor dem Spiegel schnell über ihre Lippen, rieb diese kurz aneinander und steckte ihre beiden Utensilien wieder weg.
Bald darauf riss P. das Blatt mit den Aufgaben, die er sich eben ausgedacht hatte, vom Block und gab sie seiner Nachhilfeschülerin. Sie steckte das Blatt ganz schnell in den Rucksack, hängte ihn über die Schulter, sagte „Tschüss dann!“ und lief zur Wohnungstür. Bevor das Mädchen seine Wohnung verließ, konnte P. sie gerade noch bitten, das nächste Mal daran zu denken, ihr Buch und ihr Heft mitzubringen.