Читать книгу Die Prüfung - Robert Korn - Страница 6
IV.
ОглавлениеP. hatte in der Küche zu Ende gefrühstückt, als er in seinem Zimmer das Telefon läuten hörte. Auf dem Weg dorthin fiel sein Blick kurz auf die Schreibtischplatte, worauf ein Buch namens „Technologien des Selbst“ lag. Es enthielt einen gleichnamigen Aufsatz von Foucault, den P. heute noch vor seiner vormittäglichen Verabredung mit seiner Freundin zu Ende lesen wollte.
Vor seinem Bücherregal angekommen, griff P. nach dem Hörer auf der Ladestation, die auf der ansonsten leeren Hälfte eines Regalbretts stand. Am anderen Ende der Leitung meldete sich unerwartet die Mutter seiner Nachhilfeschülerin.
Nachdem sie sich begrüßt hatten, sagte die Frau, ihre Tochter habe ihr gerade mitgeteilt, dass sie sich heute früh im Bad übergeben habe. „Das tut mir sehr leid!“, sagte P. betroffen. „Ihr Mitgefühl“, erwiderte die Frau in plötzlich kühlem Ton, „kommt leider zu spät.“ „Ich verstehe nicht, was Sie meinen“, sagte P. verwirrt. „Meiner Tochter“, hob die Frau ihre Stimme, „geht es schlecht, weil sie, wie sie mir soeben anvertraut hat, Angst vor Ihrer Nachhilfe hat.“ Unwillkürlich trat P. einen Schritt zurück und fragte zweifelnd: „Angst?“ „Ja, Angst!“, bekräftigte die Frau und fügte noch laut hinzu: „Vor Ihnen!“
P. spürte, wie die Hand, mit der den Hörer gegen sein Ohr drückte, leicht zitterte. Doch er fasste sich schnell und erwiderte: „Ich kann mich nicht erinnern, Ihrer Tochter einen Grund dazu gegeben zu haben.“ „Dann werde ich Ihrem Gedächtnis einmal nachhelfen. Meine Tochter hat mir nämlich erzählt, Sie hätten Ihr während der Nachhilfestunde unterstellt, dass sie nicht intelligent genug sei, Ihre Übungsaufgaben allein zu lösen.“
P. drehte sich mit einer abrupten Bewegung auf der Stelle um 180 Grad und schaute nun nicht mehr auf das Bücherregal, sondern in Richtung Fenster.
„Mit keinem einzigen Wort“, erklärte er mit Bestimmtheit, „habe ich auf die Intelligenz Ihrer Tochter die Rede gebracht oder auch nur auf sie angespielt. Ich habe sie lediglich gefragt, ob sie die von mir gestellten Übungsaufgaben ganz selbständig gelöst habe.“ „Offensichtlich“, erwiderte die Frau herablassend, „verfügen Sie noch nicht über genügend pädagogische Erfahrung, um richtig einschätzen zu können, was eine für Sie harmlose Frage in der Seele eines sensiblen Mädchens anzurichten vermag.“
„Vielleicht“, dachte P. auf einmal, „ist es töricht von mir gewesen, das Mädchen nach der Herkunft der Lösungen gefragt zu haben. Hätte ich doch nach dem, was sie mir über ihr Zuspätkommen zur ersten Stunde erzählt hat, wissen müssen, dass sie meine Frage vermutlich nicht ehrlich beantworten würde.“
Sich aus seinen Gedanken wieder herausreißend, sagte P. zu der Mutter der Nachhilfeschülerin: „Ich habe meine Frage nicht leichtfertig gestellt. Aufgrund der derzeit sehr lückenhaften mathematischen Kenntnisse Ihrer Tochter ist es mir wichtig gewesen, ihr durch meine Frage zu verstehen zu geben, dass sie ihre Leistungen in Mathematik nur verbessern kann, wenn sie jede ihr gestellte Übungsaufgabe ernst nimmt. Im Übrigen“, schloss P., „habe ich die verneinende Antwort Ihrer Tochter auf meine Frage sofort akzeptiert.“
„Wie wenig Sie damit“, erwiderte die Frau abwehrend, „den von ihnen vorher angerichteten Schaden wiedergutzumachen konnten, zeigt, dass meine Tochter wegen der durch Sie verursachten Magenprobleme heute nicht die Schule besuchen kann. Es liegt auf der Hand“, fuhr sie mit Nachdruck fort, „dass Sie aufgrund des zerstörten Vertrauens meiner Tochter in Sie nicht mehr ihr Nachhilfelehrer sein können. Das Geld, das ich Ihnen schulde“, ergänzte sie noch, „werde ich Ihnen morgen in einem Briefumschlag in Ihren Briefkasten werfen.
„Ich bedauere sehr“, setzte P. an, wurde jedoch von der Frau ungeduldig unterbrochen. „Ich bin auf dem Sprung zur Arbeit und möchte Ihnen deshalb nur noch eines sagen: Halten Sie bitte in Zukunft zu meiner Tochter und mir Abstand! Leben Sie wohl!“
Nachdem die Frau den Hörer wieder aufgelegt hatte, stand P. einen Augenblick lang still. In ihm wechselten sich Selbstzweifel und Wut auf das Mädchen und dessen Mutter ab. Schließlich ging er zu seinem Sofa, ließ sich auf ihm nieder und legte den Hörer darauf ab.
Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, schaute er zum Fenster hinaus. Die Baumkrone davor lag noch im Schatten. Trotz der frühen Stunde drang durch den Spalt des angekippten Fensters schon sommerlich warme Luft.
Als sich P.s innere Unruhe etwas zu legen begann, hörte er durch den Fensterspalt das anhaltende Geräusch eines niedrigtourig laufenden Motors. P. erhob sich, trat ans Fenster und sah sich in dem bestätigt, was er eben vermutet hatte. Schräg unter ihm saß der Freund seiner inzwischen ehemaligen Nachhilfeschülerin auf seiner Vespa, die er im Stand laufen ließ.
Da, plötzlich, erblickte P. das Mädchen. In verwaschene Jeans-Shorts und ein weißes T-Shirt gekleidet, hüpfte sie mit leuchtend weißen Sneakers und einer Art Campingbeutel auf dem Rücken ihrem Freund freudig entgegen. Nur wenig später brausten beide mit der Vespa davon.