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1952: Trümmerfrau, Schwarzmarkt und ein russischer Offizier

Seine Mutter saß erschöpft am Küchentisch, das Kopftuch gegen den Staub noch umgebunden, die überanstrengten Füße in den groben Lederstiefeln achtlos auf den Küchenstuhl gelegt, die rissigen Hände im Schoß gefaltet. Sie schenkte ihrem Sohn, der gerade hereingestürmt kam und den Schulranzen von der Schulter riss, ein müdes Lächeln und zog ihn an sich. Er ließ es sich gern gefallen und zupfte an ihrem Kopftuch.

»Wo hast du dich nach der Schule wieder rumgetrieben?«, fragte sie in sein Haar.

»Ich war am Bahnhof, habʼ mir die Züge angeguckt.«

»Willst du etwa wieder zurück nach Insterburg? Hast du Heimweh?«, lachte sie.

»Nein, nein, wehrte er ab und machte sich ein wenig von ihr los. »Aber ich habʼ viele Russen gesehen, einem konnte ich sogar etwas beim Übersetzen helfen.«

Stolz schwang in seiner Stimme mit, und seine Hand betastete unauffällig das Bündel Geldscheine, das in seiner Hosentasche steckte. Dafür hätte seine Mutter eine Woche lang von morgens früh bis spät in den Nachmittag Trümmerreste in der Innenstadt mit der Spitzhacke zerkleinern und die so wieder gewonnenen Backsteine am Straßenrand aufstapeln müssen.

Seit Wochen hing er bei jeder Gelegenheit am Leipziger Bahnhof herum. Noch nie zuvor hatte er ein Gebäude mit derartigen Ausmaßen gesehen. Er kam sich wie ein Winzling vor, als er mit all der Kraft, über die er verfügte, eine der sechs Schwingtüren ganz aus Glas aufschob und sich vor ihm eine Halle auftat, die so weitläufig war wie der Sportplatz neben seiner Schule. Und dann erst die imposante Steintreppe, die hinauf zu den Bahnsteigen führte. Ein breites Handgeländer unterteilte sie. Spielplätze mit Rutschen gab es noch nicht wieder. Dieses Handgeländer war der ideale Ersatz. In der Halle hingen Schaukästen mit Bildern, die den Bahnhof in Trümmern zeigten und die Aufbauarbeit, die der Sozialismus leistete, um den größten Sackbahnhof Europas im alten Glanz auferstehen zu lassen.

Rund um den Bahnhof hatte sich der größte Schwarzmarkt in der DDR etabliert. Geschäftsleute und Besucher der wieder eröffneten Leipziger Messe, die aus westlichen Ländern anreisten, brachten die begehrten Waren in die Stadt. Schwarzmarkthändler boten schüchternen Rotarmisten Nylonstrümpfe für ihre Liebsten daheim an. Das einzige Handicap war, dass keiner den anderen wirklich verstand. Die Schieber sprachen kein Russisch und die Soldaten sprachen kein Deutsch, bis auf ein paar gebildete Offiziere der Roten Armee, die mühelos Goethe in der Originalsprache zitieren konnten.

Natürlich hatte auch Heimweh den zwölfjährigen Jungen in die Nähe des Bahnhofs getrieben. Aber das wollte er seiner Mutter lieber nicht erzählen. Er fürchtete, sie damit zu kränken und schmerzhafte Erinnerungen zu wecken. Er liebte es einfach, russische Laute zu hören. Sie verbanden sich mit endlosen Weizenfeldern, flirrender Sommerluft und einer Lerche hoch oben am unendlichen Himmel. In Insterburg war der Treck der noch etwa 4.000 Deutschen, die 1949 Königsberg auf Druck der Sowjets endgültig verlassen mussten, monatelang ins Stocken geraten. Die endlosen überfüllten Güterzüge waren einfach liegen geblieben, und die altersschwachen Dampflokomotiven ließen sich auch durch gutes Zureden nicht davon überzeugen, ihren Frondienst wieder aufzunehmen. Die Menschen schwärmten aus, um etwas Essbares und ein angenehmeres Dach über dem Kopf zu finden. Keiner hinderte sie daran, die rote Armee hatte selbst alle Hände voll damit zu tun, ihre eigenen Männer zu versorgen. Der kleine Schulz sprach inzwischen fließend russisch, das hatten ihm die Besatzer der zerstörten Stadt beigebracht, die jetzt Kaliningrad hieß. Schnell freundete er sich mit einer Gruppe Kosaken an, die offiziell zur Bewachung der Waggons abgestellt waren. Abends saßen sie am Lagerfeuer, grillten Kaninchen, die sie geschossen hatten, auf ihren Bajonetten und sangen zur Balalaika wehmütige Lieder, deren Texte der kleine Schulz bald auswendig kannte. Er brauchte sich kein Brot mehr zu erbetteln und konnte sogar seine Mutter und Schwester mitversorgen. Als Maskottchen der Kosaken bekam er von allen Seiten etwas zugesteckt. Tagsüber ritt er auf den kleinen Pferden mit, sie sprangen über die Wassergräben, die die abgeernteten, bis an den Horizont reichenden Weizenfelder durchzogen. Sie galoppierten um die Wette, der Junge ohne Sattel, seine Beine wurden eins mit dem warmen pulsierenden Pferdeleib, der über die helle Erde flog. Nachts legte er erschöpft den hochroten Kopf in den Schoß der Mutter und fiel in einen unruhigen Schlaf, aus dem er aufschreckte, wenn ihn ein Albtraum quälte, der Granateneinschlag, das Heulen der Sirenen, die Feuersbrunst, die toten Leiber mit seltsam verrenkten Gliedern, die inmitten der Trümmer auf der Straße lagen und bei deren Anblick ihm die Mutter vergeblich die Augen zugehalten hatte.

»Vergiss deine Schulaufgaben nicht«, riss sie ihn jetzt aus seiner Träumerei.

»Deine Schwester kommt gleich von der Arbeit, und dann mach’ ich Abendessen. Graubrot mit Blutwurst, das magst du doch!«

Der Junge strahlte übers ganze Gesicht, aber ihm war traurig zumute. Wie gern hätte er jetzt die Dose Kaviar vom Schwarzen Meer auf den Küchentisch gestellt, die er in seinem sorgfältig ausgesuchten Versteck auf dem Dachboden verwahrte. Wie sehr hätte er sich an der Überraschung der Mutter erfreut, die sich in ein beglücktes Lächeln verwandelt hätte, in Erwartung eines Festmahls wie schon lange nicht mehr. Aber er musste sein Geheimnis hüten. Sie durfte auf keinen Fall erfahren, dass er seit Wochen nur noch sporadisch die Schule besuchte und stattdessen seinen neuen Geschäften am Bahnhof nachging.

Da war er eher zufällig hineingeraten. Er stand dabei, als ein russischer Soldat einem der Schwarzmarktschieber vergeblich etwas zu erklären versuchte.

»Er kann Ihnen die Lucky Strike nicht bezahlen, aber dafür bietet er Ihnen im Tausch erstklassigen Wodka an«, mischte er sich ein.

»Wieso kannst du Russisch?«, staunte der Mann.

»Hab’ ich auf der Flucht gelernt«, murmelte der Junge.

Das Geschäft war schnell abgewickelt, und der Mann legte dem Jungen vertraulich seine Hand auf die Schulter.

»Du kannst morgen wiederkommen, wenn du magst. Springt auch was dabei raus für dich«, zwinkerte er ihm zu. Am nächsten Mittag war Schulzi wieder zur Stelle, und innerhalb weniger Wochen avancierte er zum gefragten Übersetzer in der Leipziger Schwarzmarkt-Szene. Sein neuer Freund beteiligte ihn mit zehn Prozent am Umsatz, das Geschäft florierte. Der Schieber zog ihn immer mehr ins Vertrauen. Eines Tages forderte er ihn auf, ihn zu begleiten. Sie gingen ein ganzes Stück, bis sie das Waldstraßenviertel erreichten. Hier waren die stattlichen Häuser aus der Gründerzeit überwiegend stehen geblieben, und mächtige Platanen spendeten in der breiten Waldstraße großzügig Schatten. Die Augen des Jungen mussten sich erst an den drastischen Lichtwechsel gewöhnen, als sie die düstere, etwas muffig riechende Parterre-Wohnung betraten. Kisten und Kästen verstopften den langen Flur. Auch der größte Raum der Wohnung war nur sehr spärlich möbliert, an den hohen Wänden stapelten sich die Kartons mit Schmuggelware. Die Decke war mit Stuck verziert, der hier und da abgebröckelt war. In der Mitte des Zimmers thronte auf einem verschlissenen samtbezogenen Sessel eine füllige Frau mit schweren Brüsten, deren dickes, schwarzes Haar bis zur Taille reichte.

»Komm her Kleiner, ich beiße nicht«, lächelte sie und schüttelte ihm die Hand. Dabei klirrten die silbernen Armreifen leise. Der Junge fasste sofort Zutrauen zu ihrer mütterlichen Erscheinung. Während die beiden Erwachsenen tuschelten und in den Kartons kramten, sah sich der Junge in der großbürgerlichen Wohnung um. Vorsichtig berührte er die grünlichen, seidig glänzenden Tapeten und bewunderte den Kronleuchter an der Decke, dessen tropfenförmige Lüster, die wie Diamanten glitzerten, er vergeblich zu zählen versuchte. So viel Pracht hatte er noch nie gesehen.

Ein paar Tage später war Nachschub fällig, und sein Chef überreichte ihm eine Liste.

»Hier steht alles, was wir brauchen. Das holst du jetzt ab.« Er drückte ihm ein paar Geldscheine in die Hand.

»Hast du dir den Weg gemerkt?« Der Junge nickte heftig.

»Dann ab mit dir. Und lass dich bloß nicht erwischen!«

»Mich erwischt keiner!«, sagte der Junge und rannte los.

Dieses Mal hatte sie eine leuchtend rote Tunika an und die Haare hochgesteckt. Im Licht des Kronleuchters blitzten die mit tiefblauen Opalen besetzten Ohrringe auf.

»Du bist ein aufgewecktes Kerlchen«, sagte sie, »du brauchst den Heinz nicht, wenn du Geld verdienen willst. Du kannst das doch auch allein. Wenn du möchtest, mach ich dich zu meinem Verkäufer«, beugte sich die Hehlerin vertraulich aus dem Sessel vor.

»Aber der Heinz, äh, ich meine der Chef wird das niemals zulassen!«

»Lass das mal meine Sorge sein, Du stehst ab sofort unter meinem persönlichen Schutz. Wie viel Prozent hast du beim Heinz verdient?«

»Zehn Prozent.«

»Na also, bei mir würdest du fünfundzwanzig Prozent bekommen. Überleg’ es dir einfach. Du musst dich nicht sofort entscheiden.«

Der Junge war wie betäubt von diesem Angebot. Zum Abschied schenkte sie ihm das Kaviardöschen und strich ihm über das wilde Haar: »Los, trau dich was, dann kommen goldene Zeiten auf dich zu!« Dieser geheimnisvolle Satz kam ihm wie ein Versprechen vor.

»Träum’ nicht Dieter«, hörte er seine Mutter neben sich, »mach’ endlich deine Schularbeiten.« Widerwillig zog er das Mathematikheft aus dem Schulranzen und begann eine Rechenaufgabe zu lösen. Nach dem Abendessen hob sich die kleine Familienrunde schnell auf. Seine Schwester hatte sich mit ihrem neuen Freund zum Tanzen verabredet. Behände lief Schulzi die steinerne Treppe in dem ehemals gutbürgerlichen Stadthaus hinauf, in das seine Familie einquartiert worden war. Die Mutter war auf der Baustelle durch ihren Fleiß aufgefallen. Ein gutmütiger Brigadeleiter kannte ihr Schicksal als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern und hatte ihr bei der Wohnungssuche geholfen.

Aus dem Abort auf der halben Treppe schlug dem Jungen ein beißender Geruch entgegen. Vorsichtig, um keinen Krach zu machen, schob er die Tür zum Bodenraum auf. In einer Ecke stand eine Kommode, die eine in den Westen geflüchtete Familie zurückgelassen hatte. In einer der Schubladen unter ein paar Lumpen versteckte er die Schwarzmarktware, die er aus der verwunschenen Wohnung bezog. Ausgiebig betrachtete er sie Stück für Stück und untersuchte dabei die Verpackungen auf mögliche Schäden. Er roch ein bisschen am Verschluss der Kölnisch-Wasser-Flasche und ließ die Verpackung der Netzstrümpfe unter seinen Fingern knistern. Einen Augenblick stellte er sich vor, wie wohl seine Schwester darin aussehen würde.

Der Junge seufzte und verbarg sie wieder sorgfältig unter den Lumpen. Er konnte sie eh seiner Schwester nicht schenken. Sein Chef wartete auf die Ware.

»Wenn ich mich selbstständig mache, ist das meins, und ich kann damit machen, was ich will«, dachte er. Ein leichtes Geräusch in seinem Rücken ließ ihn herumfahren. Doch da war nichts. Glitzernde Staubflöckchen tanzten im warmen Abendsonnenlicht, das schräg durch die Dachluke hereinströmte. Die Respekt einflößende Frau in der roten Tunika hatte recht. Er musste sich nur trauen.

Schulzis Selbstbewusstsein stieg mächtig, als ihn wenige Tage später ein sowjetischer Offizier in den Zirkus einlud. Der russische Staatszirkus gastierte in der Stadt, und er durfte hinein! Bei dem Gedanken wurde ihm schwindelig. Der Oberst, dem er dabei geholfen hatte, wundervoll riechende französische Seife zu erwerben, mochte den mageren kleinen Jungen mit den wachen Augen, der ihm in fließendem Russisch von Kaliningrad erzählte. Er war ganz betroffen. Unter seinem Kommando hatte die sowjetische Panzerspitze den letzten deutschen Widerstand überrollt.

Mutter wusste von der Einladung. Er wäre geplatzt, wenn er es ihr nicht hätte erzählen können. Natürlich erfuhr sie nicht im Detail, bei welcher Gelegenheit er den Oberst kennen gelernt hatte. Er habe ihm beim Übersetzen geholfen, und damit sagte er ja nicht die Unwahrheit. Mutter ermahnte ihn, sich ordentlich zu waschen, und legte ihm sein bestes Hemd zurecht. Pünktlich zur Nachmittagsvorstellung wartete er, aufgeregt von einem auf das andere Bein hüpfend, an der Zirkuskasse und studierte die farbenprächtigen Plakate mit brüllenden Löwen, hochmütig dreinblickenden Giraffen und Elefanten, die mit ihren dicken Hintern auf mächtigen Hockern saßen, die Rüssel hoch in die Luft erhoben.

»Und wenn der Oberst nun gar nicht kommt und sich nur über mich lustig gemacht hat?« – Das Herz wurde dem Jungen schwer. Die Minuten verstrichen quälend langsam. Als er die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte und die ersten Fanfarenstöße und Trommelwirbel im zum Greifen nahen Zirkuszelt den Beginn der Vorstellung ankündigten, fuhr der schwarze Moskowitsch des Obersten vor. Galant half er einer eleganten Dame beim Aussteigen. Hinter ihr purzelten zwei Mädchen mit blonden Zöpfen aus dem Wagen und stellten sich neugierig vor Dieter auf.

»Los geht’s!«, rief der Oberst den Kindern zu, und ein Zirkusdiener, der ehrfürchtig die Spange mit den Tapferkeitsmedaillen registriert hatte, geleitete die Familie und den Jungen zu einem Logenplatz direkt an der Manege. Dieter konnte sich nicht satt sehen. Die Peitsche knallte, und seine geliebten Kosakenpferde bäumten sich im Halbkreis direkt vor ihm auf, er hätte ihre Hälse fast umarmen können.

»Na, zu viel versprochen?«, lachte der Oberst ihm zu, und seine Frau schaute ihn freundlich an. Der Junge war benommen vor Glück. Die Welt schien ihm weit offen zu stehen, er musste nur zugreifen. Morgen würde er wieder die Frau in ihrer geheimnisvollen Wohnung besuchen und zum ersten Mal seine eigene Schieberware abholen.

Blütenträume

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