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1953: Aufstand im Arbeiter- und Bauernstaat

Am Morgen des 17. Juni 1953 beschloss der kleine Dieter, wieder einmal die Schule zu schwänzen. Er verbarg seinen Schulranzen auf einem Trümmergrundstück hinter der Reinigungsklappe eines Kamins, der niemals mehr einen Schornsteinfeger brauchen würde. Diesen Platz nutzte er mitunter auch als Zwischenlager für seine Schieberware. Unter den Schwarzmarkthändlern am Leipziger Bahnhof war er inzwischen eine große Nummer. Seine Russischkenntnisse erwiesen sich als unschlagbarer Vorteil gegenüber seinen teilweise Jahrzehnte älteren Konkurrenten. Längst bezog er französisches Parfüm, feine japanische Seidenstoffe und sogar Schweizer Präzisionsuhren aus der düsteren, großbürgerlichen Wohnung, in der seine neue Beschützerin und Geschäftspartnerin über ihre Schätze wachte. Die meisten »Kollegen« am Bahnhof gönnten ihm neidlos seinen Erfolg, sie hatten eine gewisse Hochachtung gegenüber diesem Dreikäsehoch, der ihnen kaum bis zur Brust reichte.

Etwas war heute anders als sonst. Etwas Unbeschreibliches lag in der Luft. Die Menschen strömten mit schnellen Schritten aus allen Winkeln und Vororten Leipzigs Richtung Innenstadt. Sie sprachen nicht viel, in ihren aufmerksamen Gesichtern lag ein Ausdruck großer Entschlossenheit. Dieter ließ sich einfach mittreiben. Er war viel zu neugierig, um sich entgehen zu lassen, was der Grund für diesen Aufmarsch war. Menschenansammlungen gehörten zu seinen frühesten Kindheitserinnerungen in Königsberg. Damals standen sie an, in endloser Reihe an einer der letzten intakten Wasserzapfstellen in den Straßen der Stadt, die ein sinnloser Durchhaltebefehl aus dem Berliner Reichsführer-Bunker dem Erdboden gleich gemacht hatte. Nie wieder würde er die trostlosen Gesichter vergessen, zerlumpte, staubbedeckte Gestalten, die sich aus den Umrissen der Ruinen lösten. Doch heute war alles anders. Die Menschen zeigten helle Mienen, ihr Blick war erwartungsvoll nach vorn gerichtet.

Auf dem Karl-Marx-Platz hatte sich eine unübersehbare Menge versammelt. Nichts glich den sonst üblichen Aufmärschen, den 1.-Mai-Feiern mit geschmückter Tribüne, schwitzenden Festtagsrednern in schlecht sitzenden Anzügen und Abordnungen der Parteijugend in blauen Blusen. Rufe wurden laut, die ersten Sprechchöre wurden skandiert. Dieter drängte sich zwischen den Beinen so weit wie möglich nach vorn. Plötzlich packte ihn eine tellergroße Faust.

»Du siehst ja nischt, Kleiner«, dröhnte eine bärbeißige Stimme von oben herab. Ohne seine Antwort abzuwarten, wurde er emporgerissen und mit Hilfe weiterer kräftiger Arme auf die ochsenbreiten Schultern des Zimmermanns verfrachtet.

»Die da zwei Reihen vor uns, die mit den roten und schwarz-roten Fahnen, das ist meine Brigade«, rief er dem Jungen fröhlich zu. Dieter betrachtete ausgiebig die Männer in ihren schwarzen Samtwesten, aus denen bauschige weiße Hemdsärmel hervorlugten. Sie schwenkten ihre breitkrempigen Hüte und riefen »Alle Macht den Arbeitern!«, »Freie Gewerkschaften!« und »Weg mit der Ein-Parteien-Diktatur«. Das war ihr Festtag und sie hatten sich dazu ihre beste Zunftkleidung angelegt.

»Jetzt werden wir den Parteibonzen mal richtig einheizen. Wurde höchste Zeit«, lachte der Bär unter ihm. Der kleine Schulz ließ sich von der rebellischen Stimmung mitreißen, die über den weiten Platz wehte.

»Wir wollen freie Wahlen!«, skandierte er mit der Menge und streckte dabei seine kleine Faust in den wolkenlosen Himmel.

Vorn entstand ein Tumult. Schwerbewaffnete Vopos stürmten urplötzlich aus einem Gebäude, das unmittelbar am Platz lag, ergriffen einen Wortführer, der mit Megafon die Stimmung angeheizt hatte, und zogen sich mit ihm trotz seiner heftigen Gegenwehr blitzschnell wieder zurück. Die Nachricht von der Verhaftung des beliebten Arbeitersprechers, der für seine unabhängige Meinung bekannt war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die heitere, ja fast volksfestähnliche Stimmung schlug um. Die Menge drängte nach vorn, Empörung machte sich breit, es flogen Pflastersteine und die ersten Fensterscheiben klirrten. Jemand zündete eine Brandfackel an und warf sie auf das Gebäude. Sie verglühte rasch, ohne Schaden anzurichten.

»Waffen weg, Waffen weg!«, ertönte jetzt ein neuer Ruf und setzte sich immer lauter durch alle Reihen fort.

»Was ist passiert?«, fragte Dieter. Der muskulöse Arm seines mächtigen Beschützers wies auf das mehrstöckige Haus, aus dessen oberen Geschoss Gewehrläufe blitzten.

In die Nebenstraßen, die auf den Platz mündeten, kam Bewegung. LKWs fuhren heran, und von den offenen Ladeflächen sprangen Rotarmisten, auf ihre Gewehre waren Bajonette aufgepflanzt. Innerhalb weniger Minuten war der gesamte Platz umzingelt. Rotarmisten Schulter an Schulter, drei Reihen tief gestaffelt, versperrten jeden Fluchtweg. Der kleine Schulz erschrak zutiefst, als er zu verstehen begann, was sich da zusammenbraute. Von seiner erhöhten Position aus konnte er alles beobachten.

»Da sind die Russen!«, schrie er dem Zimmermann ins Ohr und zeigte in die am nächsten gelegene Nebenstraße.

»Du spinnst Kleiner«, kam es ungläubig zurück.

»Doch, doch, ich seh’ genau ihre Bajonette!«

Der Hüne packte ihn an der Taille und setzte ihn vorsichtig auf das Pflaster. Dann reckte er sich, um besser sehen zu können.

»Du hast recht«, rief er. »Ah diese Schweine, unsere Beschützer, dass ich nicht lache!« Instinktiv griff er schützend nach dem Nacken des Kindes. Vergeblich, der Junge war schon auf und davon. Flink presste er sich durch die dicht an dicht gedrängten Menschenleiber. Er war von einem Gedanken beseelt. Er musste den russischen Offizier warnen, den er in der nahen Seitenstraße entdeckt hatte. Er war sich sicher: Das war der gleiche, der ihn in den Zirkus mitgenommen hatte.

»Ich muss mit ihm sprechen, ihm erklären, was die Leute hier wollen. Er versteht das nicht, er kann kein Deutsch. Die Bullen erzählen Lügenmärchen über uns. Ich werde ihm sagen, welche netten Leute ich gerade getroffen habe, die Zimmerleute, Bauarbeiter, alles tolle Kumpel! Die haben doch recht, wenn sie ›alle Macht den Arbeitern‹ schreien. – Schon wieder tanzt alles nach der Pfeife von Parteibonzen! Hat doch auch die Mutter erst vor kurzem gesagt. Er wird mich verstehen und seine Leute abziehen!« Seine dreizehnjährige Jungenseele brannte darauf, Schlimmes zu verhüten. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf, während er sich durch die Menge wühlte und hier und da einen wütenden Hieb versetzt bekam.

Dann hatte er es geschafft und stand den russischen Soldaten direkt gegenüber. Vergeblich versuchte er in ihren Gesichtern zu lesen. Er konnte sie kaum voneinander unterscheiden. So gleichförmig machten sie der Helm, die Uniform, die entsicherte Waffe. Was ging in ihnen vor, würden sie tatsächlich auf ihn schießen, wenn sie den Befehl dazu erhielten? Er wusste es nicht. Vergeblich versuche er den Offizier zu finden, der war verschwunden.

»He, wir sind doch Freunde, von uns ist keiner bewaffnet, auf Freunde schießt man nicht!«, rief er den Soldaten auf Russisch zu. Vergeblich. Sie taten, als ob sie ihn nicht hörten. Ein scharfer Befehl ertönte. Wie von Geisterhand öffnete sich jetzt eine Gasse zwischen den Soldaten. Hervor trat ein feister Vopo-Offizier, über dessen steifem Uniformkragen ein Speckwulst hing. Er setzte ein Megafon an die Lippen, die er vorher mit seiner Zunge befeuchtete: »Diese Versammlung ist illegal und volksverhetzend. Sie verstößt gegen die Gesetze der Deutschen Demokratischen Republik. Sie ist ab sofort verboten. Jeder, der sich diesem Verbot widersetzt, ist ein Volksschädling und wird verhaftet. Jetzt einer nach dem anderen vortreten und dann den Platz verlassen«, schnarrte das Megafon. Das war das erbärmliche Ende eines Junitages, der so hoffnungsvoll begonnen hatte.

Das Unglück wollte es, dass sich Dieter beim Verlassen des Platzes plötzlich zwischen den Männern befand, aus deren Reihen die Steine geflogen waren. Kaum hatte er das Spalier der Rotarmisten passiert und wollte gerade losrennen, als ihn eine harte Hand von hinten am Kragen ergriff.

»Komm’ her, du Früchtchen. Dich kenn’ ich doch! Treibst dich immer am Bahnhof mit dem Gesocks rum«, zischte ein hagerer Vopo. Vergeblich versuchte er sich dessen Griff zu entwinden und dem russischen Offizier etwas zuzuschreien, der plötzlich wieder aufgetaucht war und sich von dem selbstzufrieden blickenden Polizeioffizier eine Zigarette anzünden ließ. Zu spät. Umsonst. Wie zuvor auf dem Platz, aber dieses Mal rücksichtslos, wurde er hochgerissen und auf die offene Ladefläche eines bereitstehenden LKW geworfen. Er war das einzige Kind unter den wortlosen Männern und Frauen, die starr vor sich hinblickten und mit Handschellen an die längsseitigen Bänke gefesselt waren. Wenigstens die Handschellen ersparten sie ihm. Der hagere Vopo und ein junger Kollege, um den die Uniform noch schlotterte, schwangen sich auf die Ladefläche und verriegelten die Klappe.

»Abfahrt!«, brüllte der Hagere und hieb mit der Faust auf das blecherne Dach des Führerhauses. Der LKW ruckte an.

Die Fahrt endete auf dem Hof einer leerstehenden, halb verfallenen Fabrik. Hinter dem LKW rumpelte das mächtige, rostige Gatter wieder ins Schloss. Die verhafteten Frauen und Männer wurden in getrennte Räume geführt. Die provisorischen Zellen waren schon teilweise belegt. Kaum dass die eiserne Zellentür zuschlug und der Schlüssel sich quietschend im Schloss drehte, brach ein Stimmengewirr los:

»Mensch, Franz, du bist ja auch hier! Das hätte ich jetzt nicht von dir gedacht!«

»Hast du meine Frau gesehen? Wir waren zusammen auf dem Platz, sie haben uns auseinandergerissen.«

Händeschütteln, da und dort eine Umarmung, Gelächter und Geschimpfe wechselten sich ab. Manchmal wischte sich einer verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Der Junge konnte sich nicht satt sehen an der Vielfalt der Bilder, die auf ihn einfluteten, ihn in eine ganz neue Welt entführten. Die Angst, was als nächstes kommen würde, war für den Augenblick verflogen. Allein der Gedanke an seine Mutter und Schwester trieb ihn um. Sie würden sich Sorgen machen, wenn er heute Abend ausblieb. Ein Herumtreiber war er, ja, das gestand er sich offen ein, aber über Nacht war er noch nie von zu Hause weggeblieben.

Der Junge saß fast unbemerkt in einer Ecke gegenüber der Tür und beobachtete die Männer. Er hatte 23 gezählt, jeden Alters, bärtig oder glatt rasiert, in Arbeitsklamotten und im Anzug, mit oder ohne Brille, einer hielt sogar noch seine Aktentasche an sich gepresst, die hatten sie im Tumult wohl vergessen, ihm wegzunehmen. Es gab keine Möbel, nichts, nur ein paar zerschlissene Seegrasmatratzen, auf denen die Männer lagerten. Die Tür wurde aufgerissen, zwei Vopos setzten eine dampfende Terrine auf den Zementboden und warfen ein paar Hände voll Blechteller und Blechlöffel hinterher. Um den Suppentopf entstand ein Gedränge, jeder versuchte, sich als erster zu bedienen.

»Halt, Stopp, so geht das nicht«, stellte sich ein älterer Arbeiter im Blaumann dazwischen.

»Wir sind doch keine wilde Affenhorde! Wollt ihr den Vopos bestätigen, was die von uns denken? Also jetzt alle mal schön in eine Reihe aufgestellt. Du da gibst die Suppe aus, hier ist die Kelle, und du Junge, er zeigte mit der Kelle auf Dieter, kommst mal nach vorn. Nicht, dass du hier untergehst in diesem Haufen!«

Die Männer gehorchten und machten dem Jungen Platz.

Nach dem Essen verstummten die Gespräche. Die ersten legten sich zum Schlafen hin. Die Zelle war überfüllt und nicht einmal notdürftig eingerichtet. Unter der Decke baumelte eine einzelne Glühbirne. Statt einer Kloschüssel stand in der Ecke ein Eimer. Aus einer trüben Tonne konnte man sich Wasser schöpfen. Urin- und säuerlicher Schweißgeruch vermischten sich in der knappen Luft und machten sie zum Schneiden dick. Die auf dem nackten Zement liegenden, verschmutzten Seegrasmatratzen reichten nicht aus. Der Junge, der sich noch nie mit so vielen Männern einen Raum teilen musste, hatte es über allem Schauen und Staunen versäumt, sich einen Schlafplatz zu organisieren. Einer der Männer winkte ihn zu sich.

»Komm her, Kleiner, hier ist noch ein bisschen Platz auf meiner Matratze.«

Arglos legte sich der Junge auf das frei gerückte Plätzchen und dachte sich nichts dabei, als der Mann, dem er den Rücken zukehrte, den Arm um ihn legte. Gerade nahm ihn ein Traum auf seinen Flügeln mit, er sah die ganze Stadt unter sich. Da lag vor ihm der Bahnhof und da winkte ihm seine Schwester mit ihrem Freund zu, beide hatten blaue FDJ Hemden an … Da schob sich eine Hand in seinen Traum, rutschte sacht in seine Hose, knöpfte sie auf und zog sie herunter bis zu seinen Knien. Ein heißes Stück Fleisch drängte sich von hinten zwischen seine Beine, ruckte auf und ab. Der Junge wachte auf, der freundliche Arm war jetzt ein Gefängnis, etwas Nasses, Glibberiges, Warmes verklebte seine Beine. In dem Jungen stieg der Ekel hoch. Er wollte losbrüllen, das Schwein bloßstellen, doch er traute sich nicht in der finsteren Zelle, die von Schnarchgeräuschen, Fürzen und hier und da einem leisen Stöhnen erfüllt war.

Offensichtlich verwechselte der Mann seine Wehrlosigkeit mit stillem Einverständnis, denn später in der Nacht, der Junge war gerade in einen unruhigen Schlaf gefallen, versuchte er es erneut, presste noch einmal seinen stinkenden Aal zwischen die Beine seines Opfers. Am Morgen, als sie einzeln zum Verhör abgeführt wurden, blinzelte er ihm verschwörerisch zu, bevor er durch die Zellentür verschwand. Als hätten sie ein schönes gemeinsames Geheimnis, dieses Dreckschwein, der seine körperliche Unterlegenheit missbraucht hatte … Der kleine Schulz schwor sich im Stillen, ein Kämpfer zu werden. Nie wieder wollte er sich so ohnmächtig wie in dieser Nacht fühlen. Wenig später wurde er wie die Erwachsenen in das Verhörzimmer gebracht.

»Was hast du in deinem Alter auf dem Platz zu suchen gehabt«, herrschte ihn ein Beamter in Zivil an. Dieter konnte nur seinen Oberkörper sehen, der Rest verbarg sich hinter einem schweren Kirschbaumschreibtisch mit Drechselarbeiten aus der Gründerzeit. Auf dem Schreibtisch stand eine gusseiserne schwarze Bürolampe, die auf ihn gerichtet war.

»Gehörst du etwa auch zu diesen Volksschädlingen, die unser schönes Land kaputt machen wollen? Die immer nur ICH, ICH, ICH sagen? Denen die Gemeinschaft einen Dreck wert ist? Kriminell bist du auch noch, was sollen wir bloß mit dir machen.« Er wedelte mit einer dünnen Akte, die auf dem Schreibtisch lag.

»Wenn du nicht so jung wärst, müssten wir dich in den Knast stecken.«

Der Junge starrte schweigend auf das rissige Holz vor seiner Nase. Gern wäre er jetzt klein wie eine Ameise gewesen, die der Holzspalt mühelos verschluckt hätte. Zweimal hatten ihn die Bullen am Bahnhof aufgegriffen. Einmal hatten sie wertvolle französische Seife konfisziert, der Verlust schmerzte ihn heute noch. Sie hatten ihn schon damals zum Verhör geschleppt, dann aber mit einer Verwarnung wieder laufen gelassen. Seiner Mutter und seiner Schwester hatte er den Vorfall natürlich verschwiegen. Und nun diese Akte da, auf der er deutlich seinen Namen SCHULZ in Druckbuchstaben entziffern konnte. Der Junge spürte, wie sich ein Gewitter über ihm zusammenbraute. Aus dieser Lage kam er nicht mehr so einfach raus.

Wenige Stunden später saß er in einer Wolga-Limousine und wurde von einer jungen Polizistin in Uniform bewacht, die die ganze Fahrt über kein Wort mit ihm wechselte. Sie starrte stur nach vorn und schwieg eisern bei seinen drängenden Fragen, wo man ihn denn jetzt hin brächte und ob man seine Mutter benachrichtigt hätte. Das Heim für schwererziehbare Kinder und Jugendliche lag in einer abgelegenen Seitenstraße. Dieter wurde zuerst in einen Duschraum geführt, wo er sich nackt ausziehen musste. Nach der Dusche – er genoss das heiße Wasser, das schwer auf ihn niederprasselte und den ganzen Dreck der letzten Tage fortspülte – erhielt er frische Kleidung und ein üppiges Abendessen im gemeinschaftlichen Essraum. Die Heimzöglinge starrten den Neuzugang neugierig an. Er bekam eine Viererstube zugewiesen, in der noch ein unteres Bett frei war. Der älteste Junge der Stube, der zwei Kopf größer war, begrüßte ihn mit Handschlag: »Damit eins gleich klar ist: Auf dieser Stube bin ich der Chef.«

»Geht schon klar, Chef, ich bin lernfähig«, gab Dieter zurück, und der ältere Junge freute sich über seine schnelle Auffassungsgabe.

Am nächsten Tag zeigte ihm ein Erzieher das ganze Haus und den Außenhof, der mit großen, alten Kastanien bestanden war. Der Erzieher folgte dem Blick des Jungen, der über den hohen Maschenzaun wanderte, der das gesamte Gelände dicht umschloss.

»Ausgang nur mit unserer Erlaubnis«, lachte er und landete einen vertraulichen Klaps auf der Schulter des Jungen.

Die nächsten beiden Wochen zogen sich zäh hin. Er durfte keinen Brief schreiben und bekam auch keine Nachricht von seiner Mutter oder Schwester. Die Erzieher zuckten nur mit den Schultern, wenn er sie darauf ansprach: »Du brauchst eine Sondergenehmigung, und die ist noch nicht erteilt.«

Er freundete sich mit den drei Jungen an, mit denen er sich die Schlafstube teilte. Dem Ältesten war inzwischen Dieters Ruf als »Held des 17. Juni« zu Ohren gekommen. Er betrachtete den Dreikäsehoch jetzt mit anderen Augen und zog ihn eines Tages ins Vertrauen: »Schon mal an Flucht gedacht?«, fragte er ihn, als sie unbeobachtet auf einer Bank im Hof saßen und mit Kieselsteinen auf die metallenen Zaunpfosten zielten, die bei jedem Treffer ein lautes PLONG von sich gaben.

»Na klar, aber wie soll das gehen, der Zaun ist viel zu hoch.«

»Es gibt einen Weg. Der ist nicht ganz ungefährlich. Aber dir traue ich das zu.« Der ältere Junge zeigte auf die breiten Arme der Kastanie, die auf der schmalsten Stelle des Hofes genau zwischen dem Haus und dem Zaun stand.

»Guck mal nach oben. Merkst du was? Da im zweiten Stock liegt unser Zimmer. Und siehst du, wie nah der eine Zweig an unser Fenster reicht?«

Dem kleinen Schulz ging ein Licht auf. Auf der anderen Seite reichte die Kastanie mit ihren oberen Ästen über den Zaun hinüber.

»Wir müssen nur vom Fenster aus auf den Ast steigen, dann …«

»Springen meinst du wohl eher«, wandte der Kleinere ein.

»Na ja, du vielleicht, ich komm’ da schon ran. Ich klettere zuerst rüber, dann helfe ich dir.«

»Und wie kommen wir auf der anderen Seite runter? Das ist zu hoch zum springen!«

»Mach’ dir darüber mal keine Sorgen. Wir verknoten unsere Bettlaken miteinander und machen uns daraus einen Strick.«

Schulzi war hellauf begeistert. Wohl oder übel mussten sie die beiden anderen Zimmergenossen in den Fluchtplan mit einweihen. Einer wollte mitmachen. Der vierte Junge traute sich nicht und hoffte zudem auf seine baldige Entlassung. Er versprach aber absolutes Stillschweigen.

Er sah ihnen ängstlich zu, als sie in der folgenden Nacht wie auf ein verabredetes Zeichen hin flink aufstanden, sich lautlos anzogen und die Bettlaken – er musste seins auch hergeben – miteinander verknüpften.

»Das ist jetzt lang genug«, flüsterte der Älteste.

»Ich steig’ als erster raus. Wenn ich auf dem Baum bin, werft ihr mir unser hübsches Seilchen zu!« Vorsichtig öffnete er das Fenster und spähte hinaus. Draußen war alles ruhig. Er hockte sich auf den äußeren Fenstersims und schwang sich von dort mühelos auf den nächsten größeren Ast der Kastanie, der weich unter ihm nachgab. Er fand schnell einen Halt und winkte den anderen, sie sollten die Bettlaken, die sie zu einem Bündel zusammengerollt hatten, zu ihm herüberwerfen. Dann glitt der andere Junge hinüber. Dieter wagte sich als letzter. Er musste springen und verließ sich dabei ganz auf den ältesten Jungen, der ihn sicher packte und in den Baum hineinzog. Die Zweige, die ihm ins Gesicht schlugen, dufteten nach Freiheit.

»Das war Nummer Eins. Jetzt kommt der krönende Abschluss«, flüsterte der Älteste.

Behände wie Katzen kletterten sie durch die Kastanie auf den größten Ast, der knapp über dem etwa vier Meter hohen Zaun weit in die Freiheit ragte. Sie befestigten ihren provisorischen Strick sicher an dem Ast und ließen sich – so schnell es ging – daran herunter. Augenblicke später hatte sie die Dunkelheit der Nacht verschluckt, zurück blieben die Bettlaken, die hinter dem Zaun schwach schimmerten. Im Morgengrauen nahm sie ein Milchwagen mit. Der Fahrer war wortkarg und kaute auf seiner erloschenen Pfeife herum, die er unablässig vom einem Mundwinkel in den anderen schob. Sie erzählten ihm, sie seien Vettern und müssten zu einem dringenden Familienbesuch in der nächsten Stadt. Glücklicherweise war es Samstag, und der Verdacht, dass sie die Schule schwänzten, konnte nicht aufkommen. Die Flucht war geglückt, aber wie ging es jetzt weiter?

Am frühen Vormittag lungerten sie mit hungrigen Mägen in der städtischen Markthalle herum, in der Hoffnung, dass eine mitleidige Händlerseele ihnen etwas zum Essen zustecken würde. Dieter wollte sich so schnell wie möglich nach Leipzig durchschlagen. Das ging am einfachsten mit der Eisenbahn, aber für die Fahrkarte brauchte er Geld. Es war Monatsanfang und die Hausfrauen drängelten sich an einem Metzgerstand, der magere Schweinelendchen – eine seltene Delikatesse – feilbot. Glatte, beringte, nackte, weiße, faltige, braune Arme streckten sich nach vorn und forderten gierig einen Anteil. Vor Schulzis Nase hing eine halb offene Einkaufstasche, aus der ein pralles Portemonnaie zum Zugreifen einlud. Der Junge sandte schnell ein Stoßgebet zum Himmel, versenkte sekundenschnell seine Hand in die verführerische Tasche, und ehe die biedere Frau irgendetwas bemerkte – sie war nur mit der Schweinelende beschäftigt – war er zwischen den anderen Ständen verschwunden. Im Portemonnaie steckten 120 Mark, das war der Viertel Monatslohn ihres Mannes. Hastig zählte er jeweils vierzig Mark für seine Fluchthelfer ab, seinen Anteil versteckte er unter dem Hemd. Am verabredeten Treffpunkt war die Freude groß und wenig später stoben die drei Jungen in unterschiedliche Richtungen davon. Doch die wiedererlangte Freiheit währte nicht lang. Die Volkspolizei stöberte ihn schon bald bei seiner Mutter auf. Vergeblich bat sie darum, ihren Sohn bei sich behalten zu dürfen. »Er ist schwer erziehbar und gehört in ein Heim!« war die Auskunft.

Blütenträume

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