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EINLEITUNG – STAY STRONG, STAY BRAVE, STAY REBEL

BEGRIFFE

Wir brauchen Begriffe, um unsere Welt zu begreifen – oder auch um nur uns selbst zu verstehen. Es gibt das bekannte antiintellektuelle Vorurteil, dass Begriffe doch nur Worte seien, das tiefe Verstehen aber eine Sache der Gefühle ist, die präzise Arbeit am Begriff aber nur etwas für leidenschaftslose Bücherwürmer. Das ist natürlich Unsinn aus der Esoterikabteilung der Ratgeberliteratur. Ohne klar durchdachte Begriffe können wir gar nichts verstehen. In Wirklichkeit nicht einmal fühlen. Wer beispielsweise Liebe und existenzielles Zusammengehörigkeitsgefühl nicht vom temporären Rausch von Begehren und Verliebtheit unterscheiden kann, weiß nicht, wie er oder sie fühlt. Wer es unterscheiden kann, der hat dafür Begriffe, auch wenn er sich einredet, dass er sie nicht benötigt. Denn: Wir denken in Worten, wir reflektieren unsere Empfindungen, wir fühlen und horchen in uns hinein, aber wir tun das, auch wenn wir nicht sprechen, mit den Begriffen, die uns zur Verfügung stehen. Erlebnisse werden zur Erfahrung, indem wir sie verarbeiten, und das geschieht andauernd über die Sprache – auch über Selbstgespräche.

„Die Behauptung, dass ich eine absolut persönliche Erfahrung mache, ist unsinnig: ich kann überhaupt keine Erfahrung außerhalb einer Sprache machen, mittels derer ich sie erfassen kann“, sagt der britische Theorieguru Terry Eagleton, und fügt hinzu: „Das Charakteristikum der ‚lingusitischen Revolution‘ … ist die Erkenntnis, dass Bedeutung nicht einfach etwas von Sprache ‚Ausgedrücktes‘ oder ‚Widergespiegeltes‘ ist: sie wird durch sie überhaupt erst hergestellt.“

ZEITDIAGNOSEN

„Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“ hieß ein legendärer Suhrkamp-Band, den Jürgen Habermas vor beinahe vierzig Jahren herausgebracht hat. Eine Zeit beschreiben, ihre Umbrüche und Veränderungen, auch den Zeitgeist, wohin er führt, was er aus den Menschen macht, die Umstände, die wir produzieren, aber deren Produkte wir auch sind – all das kann man nicht abschließen, während man noch in einer Zeit drinnen steckt. Es sind eher Versuchsanordnungen, Andeutungen, die sich für essayistische Skizzen eignen, nicht für geschlossene resümierende Habilitationen. Die Zeitdiagnosen, die in diesem Buch versucht werden, sind auch um Begriffe gruppiert. 33 Begriffe, 33 Thematiken: von Liebe bis Kollaps, von Angst bis Freiheit, von Erfolg über Ironie bis Identität, Warenkonsum oder Integration – und Glück. Die Texte haben sich in den vergangenen siebzehn Jahren angesammelt. Manche wurden eigens für diesen Band geschrieben, andere beruhen auf Vorträgen oder Universitätsvorlesungen, wieder andere auf Texten, die in verschiedenen Zeitschriften erschienen sind, etwa im „Falter“, in der deutschen „tageszeitung“, dem Berliner „Freitag“, der „Neuen Zürcher Zeitung“ oder dem „profil“. Die Absicht war, sie so zu montieren, dass sie ein Panorama der Jetztzeit ergeben.

Für die Titel wurden bewusst Signalwörter, Catchphrases, benutzt, die mit einem #Hashtag versehen sind. Der Hashtag selbst ist schon Symbol für die Aufmerksamkeitsökonomie der Gegenwart, in der nur wahrgenommen wird, was ausreichend schnell ins Auge springt und zugleich verknüpfbar und verschlagwortet ist und im Internet gefunden werden kann: dem großen Archiv des Wissens, das den Vorteil hat, dass man alles darin findet, aber auch den Nachteil, dass man nichts mehr darin findet.

INTENSITÄT

„Nur der Einverstandene hat Chancen, die Welt zu ändern“, formulierte Walter Benjamin. Einverständnis heißt nicht, den Umständen zuzustimmen, sich Kritik zu versagen. Einverstanden heißt, mit seiner Zeit einverstanden zu sein, sich ihr auszusetzen, sich von ihr nicht abzuwenden. Auf der Höhe der Zeit sein, nicht in Nostalgie schwelgen. Radikal zeitgenössisch, absolut contemporary. So ist das zu verstehen: Seine Zeit annehmen, um sie verändern zu können.

Unsere Zeit ist unruhig. Was selbstverständlich schien – Menschenrechte, pluralistische Demokratie, gesellschaftliche Liberalität, sozialer Fortschritt –, all das ist nicht mehr selbstverständlich. Radikale Parteien, die Hass schüren und Menschen gegeneinander aufhetzen, ziehen in Parlamente ein. In meinem Heimatland Österreich regieren sie sogar. Sie vergiften das Klima und verschlechtern die Welt. Die Antwort darf aber nicht Verzagtheit sein, sondern knallharte Opposition und das Abenteuer des radikalen Denkens. Wo viele viel zu kurz greifen, gehe ich lieber entschieden zu weit.

„Intellektuelles ‚Begehren‘ wie sexuelles Begehren“, notierte die große Essayistin Susan Sontag in ihr Tagebuch, eine Frau, die ich wie kaum eine andere bewundere. Und: „Intellektuelle Ekstase“. Kein ein Begriff steht so zentral in Sontags Essayistik wie der Begriff der „Intensität“. Über Lyrik und Prosa schrieb sie, die Romantik verteidigte die Poesie, indem sie „prosaisch“ zu einem herabsetzenden Begriff machte, „in der Bedeutung von langweilig, abgedroschen, alltäglich, zahm“, während die Poesie „als ein Ideal von Intensität“ gefeiert würde. Immer wieder: Intensität, Tempo, der Reiz, den eine „Tendenz zum Ungesunden“ verströmt, das Ideal persönlicher Kraft. Oder auch, wie noch in den spätesten Essays: Risiko.

Denken ist das größte Abenteuer. Es gibt kein entschiedenes Handeln, das mit zahmem Denken einhergeht: Stay Strong, Stay Brave, Stay Rebel!

Liebe in Zeiten des Kapitalismus

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