Читать книгу Liebe in Zeiten des Kapitalismus - Robert Misik - Страница 8
#GLEICHHEIT #UNGLEICHHEIT
ОглавлениеDie Idee der Gleichheit ist ganz gehörig aus der Mode gekommen. Dies ist kein bloß sekundäres polit- und ideengeschichtliches Phänomen, sondern von unerhörter Brisanz für „die Linke“ jedweder Couleur, für die – nach dem Wort des italienischen marxistischen Philosophen Norberto Bobbio – „das Ideal der Gleichheit immer der Polarstern war, den sie angeschaut hat und weiterhin anschaut“. Für ihn blieb, auch in Zeiten der modischen Relativierung des Gegensatzes „Rechts und Links“, das egalitäre Prinzip das eigentliche Fundament für jede Linke – wenn auch nicht als Utopie einer Gesellschaft „der Gleichen“, so doch in Form des Strebens, „die Ungleichheiten etwas gleicher werden zu lassen“. Doch schon Bobbio musste sich in einer Kontroverse von seinem britischen Freund und Mitstreiter Perry Anderson fragen lassen, ob es denn wirklich „der Fall ist, dass die Linke, so wie sie aktuell in Europa heute existiert, alle Funktionalität der sozialen Ungleichheit bestreitet?“
Tatsächlich repräsentieren die europäischen Sozialdemokratien die Gerechtigkeitsideale breiter Gesellschaftsschichten, die immer auch und vor allem Gleichheitsideale sind, allenfalls in höchst subtiler Weise. In Wahrheit hat die Sozialdemokratie das Gleichheitsprinzip lange Zeit still sterben lassen. Im Geheimen messen viele führende Sozialdemokraten sozialen Ungleichheiten längst eine positive Funktion in dynamischen Gesellschaften zu. „In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt, und die soziale Demokratie mit Konformität und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit Kreativität“ – diese laute Selbstdenunziation ist die Schlüsselformel des einschlägigen „Schröder-Blair-Papiers“. Die österreichische Sozialdemokratie brachte es gar zuwege, in ihrem Parteiprogramm vom Ende der Neunzigerjahre den „Grundwert“ Gleichheit noch als Kapitelüberschrift beizubehalten, in dem entsprechenden Abschnitt dann aber nur mehr von „Chancengleichheit“ zu reden. Der Abschied vom Gleichheitsideal materialisiert sich auf der Ebene der Programmatik somit zuerst in Form einer Revision, der Verschiebung von Begriffen. Zwar dürfe, formulierte schon der britische Soziologe Anthony Giddens, Stichwortgeber aller sozialdemokratischen „Modernisierer“, in seinem Buch „Der Dritte Weg“, die Idee der „Umverteilung nicht von der sozialdemokratischen Tagesordnung genommen“, doch müsse sie künftig als „Umverteilung der Chancen“ interpretiert werden: „Die Förderung menschlicher Kreativität und Möglichkeiten sollte, soweit es geht, eine nachträgliche Umverteilung ersetzen.“
Auf dem Rücken des Begriffs der „Chancengerechtigkeit“ schlich sich das marktliberale Leistungscredo tief in die sozialdemokratischen Spitzenetagen hinein. Er ist von der marktliberalen Selbstillusion freier und gleicher Märkte, auf denen alle Akteure die gleichen Chancen haben sollen, zu Gewinnern (und damit auch zu Verlierern) werden zu können, praktisch ununterscheidbar geworden. Aus dieser Perspektive ist kaum mehr zu argumentieren, wie Ungleichheiten noch korrigiert werden könnten, wenn sie einmal hergestellt sind (und warum dies geschehen sollte), sieht man von zwei Einschränkungen ab: Jeder soll auch in modernen Marktökonomien überleben können und Ungleichheiten sollen sich über die Genealogie der Generationen, wenn möglich, nicht zu neuen „Chancenungerechtigkeiten“ verfestigen. Eine Einschränkung, die sehr bald auch Giddens machen musste. Ohne Umverteilung würde „aus der Ungleichheit im Ergebnis der einen Generation die Ungleichheit der Chancen der nächsten“. Dies ist freilich alles, was vom alten Gleichheitsideal geblieben ist.
DIE GLEICHHEIT ist ein vertracktes Ding. Als Ideal führte sie in der linken Theoriegeschichte – wie jedes Ideal, das in Hinblick auf das Prinzip des historischen Materialismus unter immerwährendem Moralitätsverdacht steht – ein Leben im Schatten, im Nebel der Werte. Selbst Karl Marx hatte in seinen späten Tagen hochgradig gereizt reagiert, als die deutsche Sozialdemokratie in ihrem Gothaer Programm die Forderung nach „Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheiten“ erhob. „Anstatt der unbestimmten Schlussphrase“, bekrittelte der Stammvater der modernen Linken verärgert aus seinem Londoner Exil, „war zu sagen, dass mit der Abschaffung der Klassenunterschiede von selbst alle aus ihnen entspringenden sozialen und politischen Ungleichheiten verschwinden“.
Tatsächlich ist das Ideal der Gleichheit älter als jede sozialistische Theorie und nährte sich aus vielerlei Traditionen. Schon mit dem Entstehen der modernen Staatstheorie wurde die Frage aufgeworfen, ob reine rechtliche, formale Gleichheit vor dem Gesetz wirklich reicht, oder ob der Zusammenhalt eines Gemeinwesens nicht die relative soziale Gleichheit seiner Bürger voraussetze. „Seiner Natur nach strebt der Wille des Einzelnen nach Vorrechten, der Allgemeinwille dagegen nach Gleichheit“, wusste Rousseau in seinem „Contrat social“, und auch, „dass den Menschen der gesellschaftliche Zustand nur so lange vorteilhaft ist, als jeder etwas und keiner zu viel hat“.
Einen immerwährenden Impuls erfuhr das Gleichheitsideal auch durch die „plebejische Kultur“, also das, was man die Lebenspraxis oder die Lebenswelten der Unterklassen nennen könnte, die einerseits von Idealvorstellungen eines „gerechten Preises“ oder eines „angemessenen Lohnes“ bestimmt wurden, andererseits durch die Alltagserfahrungen von Handwerkern und Fabrikarbeitern. So war noch die fortschrittliche Fabrikorganisation, die individuelle Fertigkeiten entwertete und insofern die Arbeiter „immer gleicher“ machte, eine mächtige Verbündete der Gleichheitsvorstellungen. Auch in Gestalt eines mehr oder weniger diffusen „Gemeinschaftsgefühls“ war uns die Gleichheit bekannt. Derart zentral und peripher, anwesend und abwesend zugleich, politisch still repräsentiert und stumm vorausgesetzt, sind die Gleichheitshoffnungen der Mehrheiten nie vordergründig sichtbar gewesen und sie sind es heute weniger denn je. Und auch das kollektivistische Motiv des Gleichheitsideals und das Versprechen auf Befreiung des Individuums aus gesellschaftlichen und somit kollektiven Zwängen lagen immer in einem Spannungsverhältnis, wie es von Marx in der berühmten Formulierung des „Kommunistischen Manifests“ aufzulösen versucht wurde, wonach im Kommunismus „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.
So müssen die Gleichheitshoffnungen in ihrer oft paradoxen Gestalt gesehen werden. Schon die immer genervte Rechtfertigung der Ungleichheit als ökonomisch oder sozial nützlich durch die Ideologen des Konkurrenzprinzips verweist auf einen tief sedimentierten Begriff der Gleichheit. Auch der Egalitarismus selbst tritt oft nur auf subtile Art, sozusagen negativ auf: nicht als Forderung nach „mehr Gleichheit“, sondern als waches Sensorium für jedwede Gefährdungen der Gleichheit, die auch in Neid und Ressentiments ihren Ausdruck finden können. So mag zwar jeder das Bedürfnis nach Distinktion verspüren, ist gleichzeitig aber Adressat der Abgrenzungsbedürfnisse anderer, die dann aber „Überheblichkeit“ und „Arroganz“ heißen, auf die der Einzelne leicht allergisch reagiert.
KLAR IST JEDENFALLS: Auch unsere modernen Gesellschaften verfügen über stark wirksame Gerechtigkeitskulturen, doch die sind „so kompliziert wie das Leben selbst“, wie Angela Krebs formuliert. So kompliziert, dass, wenn die Rede auf Gerechtigkeitsideale kommt, eher Ahnungen referiert werden als gesicherte Sachverhalte. „Meiner Ansicht nach“, schreibt etwa Anne Phillips, „ist den Menschen die Frage der Gleichheit eher wichtiger denn unwichtiger geworden. Sie bestehen nachdrücklicher darauf, als Gleiche behandelt zu werden (‚Wieso glaubt er, etwas Besseres zu sein, als ich?‘; ‚Woher nimmt er das Recht, mir sagen zu wollen, was ich zu tun habe?‘), sind weniger bereit, eine untergeordnete Position zu akzeptieren.“ Die Feststellung, dass Ungleichheit einer besonderen Rechtfertigung bedarf, wohingegen dies für die Gleichheit nicht gilt, ist ohne Zweifel immer noch richtig und ein gewichtiges Indiz für die starke Verwurzelung eines die Gleichheit betonenden Gerechtigkeitsideals. Diesen Gedanken hatte auf eindringliche Weise der russisch-angloamerikanische Philosoph Isaiah Berlin entwickelt: „Die Behauptung ist, dass Gleichheit keiner Rechtfertigung bedarf. Wenn ich einen Kuchen besitze und es zehn Personen gibt, unter denen ich aufteilen will, dann entsteht nicht automatisch ein Rechtfertigungsbedarf, wenn ich jeder Person ein Zehntel des Kuchens zukommen lasse. Wenn ich jedoch von diesem Grundsatz der Gleichverteilung abrücke, wird von mir erwartet, besondere Gründe dafür anzugeben.“
In dieses Bild der Paradoxien fügt sich übrigens, dass ausgerechnet die Epoche „gleichmacherischer“ Massendemokratien die Ideologie des „Individualismus“ entwickelte, und just im Zeitalter kapitalistischer Uniformierung und Standardisierung die feinen Unterschiede zwischen den Massenexistenzen immerwährend betont werden. „Sprache, Kleider, Gebärden und Physiognomien gleichen sich an“, beobachtete Siegfried Kracauer schon in den Zwanzigerjahren in seinen berühmten Studien der modernen Angestelltenwelt. Es ist grotesk, dass ausgerechnet die kapitalistischen Funktionseliten, denen ihre Austauschbarkeit in Gestalt ihrer „Business-Suites“ auf den Leib geschrieben steht, gegen die „Gleichmacherei“ wettern.
Der Historiker Paul Nolte hat in einem bemerkenswerten Aufsatz die neuen Trennungen beschrieben – als „ein getreues Abbild der alten Klassengesellschaft, die wir verdrängt haben, ohne ihre Realität beseitigen zu können“. Neue, subtile Spaltungen tun sich auf. So habe der „private Konsum … eine größere Bedeutung für die Selbststilisierung des Einzelnen“ gewonnen, haben „Konsum und Lifestyle soziale Unterschiede nicht eingeebnet, sondern vergrößert“. Die Möglichkeiten, die etwa der technologische Fortschritt bietet, verringern gleichzeitig die Chancen derer, die – aus welchen Gründen immer – diese nicht wahrnehmen können. Die „Internet-Linie“ spaltet alle, die die neuen Technologien beherrschen, von jenen ab, die dies nicht tun. So spielen die Kategorien „Alter und Generation in den sozialen Verteilungskämpfen eine größere Rolle“. Bei der Rede über „Individualisierung“, „Risiko“ und „Optionen“ fällt selten auf, „dass die einen mehr Optionen haben, die anderen größere Risiken tragen“. Wenngleich sich, trotzdem sich die Schere zwischen Oben und Unten öffnet, durch den sozialen „Fahrstuhleffekt“ der allgemeine Lebensstandard erhöht haben mag, so wuchsen die Abstände und haben sich „neue, subtile Mechanismen der sozialen Differenzierung herausgebildet“. Völlig unbeachtet, so Nolte, sei etwa der Umstand, dass sich zunehmend das „Premium-Segment“ gehobener Gütermärkte vom Massenkonsum abhebt, während „am anderen Ende der Preiskampf der ‚Discounter‘ immer härter wird.“ Anstelle einer „nivellierenden Massengesellschaft“, wie uns allgemein glauben gemacht wird, schaffen diese „Optionen“ eine Kultur, die der Demonstration und Verfestigung von Klassenunterschieden dient. Nolte: „Das Fernsehen ist das beste Beispiel: Der Aufstieg der Privatsender hat ja nicht einfach zu einer ‚Bilderflut‘ geführt, er hat vor allem eine Klassendifferenzierung des Fernsehens bewirkt, die es zur Zeit des Duopols von ARD und ZDF nicht gab. Mit RTL und Sat.1 ist ein spezielles Unterschichtfernsehen entstanden, und deshalb war es nur konsequent, dass sich am anderen Ende der sozialen Skala Sender wie 3sat oder Arte etablierten.“
DIE GERECHTIGKEITSFRAGE, die heute jeden politischen Diskurs – von der Steuergesetzgebung bis zur Globalisierungsdebatte – dominiert, ist nicht zu klären, solange um die Frage der „Gleichheit“ wie um einen heißen Brei herumgeredet wird. Der öffentliche politische Diskurs der Eliten über die Sachzwänge moderner, dynamischer, globalisierter Ökonomien und der Alltagsverstand breiter Bevölkerungsschichten klaffen dramatisch auseinander. Bei allen Unwägbarkeiten der Demoskopie: Zumindest eine gewichtige Minderheit, wenn nicht die bedeutende Mehrheit der Bevölkerung in den (kontinental-)europäischen Ländern ist der Überzeugung, dass mehr Gleichheit der gesellschaftlichen Entwicklung gut täte und dass es in diesen Gesellschaften nicht mehr gerecht zugeht.
Da freilich, wie wir oben gesehen haben, die Gleichheitskultur in unseren Gesellschaften „so kompliziert wie das Leben selbst ist“, wäre es überheblich, so zu tun, als wäre es eine einfache Sache, moderne linke Politik zu formulieren. Schließlich werden ja auch nicht alle Formen der Ungleichheiten von den Menschen abgelehnt. Dem Gleichheitsprinzip stehen auch Ungleichheitsprinzipien entgegen: dass besondere Kenntnisse, eine gediegene Ausbildung, große Erfahrung zu höheren Einkommen oder mehr Einfluss „qualifizieren“, wird selten in Abrede gestellt; auch wird das Prinzip von freiem Tausch – das freilich die Akkumulation von Reichtümern zur Konsequenz haben kann – kaum bestritten; nicht jede Differenz an Chancen wird gleich als Folge von ungerechten Privilegiertheiten allgemeiner Kritik unterzogen. Zudem kommen zu all diesen Prinzipien, die in Widerspruch zueinander treten können und einen Raum der „komplexen Gleichheit“ (Michael Walzer) eröffnen, auch noch Erwägungen des Nutzens hinzu. Wenn die Durchsetzung von mehr Gleichheit zwar zur Verringerung der Privilegien der Oberen beiträgt, den Unteren aber allenfalls in ihrer relativen Position nützt, keineswegs aber in ihrer absoluten Wohlfahrt, so hat das Gleichheitsprinzip zweifellos schlechte Karten – insbesondere also, wenn umverteilende Maßnahmen tatsächlich die allgemeine Prosperität beeinträchtigen würden. Darum sollte der Egalitarismus zumindest moderat genug sein, „um im Konfliktfall ‚Gleichheit versus Wohlfahrt‘ nicht immer Gleichheit Trumpf sein zu lassen“. All diese Einschränkungen führen nicht wenige Gesellschaftstheoretiker dazu, das Gleichheitsprinzip vollends fallen zu lassen: „Es kommt darauf an, ob Menschen ein gutes Leben führen, und nicht, wie deren Leben relativ zu dem Leben anderer steht“ (Harry Frankfurter).
Totale Gleichheit der Einkommen ist nicht möglich, und die meisten Menschen halten sie wahrscheinlich auch nicht für erstrebenswert. Aber eine mindestens ebenso große Mehrheit hält dramatische Einkommensunterschiede für gleichsam verwerflich; kein Mensch kann darüber hinaus die totale Durchökonomisierung und -monetarisierung der Gesellschaft begrüßen. Zudem sind große Ungleichheiten ökonomisch kontraproduktiv. Alle Erfahrung zeigt, „dass ein höherer Grad an Ungleichheit“ für wirtschaftliches Wachstum „ungünstiger ist als ein geringerer Grad an Ungleichheit“ (Philip Green). Weit davon entfernt, dass eine Gesellschaft, die große Ungleichheiten zulässt, leistungsstärker wäre, „ist wachsende Ungleichheit selbst eine Ursache wirtschaftlicher Ineffizienz“ (Will Hutton). Sicherlich mag es eine Linie des Grenznutzens geben, ab der wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen die Prosperität eines Gemeinwesens einschränken und damit ihrem eigenen Ziel – allgemeiner Wohlfahrt – abträglich werden. Doch viel mehr als solchen eher theoretischen Fällen sollten wir uns der ganz und gar praktischen Erfahrung zuwenden, dass es gerade die generösesten Wohlfahrtsstaaten in Europa sind, die im internationalen Wettbewerb bestehen; insbesondere die These, ein starker Sozialstaat behindere Innovation, erweist sich, wirft man einen Blick auf alle empirische Evidenzen, als geradezu absurd.
Wer große Ungleichheiten in Kauf nimmt, akzeptiert nämlich, dass viele Menschen in wirtschaftlich und sozial deklassierten Verhältnissen leben; diese Menschen werden, wenn das gesellschaftliche Versprechen auf mehr Gerechtigkeit nichts mehr trägt, träge, perspektivlos, wenn nicht kriminell … Sie erzeugen soziale Kosten. Damit es auch der letzte Marktprophet versteht, sei hier in der Sprache der Wirtschafttheorie formuliert: Wenn es für diese Menschen keine Wahrscheinlichkeit für sozialen Aufstieg gibt – wenn also von rationalen Erwartungen auf sozialen und wirtschaftlichen Erfolg nicht mehr gesprochen werden kann –, dann werden diese Erwartungen notwendigerweise reduziert (möglicherweise auf einen Wert nahe null) und diese Menschen werden weit weniger zum allgemeinen sozialen und ökonomischen Fortschritt einer Gesellschaft beitragen als sie es ansonsten täten. Aber selbst wenn sie ihr bescheidenes Leben mit den ihnen zur Verfügung stehenden Chancen so gut als möglich meistern, so wird eine solche Gesellschaft nicht jene – auch soziale – Mobilität inspirieren, die sie, gemeinsam mit der Flexibilität, zu ihrem beliebtesten Slogan gemacht hat: Sie wird chancenlose Unterklassen verfestigen und am anderen Ende der sozialen Leiter zu zunehmender Abschottung der Eliten führen.
WIR SEHEN ALSO: Nicht nur sind in unseren Gesellschaften sedimentierte Gleichheitsideale lebendig und am Werke, es gibt auch sehr viele gute Gründe, die Gleichheit gegen ihre Feinde zu verteidigen. Modern ist: Eine neue Politik der Gleichheit, die alte Ungerechtigkeiten und neue Ungleichheiten bekämpft. Eine Politik, die jene Minderheit der neuen Mitte und der Oberklassen, die sich aus der gesellschaftlichen Solidarität verabschieden, nicht noch mit modischen Stichworten versorgt, sondern die die Ideologie der „Ungleichmacherei“ bekämpft – ein zunächst ideologischer Kampf. Modern ist ein Bündnis aus Unterklassen und Deklassierten einerseits und den Gleichheitsidealen und dem Unbehagen der Mittellagen andererseits. Modern ist, eine Mehrheit für eine Politik der Umverteilung zu gewinnen. Das wären, in blassen, schnell skizzierten Strichen, Aufgaben moderner linker Politik: Sie muss nicht nur regulierend in das Marktgeschehen eingreifen, um dramatisch wachsende Ungleichheiten, aber auch systemische Störungen, die krisenhafte Unsicherheiten zur Folge haben, zu mildern – es scheint auch an der Zeit, ins Bewusstsein zu rufen, dass die Bereitstellung öffentlicher Güter, die für jedermann und jederfrau auf gleiche Weise zugänglich sind, ein Wert an sich ist.
Die Frage beispielsweise der Organisation des Gesundheitssystems ist zwar auch eine Frage der Effizienz und der Finanzmittel des Staates, aber sie ist dies eben nicht nur: Eine Differenzierung in eine Grundversorgung und einen „Überbau“, der auf privater Vorsorge gründet, hat nicht nur zur Folge, dass bestimmte Leistungen für Unterprivilegierte unter Umständen nicht mehr zu haben sind (was alleine schon schlimm genug wäre), sondern sie produziert auch einen Raum mehr, in dem sich die Bürger nicht mehr als Gleiche begegnen. Sphären zu erhalten und auszuweiten, die dem Marktgeschehen und der Frage, ob man sie bezahlen kann oder nicht, entzogen sind, ist und bleibt ein Projekt, das nicht nur ein soziales, sondern auch ein demokratisches ist. Wenn die Reichen und die Armen die gleichen Schulen besuchen, die gleichen Spitäler aufsuchen, den gleichen Zugang zur Kunst haben, dann hat dies mindestens einen ebenso großen Einfluss auf die „Gleichheits- und Gerechtigkeitskultur“ einer Gesellschaft wie die Frage der Einkommensverteilung. Stadtplanung kann das Ziel fördern, dass Gruppen unterschiedlicher sozialer Stellung in der gleichen Nachbarschaft wohnen oder sie kann diesem Ziel abträglich sein; die Qualität des öffentlichen Verkehrssystems hat wesentlichen Einfluss darauf, ob es von den Wohlhabenden und den Unterprivilegierten auf gleiche Weise benützt wird. Es sind dies, kurzum, Fragen, die über mehr entscheiden als über die relative Gleichheit von Bürgern eines Gemeinwesens, sondern letztlich darüber, ob dieses seinen Namen verdient, ob sich in ihm Bürger wechselseitig als ihresgleichen begegnen.
Wir sehen also: Es gibt Gründe genug, dass das Ideal der Gleichheit der „Polarstern“ (Bobbio) für eine modernisierte Linke bleibt – auch, wenn es nicht immer nützlich und auch nicht immer möglich sein mag, alle Ungleichheiten auszugleichen.