Читать книгу The American Monstershow in Germany & Der Traum des Stiers - Robert Odei David Pawn - Страница 11
Teil II: Ein Ungleichgewicht und die Harmonie daraus - Kapitel 7: Geburt
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Zuerst war da nur ein leiser Schrei im Dunkeln. Weit entfernt und unbeachtet. Ein bedeutungsloser Makel in der wattigen Dunkelheit, die so wohlig war wie der tiefste Schlaf an einem sorgenfreien Sonntagmorgen.
Aber der Schrei blieb nicht leise. Wie sie es so an sich haben, werden Schreie lauter, wenn niemand da ist, sie zu hören. So auch dieser.
Wenn ein Schrei nur laut genug ist, wird er gehört. Das lernen Kinder als erstes.
Und wenn sie es als Erwachsene vergessen, passieren manchmal Katastrophen. Dann werden Schreie so laut, dass sie Gewehrfeuer gleichen.
Und sie gebären neue Schreie. Geburt durch Ansteckung.
Angst und Schrecken gebären Angst und Schrecken.
Und manchmal gebären sie ein neues Bewusstsein. Ein Bewusstsein, sie zu hören.
Cassandra Moon schrie. Sie schrie wie alle Neugeborenen.
Sie schrie, um zu atmen.
Sie schrie vor Schmerz.
Sie schrie in Erinnerung an ihren Tod.
Sie schrie in WÜTENDEM TRIUMPH!
Ihre Finger. Sie stießen durch die dünne Schicht trockenen Laubes, bevor sie sich in die fruchtbare Erde darunter bohrten. Eine letzte Wehe bäumte Cassandras Körper empor, so dass nur Kopf und Fersen sie trugen. Mit einem Paukenschlag nahm das Herz die Arbeit auf und pumpte heißes Blut durch jede Arterie, jede Vene und jeden einzelnen Kapillar ihres Körpers. Die Nervenbahnen sandten eine Sturmflut an rotem Rauschen und irrwitzigem Schmerz aus, überboten sich an Dringlichkeit und Intensität in dem Begehren ihre Signale mit der höchsten Priorität zu versenden. Jede Muskelfaser in Cassandras Körper verkrampfte sich und bewahrte sie in letzter Instanz davor, ihren Darm auf der Stelle zu entleeren. Einen endlosen Moment lang verharrte sie in diesem gespannten Bogen, bevor mit einem Mal jedes Signal verlöschte, und sie zurück auf den Boden fiel. Kalte Luft strömte in ihre Lungen. Und strömte heiß heraus. Sie öffnete die Augen und blinzelte im hellen Licht.
Es bereitete ihr Schwindel, sich auf die Beine zu erheben. Tränen verschleierten ihr den Blick, und verhinderten, dass sie mehr sah, als den Boden zu ihren Füßen. Es brachte Cassandra bis an die Grenze der Erschöpfung, sich auf wackligen Beinen vorwärts zu bewegen, in dem Bemühen, sich auf die nächstbeste Erhebung zu setzen. Dem Geräusch nach zu urteilen, das ihre Füße bei jedem Schritt erzeugten, bewegte sie sich durch trockenes Blattwerk. Mit den Schweißbändern an ihren Handgelenken wischte sie sich die Tränen fort, und tatsächlich lief sie durch knöchelhohes, rostrotes Laub. Drei Schritte weiter fand sie einen stufig abgesägten Baumstumpf, auf den sie sich setzte. Sie vergrub die Hände unter den Achseln, und zitterte hemmungslos.
Nach einiger Zeit, sie wusste nicht wie lange sie auf dem Baumstumpf gesessen hatte, schöpfte sie genug Kraft, den Kopf zu heben und sich umzuschauen.
Hier lag eine Menge Laub. Es bedeckte jeden Flecken Erde, den Cassandra sehen konnte. Ein Blick in die Runde, und sie stellte fest, dass sie am Rand einer künstlichen Lichtung saß, die inmitten eines Birkenwaldes geschlagen worden war. Rechts von ihr erhoben sich die silberweißen, dünnen Stämme der kahlen Birken. Der Wald musste sehr tief sein, denn obwohl die einzelnen Stämme weit auseinander standen, konnte Cassandra zwischen ihnen nur endlose Reihen weiterer Birken sehen. Sie erstreckten sich bis in silbrige Endlosigkeit. Dazwischen war der Boden übersäht von Rot und Orange. Übersäht von trockenem Laub.
Cassandra musste sich nicht lange fragen, wozu diese Lichtung geschlagen worden war, weil links hinter ihr die Fassade des Westcott Manor emporragte. Es war sein Platz. Sein Hof. Anders als in Brickrow war das Manor hier nicht eingesunken und schmutzig. Es stand gerade und sauber da, als wäre es gerade gebaut worden.
Und es grinste böse.
Es konnte grinsen, weil es auf dieser Seite, wo auch immer das sein mochte, einen Mund hatte. An der Stelle, wo die Eingangstür sein sollte, befand sich im Türrahmen eine rosafarbene Obszönität. Ein mannshohes Arschloch.
Cassandra hatte weder genug Kraft zu lachen, noch sich zu fürchten. Sie betrachtete das verkniffene, aber wollüstig arbeitende Loch, und nur ein ferner Ekel stieg in ihr hoch. Die lange Furche im Laub, die von dieser Anus- Tür ins Laub führte, verriet Cassandra mehr als sie zu erfahren gehofft hatte: Sie saß ihrem eigenen Geburtsloch gegenüber.
Sie wandte sich ab, bevor ihr Magen sich anschicken konnte überzuschwappen. Wenigstens roch die Luft sauber. Es half, den Brechreiz unter Kontrolle zu bekommen. Sie würde sich nicht erbrechen. Noch nicht.
Sie blieb sitzen und überlegte, was zu tun war. Sie musste ihre Gedanken sammeln und zusehen, dass sie etwas über ihre Lage herausfand.
Fangen wir an.
Ich sitze in einem Birkenwald. Das ist nicht Brickrow. Das Manor steht hier, ich bin sicher, dass es dasselbe Haus ist, nur bin ich jetzt auf der anderen Seite. Ich sollte herausfinden, wo das ist.
Sie erhob sich und bog den Rücken durch. Dabei stöhnte sie wie ein brunftiger Hirsch.
Oh Himmel, ich fühle mich kräftiger als zuvor. Mir tut alles weh, aber ich fühle mich gesund.
Hinter ihr kicherte das Haus. Cassandra wandte sich um, bereit jedem Schrecken ins Gesicht zu sehen, mit dem das Manor aufwarten konnte, aber es geschah nichts. Nur das obszöne Arschloch arbeitete malmend.
“Was gibt es da zu lachen?”
Du hast mich getötet, du Scheißhaufen!, dachte sie. Und Nick hast du auch getötet!
Oh Gott, Nick!
Wenn sie den Transit überlebt hatte, dann hatte Nick das wahrscheinlich auch. Sie musste ihn finden, bevor sie darüber nachdenken konnte, wie sie wieder nach Hause kam.
“Wo ist Nick?”, brüllte sie das Loch an. “Sag mir, was du mit ihm gemacht hast!”
Das Haus lachte sie aus. Man konnte es nicht hören, aber man konnte es fühlen, so wie die Druckwelle einer ausklingenden Explosion.
Cassandra sah sich nach einer Waffe um. Zwischen dem Haus und dem Waldrand waren etwa zwanzig Meter baumfreie Fläche, die sie absuchte, indem sie von einem nichtssagenden Punkt zum nächsten lief, ohne etwas zu finden, dass gefährlicher war als ein abgebrochener Ast. Unbewusst hoffte Cassandra, die Holzfälleraxt zu finden, mit der diese Lichtung geschlagen worden war, aber wenn es nicht anders ging, würde sie eben den Ast nehmen. Sie griff sich das krumme Stück Holz, das etwa die Länge ihres Armes hatte, und marschierte zur rosafarbenen Anus-Tür. Dabei hätte sie über ihr Vorhaben beinahe gelacht. Mit beiden Händen schwang sie den Ast zur Seite und schlug mit der gleichmäßigen Bewegung eines Baseballspielers zu. Ihre verkaterten, kräftigen Muskeln sorgten für einen heftigen Treffer, der den Ast in tausend Stücke zerspringen ließ, doch das Fleisch, aus dem die Anus-Tür gemacht war, trotzte dem Schlag ohne zu zucken. Fest und ledern hätten die dicken Falten eine Gewehrkugel stoppen können.
Enttäuscht ließ Cassandra den Aststumpf fallen. Ohne Zögern sah sie sich nach etwas Stabilerem um, das sie als Waffe verwenden konnte. Sie bückte sich und hob ein paar kleine, gipsartige Steinchen auf. Damit warf sie nach dem Haus. Sie zielte auf die Anus- Tür und dann auf die Fenster, aber weder das eine, noch das andere gab nach. Die Steinchen prallten zurück.
Was konnte sie nur tun? Sie hatte nicht genug Mut, zu versuchen, durch eines der Fenster zu steigen. Selbst für Nick nicht. Sie wollte nach ihm suchen, aber bei Gott, sie würde niemals wieder dieses Haus betreten.
Und wenn das der einzige Weg zurück ist?
Wieder kicherte das Haus, und diesmal geschah etwas. Eines der Fenster oben am rechten Türmchen kippte einen spaltbreit nach vorne. Überrascht blickte Cassandra hoch, in der Hoffnung, dass Nick das Fenster geöffnet hatte. Doch soweit sie sehen konnte, stand niemand dahinter. Es bog sich von alleine nach außen. Cassandra verstand nicht, was für ein Witz das sein sollte. Und als sie nicht weiter reagierte, ließ das Haus das Fenster wippen.
“Wenn das eine Einladung sein soll, trete ich dir in den Arsch!”, brüllte Cassandra. “Und das kannst du wörtlich nehmen!”
Das Haus kippte das Fenster noch ein Stück weiter, entgegen der baulichen Struktur. Es kippte das Fenster so, dass es die Sonne direkt in Cassandras Gesicht reflektierte, und sie zwang, die Augen abzuschirmen. Der Lichtstrahl der Sonne wanderte nach unten über Cassandras Brust und die Hosenbeine. Sie folgte ihm mit dem Blick. Der helle Lichtpunkt wanderte über ihre Schuhe und hoch über das Herbstlaub zum Rand des Waldes. Dort verharrte er.
“Ist Nick dort entlanggelaufen?”
Das Fenster nickte. Der Lichtpunkt tanzte im Laub.
Misstrauisch lief Cassandra zu dem Leuchtpunkt am Waldrand. Er bewegte sich nicht mehr. Sie trat seitlich heran, um ihn nicht mit ihrem Körper zu verdecken. Ein goldener Gegenstand glänzte im Laub. Cassandra griff danach und holte die Verpackung eines Schokoriegels zwischen den Blättern hervor. Nick aß diese Riegel. Die Glitzerfolie hatte er hier fallengelassen.
Ein Fünkchen Hoffnung stieg in Cassandra auf. Wenn das kein Trick des Manors war, dann hatte Nick hier gegessen, bevor er in den Wald gelaufen war.
Nur eine Sache wunderte Cassandra.
Nick wird genau wie ich hierher geboren. Er hat Schmerzen. Ist verwirrt. Er fragt sich, wo ich bin. Das tut er doch, oder? Er sucht nach mir, aber vorher stopft er sich mit Schokoriegeln voll? Ich weiß nicht...
Konnte das eine falsche Fährte sein? Aber wer sollte sie gelegt haben? Zu welchem Zweck?
Oder es gab eine andere Erklärung. Eine, die Cassandra weit mehr beunruhigte.
Wie lange hat Nick nach mir gesucht? Stunden? Tage? - bevor er beschlossen hatte, alleine weiterzugehen? Hatte er gehungert? Wie viele Schokoriegel hatte er dabei? Wie lange konnte er sie rationieren? Dieser Wald sieht nicht so aus, als hätte er viel Nahrung zu bieten.
Cassandra warf die Goldfolie weg und ging zum Haus zurück.
“Wie viel Zeit ist vergangen?”, fragte sie das Haus.
Es antwortete nicht.
“Wo ist Nick jetzt?”, fragte sie.
Keine Antwort. Das Haus schwieg.
“Ach, fick dich doch selbst!”
Sie hatte so dermaßen die Schnauze voll von diesem Lachenden Haus. Sie ließ alle Hoffnung auf Hilfe fahren und gestand sich ein, dass sie Nick alleine finden musste. Vielleicht war er noch in der Nähe. Soweit Cassandra ihn einschätzte, war er intelligent genug, sich nicht so weit vom Manor zu entfernen, dass er sich im Wald verlief. Sollte er ähnlich denken wie sie, würde er zuerst um die Lichtung herum wandern, um die Gegend zu erkunden. Zumindest hoffte das Cassandra.
Sie lief in Richtung Waldrand und hatte das Westcott Manor schon vergessen, als das Haus plötzlich hinter ihr rülpste. Cassandra sah sich um, und erkannte, dass der große runde Anus etwas ausgespien hatte. Vor ihm auf dem Boden lag das nutzlose Wetzeisen mit dem billigen Plastikgriff. Mit seiner stumpfen Klinge wirkte es matt und nicht im Geringsten potent.
“Oh danke, wie großzügig!”, spottete Cassandra. “Wie wär´s, wenn du mir stattdessen ein Gewehr herbeizauberst?”
Das Manor kicherte. Ein letzter Scherz vor dem Abschied.
Cassandra nahm das Wetzeisen, wandte sich ein letztes Mal vom Manor ab und ging Nick suchen. Das Wetzeisen steckte sie in die Jackentasche, die tief genug war, dass nur der schwarze Plastikgriff herausragte.
Das Westcott Manor sah ihr nach. Es wusste, dass Cassandra nicht zurückkehren würde.
2
Es war keine gute Idee. Cassandra erkannte das, bevor sie richtig loslief. Keine zwanzig Meter hatte sie zurückgelegt (das Manor war zwischen den Bäumen noch deutlich sichtbar) als die Verzweiflung sie einholte.
Was tue ich hier? Ich laufe einer schwachen Hoffnung hinterher, durch einen unbekannten Wald an einem unbekannten Ort in einem unbekannten... was? Land? Auf einem unbekannten Planeten? Wo zum Teufel bin ich überhaupt?
Es war alles so sinnlos, die Orientierungslosigkeit so perfekt. Cassandra konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie an einem realen Ort war oder womöglich schon im Jenseits. Immerhin war sie doch gestorben, mit einer Brutalität, die sie sich nicht hätte ausmalen können. Oder hatte das Haus ihr etwas vorgespielt? Ihr Halluzinationen beschert ähnlich denen, die sie ein halbes Jahr zuvor verfolgt hatten? Cassandra vermutete, so schrecklich der Gedanke auch war, dass sie in diesem Haus wirklich zerhackt worden war. Sie musste sterben, weil der Tod die einzige Tür zu dieser Welt war. Sie war gestorben und hier wiedergeboren worden, mitsamt den Kleidern am Leib und ihrem letzten Hab und Gut.
Moment...
Bevor sie in die Ungewissheit marschierte, sollte sie wenigstens ihr Equipment überprüfen. Womöglich trug sie etwas bei sich, das ihr bei der Suche nach Nick helfen konnte.
Sie zog den Reißverschluss herunter und griff in die Innentasche ihrer Jacke. Ihre Finger wühlten im weichen Futter, doch das einzige, das sie hervorholten war eine Packung Taschentücher und ein Lippenstift. Ihr dämlicher Lippenstift, den sie in der Schule nicht auftragen durfte, weil er so verdammt schwarz war. Sonst war da nichts. Ihre Taschen waren leer.
Cassandra riss den Arm hoch und wollte den nutzlosen Lippenstift davonschleudern, verharrte aber im letzten Moment. Sie senkte den Arm und zog die Kappe vom Lippenstift. Er war ganz neu, die Spitze noch abgeschrägt. Sie ging zum nächsten Baum und berührte die glatte weiße Rinde, die an verschiedenen Stellen schwärig aufgeplatzt war.
Wie komisch, dachte sie. Diese aufgeplatzten Stellen sehen fast wie Münder aus. Schwarz geschminkte Münder.
Mit dem Lippenstift malte sie einen dicken schwarzen Pfeil auf ein Stück unversehrte Rinde. Die Spitze zeigte zum Manor. Sollte sie Nick nicht finden können, würde Cassandra den Pfeilen folgen und wieder hierher zurückkommen, um auf ihn zu warten.
Mit dem Lippenstift in der Hand setzte sie ihren Weg fort. Sie achtete darauf, sich in einer geraden Linie zu bewegen, was ohne Kompass nicht einfach war. Mehrmals musste sie wieder zurück zum letzten markierten Baum und ihre Richtung neu bestimmen.
Eine Stunde später hatte sich die Gegend kaum verändert.
Der Muskelkater in ihrem Körper ließ langsam nach, aber sie musste immer häufiger gähnen, während sie um große, herabgefallene Äste trat und vereinzeltes, nacktes Gestrüpp zur Seite bog. Viele Hindernisse gab es hier nicht, darum wurde sie im Vorankommen kaum behindert. Sie legte ein gutes Stück Weg zurück, und sah dabei kein einziges Tier vorbeihuschen. Im Wald war es unheimlich still. Kein Vogelgezwitscher, keine tierischen Signallaute, kein einziges Geräusch kündete von Leben. Dieser Wald war ausgestorben. Er bildete die Endstation der Zeit selbst. Infinites Schweigen. Ende.
Müde und ohne Hoffnung lehnte sich Cassandra an eine Birke. Sie wusste, dass sie jetzt nicht einschlafen durfte. Wenn die Nacht hereinbrach, während sie hier unter einem Baum schlief, dann mochte ihr Gott-weiß-was zustoßen. Nur weil der Wald leer schien, hieß das nicht, dass hier nichts lebte. Sie konnte sich nur zu gut ausmalen, wie sie nachts aufschreckte, weil ein monströses Tier an ihrem Bein kaute.
Nein, sie würde sich nur kurz setzen, nur ein paar Minuten, und sich dann wieder auf die Suche machen. Nick musste hier irgendwo sein.
Die Minuten vergingen.
3
Während Cassandra unter dem Baum lag und versuchte, die Sonne auszumachen, glitt sie in einen sehr flachen Schlaf, der wie geschaffen dafür war, die Realität zu träumen. In dieser Zeit passierte weiter hinten beim Westcott Manor etwas Beunruhigendes.
Das Manor hatte sein Geburtsloch inzwischen verborgen. An seine Stelle trat die altbekannte weiße Haustür. Weiter vorne am Waldrand glitzerte die Verpackungsfolie von Nicks Schokoriegel. Cassandra hatte sie liegen gelassen. Was sollte sie ihr schon nützen? Ein Stück tiefer im Wald prangte der erste schwarze Pfeil auf einer Birke. Und dieser Pfeil zog Interesse auf sich.
Hätte Cassandra die schwarzen, auf Hochglanz polierten Stiefel gesehen, die in strammem Schritt zu der markierten Birke liefen, wäre ihr der Tag auf dem Brickrow Hill eingefallen, als die Welt sich verändert hatte, und sie für einen winzigen Moment diese Vision gehabt hatte. Die Vision von schwarzen Stiefeln.
...und von autoritärer Gewalt, in irgendeiner Form.
Genau diese Stiefel blieben vor der markierten Birke stehen. Die Gestalt, die Cassandras Pfeil betrachtete, war vollkommen schwarz gekleidet. Die Hände steckten in schwarzen Lederhandschuhen. Ein Zeigefinger fuhr durch den Balken des Pfeiles und verschmierte ihn. Es war eine neugierige Geste. Die schwarzgekleidete Gestalt radierte den Pfeil nicht aus.
Einige Sekunden später setzten die schwarzen Hochglanzstiefel ihren Weg fort. Die Gestalt eilte nicht, aber sie trödelte auch nicht. Zielstrebig holte sie Cassandra Stück für Stück ein.
4
Cassandra schreckte auf. Etwas kaute an ihrem rechten Bein. Die Schmerzen waren wieder da. Die Schmerzen, die sie gespürt hatte, als die riesige Küchenreibe sie in Stücke gehackt hatte. Sie trat aus, versuchte das monströse Tier von ihrem durchgebissenen Bein wegzuscheuchen. Sie trat um sich, traf aber nur Luft.
Da war kein Tier.
Sie hatte geträumt.
Der Wald hatte sich nicht verändert. Er war still und leer wie zuvor. Sie konnte höchstens einige Minuten geschlafen haben, da die Sonne sich nicht erkennbar weiterbewegt hatte. Sie stand ein bisschen links vom Zenit. Um sich die Orientierung zu erleichtern, hatte Cassandra entschieden, diese Richtung, die sie eingeschlagen hatte, Osten zu nennen, weil auf der Brickrow-Seite in dieser Richtung Osten lag. Wenn sie damit richtig liegen sollte, die Wahrscheinlichkeit stand in etwa eins zu drei, dann war es jetzt etwa 11.00 Uhr vormittags. Genauer würde sie die Zeit bestimmen können, wenn die Sonne weitergewandert war. Bis zum Abend würde sie die Himmelsrichtungen und die Uhrzeit kennen.
Vorausgesetzt, dass ich immer noch auf der Erde bin. Was für ein lächerlicher Gedanke.
Sie erhob sich und schüttelte sich das Laub von der Kleidung. Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass sie über kurz oder lang etwas zu essen finden musste.
Nick hatte seine Schultasche dabeigehabt. Er pflegte zu sagen, dass er als Sportler mehr Kalorien verbrennen musste als normale Menschen. Zu diesem Zweck trüge er immer einen Vorrat an Schoko- und Powerriegeln bei sich, um seinen antrainierten Heißhunger zu bekämpfen. Cassandra wusste nicht, ob das die Wahrheit war, oder ob Nicks Heißhunger eine Nachwirkung des Kiffens war, aber im Moment beneidete sie ihn um seinen gefüllten Rucksack, den er mit auf diese Seite genommen hatte. Sie hatte ihren eigenen auf dem Dachboden des Manors zurückgelassen. Nicht dass er Essbares enthalten hätte.
Da kannst du im Moment nichts machen, dachte sie. Schnall den Gürtel enger und geh weiter.
Sie konnte nur hoffen, dass sie auf dem Weg durch den Wald auf eine essbare Pflanze traf. Sie war kein Naturexperte, kannte aber die meisten Pflanzen, die sie im Wald finden konnte.
Ja, in England, du Genie. Finde erst mal heraus wo du bist.
Und so ging sie eben weiter. Sie drang tiefer in den Wald und setzte alle paar Meter einen schwarzen Pfeil an die Rinde eines Baumes.
Die ewig gleiche Umgebung, die Birken und das orangerote Laub, die vollkommene Stille, machten ihre Sinne stumpf. Sie konzentrierte sich auf das Rascheln und das vereinzelte Knacken toter Zweige, auf die sie trat. Sie betete, dass Nick in der Nähe war. Dass sie ihn finden und mit ihm von hier verschwinden konnte, wie auch immer sie das bewerkstelligen sollte.
5
Dreihundert Meter hinter Cassandra pflügten schwarze Stiefel durch das Laub.
6
Cassandra merkte davon nichts. Für sie existierte nur der Wald. Und etwas, das sie weiter voraus entdeckt hatte. Ein hypnotisches Etwas.
Im ersten Moment war sie so verwundert, dass sie stehenblieb und sich das verfilzte Haar aus dem Gesicht strich. Sie dachte, dass ihr möglicherweise ein Erdkrumen ins Auge geraten war, so eigenartig war der Anblick, der sich ihr bot.
Ganz hinten im Wald, dort wo die einzelnen Stämme der Birken gerade noch auseinanderzuhalten waren, schwebte ein scharf umrissener, schwarzer Punkt in der Luft. Cassandra blinzelte. Irgendwie stimmte hier die Tiefenschärfe nicht mehr. Die silberweißen Bäume und das Orangerot des Laubes waren auf diese Entfernung traumartig verschwommen. Das gelbe Sonnenlicht ließ den ganzen hinteren Teil des Waldes märchenhaft glühen. Die Rinde der Bäume reflektierte das Licht und verstärkte diesen Effekt. Aber dieser kleine schwarze Punkt war so scharf gezeichnet, dass Cassandras Gehirn ihr weismachen wollte, dass er direkt vor ihren Augen schwebte. Es war eine einfache optische Täuschung.
Nur was sollte das? Cassandra konnte nicht erkennen, um was für einen Gegenstand es sich bei diesem Punkt handelte, aber sie wusste, dass der Gegenstand nicht mitten in der Luft schweben sollte. War es ein Insekt? Oder vielleicht etwas, das von einem Seil hing?
Cassandra ging raschelnd ein paar Meter weiter, bis sie den Gegenstand sicher identifizieren konnte.
Es war Nicks Rucksack, der mitten in der Luft schwebte. In Cassandras Augenhöhe. Er stand still, drehte sich nicht.
In Cassandras Brust begann es zu schmerzen. Der Rucksack stand in der Luft, aber wo war sein Besitzer? Was war Nick hier zugestoßen? Sie ging näher heran, bis der Rucksack einen Meter vor ihrem Gesicht schwebte. Sie konnte sehen, dass er nirgendwo festgemacht worden war. Er war mitten in die Luft geklebt.
Da drin wartet Essen auf dich.
Der Köder hing direkt vor ihrer Nase. Greif einfach danach. Sieh was passiert.
Aber Cassandra war nicht dämlich. Sie griff nicht nach dem Rucksack. Sie rührte sich nicht. Sie war in eine Falle getreten, deren Funktion sie nicht kannte, und sie würde verdammt vorsichtig da wieder heraustreten. Einfach rückwärts wieder raus. Den gleichen Weg zurücklaufen.
Aber vorher würde sie einen Blick nach oben riskieren. Nur einen kurzen. Ihr Atem ging heiß und schnell. Er schmeckte nach Kupfer.
Nur ein Blick. Nur ganz kurz. Nur mal sehen, was diesen Schatten auf mich wirft.
Ihre Nackenmuskulatur zitterte. Sie konnte den Kopf nicht still halten, als sie nach oben blickte und einen markerschütternden Schrei ausstieß.
Ein unglaublicher Adrenalinstoß schoss durch ihren Körper. Ihre Oberschenkel verkrampften sich und warfen Cassandra nach hinten, ohne dass sie darüber nachdenken musste. Sie landete rücklings im Laub und kroch von dem unsichtbaren Spinnennetz weg. Beim Kriechen fiel ihr das Wetzeisen aus der Tasche und sie ergriff es sofort, ohne inne zu halten, als die fleischfarbene Spinne zu Boden glitt.
Cassandra konnte nicht...
Sie konnte nicht aufstehen. Sie kroch.
Sechs Meter vor ihr lauerte die getarnte Spinne. Sie war so groß wie ein Mensch. Sie war breit wie ein Mensch.
Cassandra strampelte, kam aber nicht weiter. Sie hatte die Spinne aus den Augen verloren. Inmitten dieses orangefarbenen Laubs war die Spinne so gut wie unsichtbar. Eis wuchs durch Cassandras Adern. Sie hatte gesehen... Sie hatte die Anatomie gesehen... Die gewinkelten Beine, sie hatten Kniegelenke oben wo sie abknickten und wieder nach unten führten. Das Abdomen, aufgebläht und wabbelig, hatte einen Bauchnabel an der Unterseite. Der Thorax hatte Brustwarzen.
Cassandra wurde schwindelig. Der gleiche Schwindel wie im großen Reibeisen des Westcott Manor, in dem sie gestorben war.
Oh Gott, nicht noch einmal.
Die Beine! Such nach den Beinen, sie müssen aus dem Laub ragen.
Cassandras Blicke tanzten umher. Die ganze Umgebung zitterte unfokussiert, aber ja, da waren angewinkelte Beine. Zwei Reihen fleischfarbener Winkel. Sie bewegten sich nicht. Die Spinne lauerte.
Denk nach, Comtessa! Denk schnell! Die Spinne hat ein Netz. Es ist unsichtbar, aber der Rucksack hängt darin. Wenn sie mit einem Netz jagt, dann jagt sie nicht auf dem Boden, oder?
Aber das ist keine Spinne!!! Es ist ein Mensch. Oh Gott!
Irgendwo im Wald amüsierte sich jemand. Einen Moment lang dachte Cassandra, die Spinne würde lachen, und die Belustigung, die von einem solch entstellten Körper ausging, brachte Cassandras Verstand zum Zittern. Aber es war nicht die Spinne.
Als wäre diese eine Monstrosität, die sich im Laub versteckte, nicht genug, traten mit einem Mal vier weitere Monster hinter den Bäumen hervor. Cassandras Verstand war nicht in der Verfassung, sich zu fragen, wie sie sich so dicht hatten heranschleichen können und wie sie es schafften, sich hinter diesen Birken zu verstecken, denn der Schrecken, den die vier Neuankömmlinge erzeugten war viel schlimmer, als die Angst vor der Spinne. Cassandra vergaß die Spinne.
Was hinter den Birken hervortrat, waren vier Männer in adretten, tiefschwarzen Uniformen. Es war zu viel für Cassandra. Das, was sie in ihren entstellten Gesichtern sah, war zu viel.
Einer von ihnen war bei ihr, bevor sie merkte, mit welcher Geschwindigkeit er sich bewegte. Seine lederbezogene Hand griff tief in ihr Haar und schüttelte ihren Kopf hin und her. Cassandra schrie vor Angst, und brachte dadurch den Entstellten zum Lachen. Er schüttelte sie wie einen Hund.
Der kleinste der vier Neuankömmlinge kicherte wie ein Baby. Er kam heran und beugte sein monströses Gesicht über Cassandra, bevor er in ihr Schreien mit einstimmte. Wie eine Furie kreischte er ihr ins Gesicht. Sein kahler Kopf war über die gesamte Fläche von münzgroßen Facettenaugen bedeckt, die wie schwarzes Öl in allen Regenbogenfarben glänzten. Dutzende dieser Facettenaugen säumten seinen Schädel und ließen ihn wirken wie eine schwarze Discokugel. Statt einer Nase, besaß der uniformierte Mann winzige Atemlöcher über einem kleinen, ovalen Piranha- Mund. Der Mund war voller kleiner, dreieckiger Zähne, zwischen denen das irre Babygelächter hervorbrach.
Dem anderen, der Cassandra an den Haaren schüttelte, hatte man das Gesicht vom Schädel gezogen und dann mit der blutigen Seite nach außen wieder angenäht. Das Gesicht glänzte nicht. Das Blut und die dünne Fleischschicht waren eingetrocknet und rostbraun verfärbt. Während er Cassandra schüttelte, platzten schorfige Stücke von seinem Gesicht.
Cassandra verstand nicht, was diese Dämonen ihr ins Gesicht brüllten. Das Geschrei von Fleischgesicht und Facettenauge brachte sie um den Verstand. Die blinde Panik ließ Cassandra das einzige tun, zu dem sie noch fähig war.
Und auf einmal herrschte Ruhe. Fleischgesicht, Facettenauge und Cassandra verstummten. Sie alle sahen auf Facettenauges Bauch hinab. Auch die beiden Dämonen, die weiter hinten standen, sahen auf die zugeknöpfte Lederuniform ihres Kollegen und den Griff des Wetzeisens, der dort herausragte.
Cassandra wartete nicht darauf, dass die Überraschung der vier Männer nachließ. Sie sprang auf, opferte einen Teil ihrer Haare, die Fleischgesicht ihr ausriss und setzte zu einem Spurt an.
Wenn diese vier Männer richtige Menschen gewesen wären, dann hätte sie ihnen sogar entkommen können, aber Fleischgesicht war bei weitem schneller als jeder Mensch. Bevor Cassandra Geschwindigkeit aufnehmen konnte, packte er sie wieder an den Haaren und stoppte ihre Flucht auf schmerzhafte Weise.
Cassandra schrie mehr aus Frust als vor Schmerz. Sie schlug mit den Fäusten nach Fleischgesicht und trat nach seinem Knie, aber das zeigte keine Wirkung. Der Treffer machte ihn nur noch wütender. Er hob die Faust, um sie in Cassandras Gesicht zu schlagen, und dann passierte alles auf einmal.
Fleischgesicht wurde zur Seite gerissen als die Spinne mit einem einzigen gewaltigen Satz auf ihm landete. Cassandra flog mit ihm zu Boden und sah, wie die Spinne seine Kehle durchbiss. Ihre Kieferklauen arbeiteten wie ein Pürierstab. Ihre Beine, die in scharfkantig abgebrochene Oberschenkelknochen ausliefen (Cassandra konnte die roten Punkte von Knochenmark sehen), tänzelten auf Fleischgesicht herum und rissen das Leder seiner Uniform und die Haut darunter in Stücke. Das ergab in Ungefähr das Bild eines Hubschraubers, der in ein Stadion voller Menschen fiel, aber Cassandra verlor keine Zeit damit, sich an diesem Anblick zu ergötzen. Sie sprang auf und sprintete in den Wald, mit allem, was ihre Beine hergaben. Sie blickte nicht zurück.
Im selben Moment als die Spinne gesprungen war, hatte Facettenauge das Wetzeisen aus seinem Bauch gezogen und dümmlich die blutende Bauchwunde betrachtet. Es dauerte einen endlosen Moment, bis er begriffen hatte, was passiert war.
Die beiden anderen Dämonen, die sich bisher zurückgehalten hatten, stürzten sich währenddessen auf die Spinne. Sie trugen dicke Schlagstöcke mit Widerhaken an ihren Gürteln und hieben damit auf das aufgeblähte Abdomen der Spinne ein. Sie rissen große Stücke roten Fleisches aus ihrem Körper, aber es dauerte trotzdem lange, bis sie zitternd starb. In einem letzten Krampf brach sie auf den Überresten von Fleischgesicht zusammen, für den jede Hilfe zu spät kam. Seine Überreste würden bequem in ein Dutzend Urnen passen.
Die beiden blutüberströmten Dämonen, die von der toten Spinne zurücktraten, sahen nach Facettenauge, der weiterhin an seiner Bauchwunde fummelte.
Derjenige den Cassandra später als Anführer identifizieren sollte, war groß und athletisch. Er trug das schwarze Haar mit Pomade eng an den Kopf gekämmt. Dicke Kammlinien zogen sich durch das Haar, und gaben ein Gesicht frei, das beinahe intakt war. Mit Ausnahme des Augenbereichs. Wer auch immer ihn entstellt hatte, war mit großer chirurgischer Präzision vorgegangen, als er ihm die Augen und die Schläfenknochen entfernt hatte. Das große Loch, das dabei entstanden war, hatte er verschlossen, indem er das Gehirn nach vorne gezogen und auf eine Weise ummodelliert hatte, dass es nahtlos in die Lücke passte. Durch diese Behandlung erweckte der Anführer dieser Dämonen den Eindruck, ein grau-violett verzweigtes Gehirnvisier zu tragen.
Der vierte Dämon hatte die Statur eines Schwergewichtsboxers. Jede seiner Bewegungen ließ dicke Muskelstränge unter dem Leder seiner Uniform tanzen. Der Mund dieses Dämons war überraschend schön. Auf eine unbestimmte Weise schien er zu einem blonden Menschen zu gehören. Feststellen ließ sich das nicht mehr, da sein Gesicht von der Nasehöhle aufwärts vollkommen verbrannt war. Dabei war die Grenze zwischen intakter Haut und schwarzverkohltem Schädel wie mit dem Lineal gezogen. Er hatte keine Augen, nur leere Höhlen, und wie Facettenauge auch keine Ohren.
Diese beiden, der Visor- Dämon und der mit dem verbrannten Schädel, preschten hinter Cassandra her.
7
Cassandra rannte um ihr Leben. Sie achtete weder auf Zweige noch auf Unebenheiten des Bodens. Sie rannte schneller als sie jemals im Sportunterricht gerannt war. Ihre Angst war inzwischen zu etwas Neuem geworden, dass zwar immer noch Angst war, aber eine vollkommen andere Qualität hatte. Es fühlte sich an wie eine glatte Stahlplatte, die durch ihren Körper schnitt. Es war schlicht und einfach nackte Fluchtpanik. So fühlten sich Zebras, wenn der Löwe hinter ihnen her war, oder Antilopen, wenn sie erkannten, dass der Gepard sie mühelos einholen würde. Cassandra rannte ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn sie stolperte und sich das Genick brach, dann war das gut. Es war besser als von diesen Dämonen eingeholt zu werden.
Sie konnte hören, dass die Dämonen sich schneller bewegten als sie es vermochte. Sie erkannte das am Rauschen des Laubs, durch das sie pflügten. Cassandra atmete flüssiges Kupfer.
Hinter ihr schoss der Visor- Dämon durch den Wald. Er schien keine Mühe zu haben, den Bäumen auszuweichen. Für ihn war das ein Sprint über glatten Asphalt. Der Knochenschädel- Dämon war nur zwei Meter hinter ihm. Trotz seiner höheren Körpermasse bewegte er sich ebenso schnell. Cassandra hörte, wie der Visor- Dämon seinen Schritt verlangsamte, bis Knochenschädel an ihm vorbei war, und die letzte Distanz zu ihr überbrückte. Der massige Dämon streckte die Hand aus, um Cassandra an der Schulter zu packen, und beging einen Fehler. Er rechnete nicht damit, dass Cassandra sich wehren würde.
Während der ersten Sekunden ihrer Flucht, als die Dämonen mit der Spinne beschäftigt waren, hatte Cassandra einmal kurz angehalten, um den erstbesten Stein aufzuheben, den sie finden konnte. Mitten im Wald gab es davon nur wenige, keiner größer als ein Hühnerei, aber der war immerhin besser als nichts. In dem Moment, als sie den Dämon hinter sich spürte, und das Laub gegen ihre Hacken getreten wurde, wirbelte sie im Laufen herum. Es war ein halsbrecherisches Manöver, bei dem sie mit Sicherheit stürzen würde, und sie schwang den glatten Stein, als Knochenschädel sie packte. Sie hieb ihn mit aller Kraft gegen seine verkohlte Schläfe. Ihre Finger explodierten in Schmerz, als der Stein gegen Knochen schlug, und Cassandra sah einen flachen weißen Splitter von der nackten Schläfe des Dämons absplittern. Dann stürzten sie beide kopfüber ins Herbstlaub.
Die ganze Welt überschlug sich. Cassandra zog Arme und Beine eng an den Körper und lieferte sich dem Sturz aus. Äste knackten, trafen sie am Kopf. Trockene Blätter und Erde flogen auf. Ein guter Teil davon landete in ihrem Mund. Die Bitterkeit ließ ihr den Atem stocken. Im Stroboskop- Effekt ihrer überschlagenden Sinne sah sie, wie Knochenschädels massiger Körper gegen einen Baum prallte, dann wirbelten trockene Blätter durch ihr Sichtfeld.
Der Sturz wollte nicht aufhören. Pirouette um Pirouette folgten aufeinander, und doch war auf einmal Schluss. Nach einem letzten Überschlag blieb Cassandra liegen. Der Schmerz, der sich daraufhin einstellte, war überwältigend, und doch blieb ihr keine Zeit, nach Verletzungen zu tasten. Dazu hatte sie zu große Angst. Sie zwang sich aufzustehen. Ihre Orientierung war dahin. Weder der Knochenschädel- Dämon, noch der Visor-Dämon waren im Wald zu sehen.
Cassandra setzte sie sich in Bewegung. Sie humpelte mehr, als dass sie rannte. Das Adrenalin würde bald nachlassen, und dann, das wusste sie, würde sie sich einfach hinsetzen und warten, dass diese Dämonen sie einfingen.
Sie lief ein paar Meter weit und fühlte den ersten Anflug einer Hoffnung. Es schien als wäre sie ihnen tatsächlich entkommen, und da traten hundertfünfzig Kilo lederbezogene Muskelmasse hinter einem Baum hervor. Das abgesplitterte Stück Schläfe leuchtete in wütendem Weiß in seinem kohleschwarzen Totenkopf- Gesicht. Er hielt Cassandra an der Schulter fest und schlug ihr die Faust in den Magen. Die dicke Daunenjacke milderte den Schlag nicht im Geringsten. Cassandra klappte zusammen, unfähig etwas zu sagen oder zu tun. Wäre ihr Magen nicht leer gewesen, hätte sie sich erbrochen. Für einen kurzen Moment fragte sie sich, wie man nur imstande sein konnte, eine Frau derartig brutal zu schlagen, aber da trat Knochenschädel schon mit dem Stiefel nach ihr. Er trat nicht seitlich, sondern von oben herab, als wäre sie ein Feuer, das man ersticken müsste. Sie spürte die Tritte schmerzhaft, aber weit entfernt. Sie hatte das Gefühl, mit jedem Tritt tiefer ins Erdreich zu sinken. Die Schmerzen würden aufhören, wenn die Erde sie nur endlich aufnahm. Sie würde glücklich und tot sein.
Sie sah nicht mehr, wie der Visor- Dämon herantrat und Knochenschädel wegzog.
Der kräftigere Dämon beruhigte sich zwar nicht, wirbelte aber herum und ließ den anderen ohne ein Wort stehen.
Der Visor- Dämon wartete, bis Knochenschädel weg war und schaute dann nach Cassandra. Er musste einen Handschuh ausziehen, um ihren Puls zu fühlen. Die Hand, die er an ihren Hals legte, war die unverletzte Hand eines normalen Mannes. Er zog den Handschuh wieder an und hob den schlaffen Körper auf seine Schulter.
Dann trug er Cassandra in die Richtung, aus der sie gekommen waren.