Читать книгу The American Monstershow in Germany & Der Traum des Stiers - Robert Odei David Pawn - Страница 12

Erinnerungen I : Ein Ausrutscher

Оглавление

Es war im Winter gewesen. Vier Jahre nachdem Cassandra mit ihren Eltern nach Hillside gezogen war, ins Haus ihrer verstorbenen Großeltern, und zwei Jahre, bevor sie von der Grundschule zur Brickrow Grammar School wechseln und den Kleiderpuppen begegnen sollte.

Cassandra war neun Jahre alt. Ein kleines zerzaustes Mädchen, das einen dicken, rot und schwarz karierten Rock trug, und dessen Beine in dicken schwarzen Kinderstrumpfhosen steckten. Sie hatte klobige Winterstiefel an ihren Füßen und einen grauen Filzmantel, in den sie ihre Hände vergrub, während der Wind und der Regen an ihr zerrten.

Um fünfzehn Uhr würde der Schulbus am Rathaus sein. Die Grundschule, die Cassandra besuchte, eine von drei in Brickrow, lag nur ein paar Straßen weiter, hinter dem Rathaus, und viele der Kinder liefen von dort zu Fuß nach Hause. Nur diejenigen, die in Hillside wohnten, warteten unter bunten Regenschirmen auf den Bus. Zehn Kinder, Mädchen und Jungs, hüpften auf und ab, und versuchten, sich durch ihre Schals hindurch zu unterhalten.

Cassandra stand abseits von ihnen. Sie dachte an Weihnachten und die Bücher, die sie sich von ihren Eltern wünschte, so wie sie es jedes Jahr tat. Nichts anderes würde sie sich wünschen. Sie wollte keine Puppen und kein Spielzeug und auch keine hübschen Kleider. Nichts davon. Nur Bücher, und davon am liebsten die, die sich mit einem einzigen Thema beschäftigten. Sie liebte Sachbücher über Tiere oder Dinosaurier oder auch Flugzeuge. Ihr war jedes Thema recht, solange sich das Buch nur daran hielt und nicht mehrere verschiedene Themen in sich vereinte. So mochte Cassandra keine Kinderlexika, die jedem Sachgebiet wenige Seiten widmeten, ohne Cassandras tiefschürfende Neugier befriedigen zu können.

In ihrer kindlich rigorosen Art fand sie, dass Bücher weder zu viel verlangt waren, noch dass diese eine simple Regel ein Problem für ihre Eltern darstellen sollte. Cassandra erwartete ein gewisses Entgegenkommen in dieser Beziehung und war doch wiederholt enttäuscht worden. Es war nicht so, dass ihre Eltern ihr keine Bücher kaufen wollten. Sie hielten es nicht für Geldverschwendung und sie warfen Cassandra auch nicht vor, dass sie zu viel las und zu wenig draußen spielte. Nein, vielmehr war es so, dass sie Cassandras Interessen nicht ernstnahmen. Und das äußerte sich auf die Weise, dass sie ihr einfach jeden Scheiß kauften, solange er zwischen zwei Buchdeckeln klemmte. Und das, liebe Leute, machte die kleine Cassandra verdammt wütend. Was bitteschön war an dieser einen simplen Regel nicht zu verstehen? Kochbuch zu Weihnachten, und Cassandra ist glücklich. Tausend Seiten dicke Enzyklopädie aller Wissenschaften, und Cassandra ist unglücklich. Wo war das Problem?

Dieses Jahr hatte Cassandra beschlossen, ihren Eltern einen Wunschzettel zu schreiben. Es würde das erste Mal sein, und sie hoffte, dass ihre Eltern sich daran hielten. Aber wieso sollten sie nicht? Zu mehr, als einer vagen Belustigung würde der Wunschzettel sie nicht reizen. Sie nahmen ihre Tochter nicht ernst und würden ihr ihren harmlosen Wunsch eben erfüllen. Schönen Dank auch.

Regen lief Cassandra in die Nase. Sie schnaubte und wischte sich die Nase an der Schulter ab. Sie dachte darüber nach, wie sie ihre Eltern für die Geschenke belohnen könnte. Ganz zu Anfang der Schulzeit hatte Cassandra festgestellt, dass ihre Eltern fröhlicher wurden, wenn sie gute Noten mit nach Hause brachte. Das hatte Cassandra vermehrt Aufmerksamkeit eingebracht. Sie lernte den Schulstoff schnell und brachte ihren Eltern nur noch Bestnoten nach Hause, bis die Noten ihren Reiz verloren. Ihre Eltern gewöhnten sich daran, dass ihre Tochter eine Spitzenschülerin war, und weshalb sollte man sich da noch groß mit ihr befassen?

Die Noten stellten sie nicht mehr zufrieden.

Eine kurze Zeit lang hatte Cassandra mit dem Gedanken gespielt, in der Schule schlechter zu werden, um nach einem halben Jahr wieder richtig durchzustarten. Doch sie hatte diese Idee verworfen, weil sie gerne lernte und sich den Notenschnitt nicht vermiesen wollte. Sie musste sich etwas anderes einfallen lassen, und darüber dachte sie schon seit Tagen nach.

Sie hatte sich zu keiner Entscheidung durchgerungen, als der Bus endlich kam. Die Fahrertür hielt genau vor Cassandra, und sie machte sich daran einzusteigen, als die anderen Kinder plötzlich losrannten und sie zur Seite stießen. Cassandra stolperte und fiel auf den Hintern. Setzte sich genau in eine Pfütze. Die Hände hatte sie noch in den Taschen, so dass sie Mühe hatte aufzustehen. Mit der Dringlichkeit der Frustration zog sie die Hände heraus und kam wankend auf die Beine. Ihr Hintern war durchnässt und kalt.

Der Busfahrer starrte sie aus der Fahrertür heraus an, bevor er sich ein Stück weit vorbeugte. In ihrer Naivität glaubte Cassandra, er würde ihr helfen wollen, doch er sagte: “Nun mach schon, Kleine. Ich muss weiter.”

Zutiefst beschämt stieg Cassandra die Stufen hinauf. Der Busfahrer schaute ungeduldig. “Nun setz dich schon.”

Die Tür schloss sich mit einem Zischen, als Cassandra den Mittelgang entlanglief. Zu beiden Seiten schnatterten Jungs und Mädchen. Die Sitze im vorderen Teil des Busses waren besetzt, darum ging Cassandra nach hinten durch, und genau in dem Moment, als der Bus anfuhr, stellte ihr jemand ein Bein. Sie stolperte zum zweiten Mal und landete bäuchlings im Mittelgang. Die Kinder kreischten vor Lachen.

Sie hatte zum Glück die Hände aus den Taschen genommen, sonst wäre sie auf dem Gesicht gelandet. Sie erhob sich ein weiteres Mal, was nicht einfach war, da der Bus hin und her schaukelte. In Cassandras Gesicht lag weder Wut noch Angst, sondern eine stoische Fatalität. Sie schaute nach dem Jungen, der ihr das Bein gestellt hatte.

Er saß neben der Stelle, an der sie stand. Einer von diesen viel zu hübschen, blonden Jungs, die sich gut als Helden in einer Zeichentrickserie machen würden. Cassandras hasste diese Typen. Und dieser hier grinste ihr offen ins Gesicht. Neben ihm am Fenster saß ein dicker Junge mit einem fiesen Schrumpfgesicht und beugte sich zu ihm. Er flüsterte so laut, dass Cassandra es hören konnte: “Mach nochmal!”

Der Blonde wartete und grinste. Er wartete darauf, dass Cassandra noch einen Schritt tat. Dann würde er wieder das Bein ausstrecken.

Nun, Cassandra hatte da andere Pläne. Sie streckte sich, als würde ihr Körper schmerzen. Sie musste sich festhalten, um vom Schaukeln des Busses nicht umgeworfen zu werden. Dieser Umstand kam ihr recht. Mit aller Kraft, die eine Neunjährige aufbringen konnte, rammte sie ihren Ellenbogen ins Gesicht des blonden Jungen. Sie hörte ein Knacken, und der Kopf des Jungen schlug nach hinten ins Gesicht des Fetten. Nachdem die ersten Sekunden des Schocks vergingen, heulten beide Jungen auf wie eine doppelte Alarmsirene. Dem Blonden lief das Blut aus der Nase, dem Fetten aus dem Mund.

Der Busfahrer bremste scharf und wirbelte herum, um zu sehen, was da geschah. Überall kreischten und heulten Kinder, als sie gegen die vorderen Sitze prallten. Der Busfahrer sah, dass zweien von ihnen das Blut aus dem Gesicht lief. Daneben stand Cassandra mit dem Ausdruck tiefster Zufriedenheit auf dem unreifen Gesicht. Der Busfahrer sprang auf und rief, “Bist du noch ganz dicht? So eine Scheiße auch.” Jetzt musste er doch tatsächlich den Erste-Hilfe-Kasten anbrechen.

Während der Busfahrer unter seinem Sitz kramte, lief Cassandra ruhig nach hinten durch. Ihr Kinn zitterte, aber sie würde nicht heulen. Das versprach sie sich. Sie würde nicht heulen.

The American Monstershow in Germany & Der Traum des Stiers

Подняться наверх