Читать книгу The American Monstershow in Germany & Der Traum des Stiers - Robert Odei David Pawn - Страница 9
Kapitel 6: Westcott Manor
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Es war schon ein Kreuz mit dieser Cassandra. Nick glaubte, das besser zu wissen als jeder andere. Da machte er diesem Mädchen nun seit Wochen den Hof, nachdem Toby so erbarmungslos abgeblitzt war, und bekam außer ihren wechselnden Launen keinerlei Entschädigung für seine Mühen. Kein netter Blick, kein liebes Wort und nicht das leiseste Anzeichen von Interesse an seiner Person. Einfach nichts. Stattdessen schien dieses Mädchen ständig mit sich selbst beschäftigt zu sein. Sie war pausenlos am Grübeln, als hätte sie alle Geheimnisse der Welt zu lösen. Manchmal war sie nicht einmal ansprechbar, in ihren merkwürdigen, tranceartigen Zuständen. Oft starrte sie nur in die Luft, wie ein Duracell-Kaninchen, dem die Lithium- Batterien ausgegangen waren. In solchen Momenten war Nick klar, dass er wohl das Letzte war, an das Cassandra gerade dachte, und er wünschte sich, er hätte genug Courage, sie so lange zu schütteln, bis sie ihn endlich zur Kenntnis nahm. Aber das passierte nicht, und Nick blieb nichts anderes übrig, als diesem Mädchen geduldig zu folgen und abzuwarten, wohin sie ihn führte. Dass sie ihn gerade in diesem Moment in ein schlimmeres Schicksal als den Tod führte, konnte er nicht ahnen.
Sie stiegen außerhalb der Stadtgrenze von Brickrow an der Station Westcott Manor aus und warteten, bis der Bus zischend davonfuhr, bevor sie in seiner Abgaswolke die Landstraße überquerten. Sie hatten beide ihre schwarzblaue Schulkleidung an. Die Rucksäcke baumelten ihnen von der Schulter.
Die Brickrow Grammar School hatte vor einigen Jahren die Pflicht zur Schuluniform abgeschafft und dafür einen weniger strengen Dress-Code eingeführt, der den Schülern vorschrieb, züchtige Kleidung in den traditionellen Farben Blau und Schwarz zu tragen. Züchtige Kleidung bedeutete in diesem Fall blaue Blazer, sowohl für Jungs, als auch für Mädchen (ohne Ausschnitt, was Mädchen anbetraf) und schwarze Hosen, oder Röcke, die über das Knie reichten. In den kalten Monaten waren auch den Mädchen Hosen erlaubt, oder dicke Röcke mit Wollstrümpfen, wobei sich Cassandra an die Hosen hielt und dabei den Toleranzspielraum bis an die Grenze auslotete, indem sie Hosen mit trompetenförmigen Hosenbeinen trug. Über ihrem Blazer trug sie eine dicke dunkelblaue Jack Wolfskin- Steppjacke, die den kalten Wind abhielt.
Auch Nick trug eine warme Jacke, an deren Nylonfaser sein Rucksack ständig herabrutschte. Er folgte Cassandra über die Straße und den schmalen Weg hinab zum Westcott Manor, das hundert Meter weiter am äußersten Ausläufer des Moores stand. Man konnte das grünlich weiße Haus von der Landstraße aus sehen, wie es im Moor lehnte, als würde es sich vor Lachen nach hinten biegen. Die Eingangstür ragte, anders als auf Cassandras Fotos, nur zum oberen Drittel aus dem sumpfigen Boden, und die ehemalige Terrasse, auf der einst Korbstühle gestanden hatten, war vollends versunken.
Ein paar Meter vor dem Haus stand ein weißgetünchtes Schild mit der Aufschrift:
EINSTURZGEFAHR
BETRETEN VERBOTEN
Nach einem kurzen Blick auf die versunkene Eingangstür, sagte Cassandra: “Wir müssen durch eines der Fenster steigen.”
Nick konnte nicht glauben, dass Ron sein Gras in dieser Ruine versteckte. Die Idee war einfach dämlich, und doch zugleich genial. In den Sommermonaten kamen hier täglich Touristen vorbei und sahen sich das Haus an, und nur dieses halb vermoderte Schild verhinderte, dass einer ins Haus stieg und die von Ron hinterlassenen Spuren fand. Das konnte Nick gerade noch akzeptieren, aber was er nicht glauben konnte, war, dass kein anderer Jugendlicher jemals auf die Idee gekommen war, hier sein Geheimversteck einzurichten. Vor allem Kinder wurden doch von solchen Ruinen magisch angezogen. Hatte Ron sie alle erwischt und ihnen mit Prügeln gedroht, wenn sie etwas davon ausplauderten? Und wieso wusste Cody Barnes nichts davon? Er hatte Ron schon oft mit kleinen Mengen Gras erwischt, aber hätte er gewusst, dass Ron hier ein Lager hatte, dann hätte Barnes ihn nicht so schnell wieder nach Hause geschickt. Aber wenn Barnes nichts davon wusste, dann hatte die Polizei das Haus wahrscheinlich auch nicht durchsucht und das bedeutete...
“Cass?”, sagte Nick.
Cassandra wandte den Blick vom Westcott Manor ab. Sie war sich noch nicht sicher, durch welches Fenster sie steigen sollten. “Sag nicht, dass du jetzt kneifst”, warnte sie.
“Nein”, sagte Nick, “aber ist dir schon die Idee gekommen, dass Ron vielleicht da drin liegt?”
“Ja”, sagte sie und setzte sich in Bewegung. Sie lief vorsichtig über den weichen Moosboden bis zum halbvergrabenen Geländer. Die Farbe war schon lange abgeblättert, und das Holz hatte eine grünlich graue Farbe angenommen.
“Du scheinst wirklich keine Bedenken zu haben. Hast bestimmt schon viele Leichen gesehen.”
“Rede keinen Schwachsinn. Da sind keine Leichen.”
“Und woher willst du das wissen?”
Cassandra antwortete nicht. Sie trat näher an die weiße Holzplankenwand des Hauses und betrachtete die Fenster zum ersten Stock, deren unterer Rahmen ein gutes Stück über ihrer Augenhöhe lag. Sie versuchte herauszufinden, durch welches Fenster Ron gestiegen war. Sie waren alle verschlossen und würden nach innen fallen, wenn man sie öffnete, darum muss Ron einen Trick gekannt haben, um sie nicht zu beschädigen. Und sie auch wieder von außen zu schließen. Aber hier war nichts. Diese Fenster waren seit Jahren nicht geöffnet worden.
“Lass uns hinter das Haus gehen”, sagte sie.
Nick folgte ihr resigniert. Er ahnte, dass sie hier nichts Gutes finden würden. Falls die Polizei das Haus durchsucht hatte, dann hatte sie auch alle Drogen mitgenommen, aber falls die Polizei das Haus nicht durchsucht hatte, dann war die Wahrscheinlichkeit doch recht hoch, dass sie hier auf Rons Leiche stoßen würden. Oder etwa nicht? Nick hielt es für unwahrscheinlich, dass ein Junge für drei Tage verschwindet und dann wohlbehalten wieder auftaucht, nachdem die Polizei die ganze Stadt nach ihm abgesucht hatte. Nein, Sir. Nick glaubte, dass Ron in seinem Versteck mit harten Drogen experimentiert hatte und dabei, nun... gestorben war. Jetzt würden sie ihn hier finden, mit trockenem Schaum vor dem grauen Gesicht. Die Augen offen und silbrig.
“Du musst mir helfen”, sagte Cassandra. Sie war um das Haus herumgelaufen und stand jetzt im Schatten der geneigten Seite. Das Haus sah aus wie eine kleine, eckige Version des Schiefen Turms von Pisa. Nick schauderte bei dem Gedanken, dass es sich gerade jetzt entscheiden könnte umzufallen, um sie beide mit einem platschenden Knall unter sich zu begraben. Sie würden daliegen mit der harten, unnachgiebigen Wand über sich und dem weichen sumpfigen Boden unter sich und minutenlang auf den Tod warten.
“Was soll ich tun?”, fragte er.
Sie deutete auf eines der überhängenden Fenster. “Dieses Fenster muss nach oben geschoben werden, um es zu öffnen. Ich weiß nicht, wie Ron das gemacht hat, aber ich komme dran, wenn du eine Räuberleiter machst.”
Nick stöhnte innerlich beim Anblick von Cassandras festen Stiefeln und dem Schlamm im Profil, aber er legte seinen Rucksack ab und verschränkte die Hände zu einer Räuberleiter. Cassandra warf ihren Rucksack neben seinen und trat vorsichtig in seine Hände. Etwas verspätet kam ihr die Idee, “Danke” zu sagen.
Nick hob sie mit einem Ruck hinauf, und für einen Moment stand sie unsicher in der Luft, nach hinten geneigt zwischen Nick und dem schrägen Fenster. Sie musste mit einem Bein balancieren, um nicht zu fallen, und wirkte wie eine todgeweihte Seiltänzerin.
“Mach schnell”, stöhnte Nick. Er konnte ihr Gewicht kaum halten. Die tiefen Rillen ihrer Winterstiefel drückten seine Finger auseinander, und Cassandras Körpergewicht drückte ihn mit den Füßen voran in den weichen Boden.
“Eine Sekunde!” Sie fummelte am Fensterrahmen. Spröde Farbsplitter platzten ab, bevor sie die Fingerspitzen in den Spalt zwischen Fenster und Rahmen drücken konnte und das Fenster mit einem Ruck zur Hälfte aufschob. Sie griff fester zu und schob es ganz auf. Dann ließ Nick sie fallen.
“Scheiße”, rief sie, während sie mit beiden Armen an der Fensterbank hing und strampelte. Schlammbrocken fielen auf Nick herab, der sich die schmerzenden Finger rieb.
“Halt still!”, rief er. Er versuchte ihre Beine zu fassen zu bekommen, kassierte aber nur Tritte gegen die Hände.
“Nick, verdammt, ich hänge in der Luft!”
“Halt still! Du reißt noch das ganze Haus mit runter.”
Cassandra zwang sich stillzuhalten. Sie hatte nicht Angst davor herunterzufallen - sie hing keine zwei Meter über dem Boden - , sondern davor, die alte faserige Fensterbank loszulassen. Wenn sie das tat, würden ihre Fingerkuppen nur noch aus Splittern bestehen.
“Okay, ich hab dich”, sagte Nick. Er hatte sich unter sie gestellt und schob die Schultern unter ihre Füße. Sein Rücken ächzte und er sank in das weiche Erdreich, als er Cassandra anhob.
“Jetzt zieh dich rauf!”
Mit einer schon unrealistischen Kraftanstrengung zog sich Cassandra am Fensterrahmen hoch. Wie ein Korken drückte sie sich in die Höhe und schwang ein Bein über die Fensterbank. Dann ließ sie sich darüber rollen und hatte das verwirrende Gefühl nach oben zu fallen, als sie den schrägen Teil der Wand unter dem Fenster hinabrollte. Sie landete in der Kante zwischen dem hölzernen Parkettboden und der goldbraunen Tapete. Sie stöhnte vor Anstrengung.
“Alles klar da oben?”, rief Nick.
“Ich bin heil”, rief sie zurück und versuchte aufzustehen. Das war nicht einfach. Der Boden war nicht allzu schief, man konnte darauf laufen, aber trotzdem reichte die Neigung aus, Cassandras Gleichgewichtssinn zu stören. Ihr Gehirn schickte ihr ein konstantes Warnsignal: Vorsicht, das Haus kippt!!!
Sie lief ein paar zögerliche Schritte in den Raum hinein, um die Tragkraft des Holzfußbodens zu testen. Erst als sie sicher war, dass sie nicht durch den Boden ins untere Stockwerk brechen würde, wagte sie, sich genauer umzusehen.
Das Zimmer, in dem sie stand, war lichtdurchflutet und leer. Der Parkettboden hatte sich durch die jahrelange Belastung verzogen, und stellenweise klafften zentimeterbreite Spalten zwischen den Holzdielen. Es war sehr staubig, und auf den Dielen zeichneten große, helle Flecken die Standorte der nicht mehr vorhandenen Möbel nach. Rechts an der Wand schien mal ein großes Bett gestanden zu haben. Die braune Tapete zeigte ein sehr viel helleres Rechteck, wo das Kopfteil des Bettes gewesen war. Gegenüber von Cassandra, an der Wand neben der Tür hatte ein großer Schrank gestanden, und an allen Wänden ringsum hatten Bilder gehangen.
“He, ich werfe dir die Rucksäcke rauf!”, tönte es von draußen.
Sie wankte zurück ans Fenster und bekam ihren Rucksack fast ins Gesicht geworfen. “Pass auf, verdammt!”
Nick stand unten und schaute rauf. “Hast du ihn? Achtung, jetzt kommt meiner.”
Sie fing auch den zweiten Rucksack auf, sein Inhalt war schwer und kantig, und legte ihn beiseite. Jetzt war die Frage, wie sie Nick raufholen sollte.
“Ich springe”, sagte er. “Versuch nicht, mich raufzuziehen, ich würde nur den Halt verlieren. Tritt einfach zurück, ich schaff das.”
“Stimmt, du bist hier das Sport-Ass”, sagte Cassandra und trat zurück. Sie hörte ein Schnaufen und Nicks schlammige Finger krallten sich in die Fensterbank. Dann zog er sich weitaus eleganter als sie durch das offene Fenster. Er setzte einen Fuß auf die Fensterbank und sprang ins Zimmer. Als er sicher stand, sagte er: “Ich halte jede Wette, dass Ron einen anderen Eingang kennt.”
“Ja”, musste Cassandra zugeben, “wahrscheinlich geht er doch vorne rein.”
Nick klopfte sich den Dreck von der Kleidung. Auf den Schultern seiner Jacke prangten zwei grobe Schuhabdrücke. “Hauptsache wir sind drin. Lass uns den Stoff suchen.” Er trat probeweise auf das lockere Parkett. “Wenn dieses Haus umkippt, während wir drin sind, wird die Polizei nach drei Vermissten suchen müssen.”
Sie gingen zur Tür. Sie war geschlossen, schwang aber sofort auf, als Cassandra die Klinke runterdrückte. Ein Schwall trockener Furzluft wehte ihnen entgegen, und unter diesem Geruch lag noch ein leiser Hauch von Keller und Schimmel.
“Ein Wunder, dass sich hier nicht mehr Schimmel festgesetzt hat”, meinte Nick.
Cassandra sah sich im Flur um. Nach so vielen Monaten der Ungeduld war sie hier im Inneren des Westcott Manor. Ein Kribbeln fuhr ihr durchs Rückgrat, als sie sich vorstellte, was sie wohl am Ende dieses düsteren Flurs entdecken mochte.
“Weißt du, wo er es hat?”, fragte Nick. Seine Vorfreude galt natürlich viel Profanerem. Cassandra würde erst sehr viel später darauf kommen, dass Nicks und Rons Drogenkonsum zu ihrer ganz eigenen kleinbürgerlichen Transzendenz führte.
Traum, Rausch und Wahn.
Liebe zur Kunst, Demut und Transzendenz.
Etwas fehlt noch, aber was?
Es müssen dreimal drei sein, oder?
Ja.
Aber was ergeben diese dreimal drei?
Ist das denn nicht längst offensichtlich?
“Hey, hörst du mir zu?”
Cassandra schüttelte den Kopf.
“Ich sagte, ich kenne den Grundriss des Hauses.”
“Den kennt doch jeder”, sagte Cassandra. Jeder Einwohner Brickrows kannte die Touristenprospekte mit ihren Bildern und Anekdoten der Stadt. Darin waren auch Fotos vom Inneren des Westcott Manor.
“Dann lass uns den Stoff suchen und verschwinden, bevor dieses Ding umkippt.”
Sie suchten nach Orientierungspunkten im Haus, und beschlossen, am besten alle Zimmer im ersten Stock zu durchsuchen und dann mit dem Dachboden weiterzumachen, bevor sie sich nach unten begaben. Cassandra war sich nicht sicher, ob sie Vorfreude oder Angst empfand, wenn sie daran dachte, dass sie bei ihrer Suche möglicherweise bis nach unten in das versunkene Erdgeschoß und den Keller vordringen mussten. Sie warf einen Blick links über das Geländer, wo die vermoderte Treppe nach unten führte, aber sie sah nur die gefächerten Holzstufen, die ins Dämmerlicht führten. Sie fragte sich, ob die Fenster wohl dem Druck der Erde standgehalten haben. Falls nicht, würden sie wahrscheinlich durch feuchten Moorboden waten müssen.
Nick war zur nächsten Tür gelaufen, insgesamt gab es davon vier, zwei links, zwei rechts. Er drückte die Klinke der rechten Tür hinunter und lugte in den Raum. Ein Blick, und Enttäuschung erschien auf seinem Gesicht. Cassandra trat neben ihn und sah einen leeren Raum, ähnlich dem, durch den sie das Haus betreten hatten. Außer hellen Möbelflecken war hier nichts. Ihr fiel auf, dass hier kleinere Möbel gestanden hatten, Möbel in Kindergröße.
Nick murrte. “Wenn Ron das Zeug unter einer Bodendiele versteckt hat oder hinter einer Wand, dann suchen wir hier bis in die Nacht hinein. Weißt du wirklich nicht, wo er es hat?”
“Nein, glaub mir einfach.” Sie betraten das leere Zimmer, und Nick klopfte lückenlos, aber nicht besonders geduldig, den Boden und die Wände ab, das dauerte zehn Minuten, aber sie fanden keine Hohlräume; das heißt, sie fanden eine Menge Hohlräume, aber keine, die mit Drogen gefüllt waren. Einmal flitzte eine kleine graue Maus vor ihnen davon, und Nick lachte. “Also die hat keinen Stoff gefunden, sonst wäre sie um einiges langsamer.”
Sie gingen zum nächsten Zimmer links, wo sie die Prozedur wiederholten. Auch im ehemaligen Arbeitszimmer von Gregory Westcott fanden sie nichts. Es war genauso leer wie die anderen beiden Zimmer.
Es blieb nur noch eine Tür gegenüber dem Arbeitszimmer und dann die schmale, gewundene Treppe hinauf zum Dachboden.
Cassandra trat an die Tür und bemerkte den Geruch, bevor sie die Klinke herunterdrückte. Im Raum dahinter roch es verdächtig nach Kloake. Es war dieser grünspanartige Geruch, der an Kalk und Urin denken ließ, ohne sofort Brechreiz auszulösen, sondern es einem nach längerem Aufenthalt übel werden ließ.
Cassandra schaute über die Schulter und sagte: “Mach dich bereit. Ich glaube dahinter ist die Toilette.”
Nick nickte einmal kurz und fügte im Geiste hinzu: Oder Rons Leiche.
Es war die Toilette.
Cassandra stieß die Tür auf, und ein dermaßen ekelhafter Geruch überflutete sie, als hätte ihr einer von Innsmouths Bewohnern direkt ins Gesicht gerülpst. Sie schlug die Armbeuge vor das Gesicht und wandte sich ab, bevor sie den Raum richtig sehen konnte.
Nick stöhnte vor Ekel. Hastig zog er sich den Kragen seines Blazers über Mund und Nase und wandte sich ebenfalls ab. “Gott im Himmel, wieso haben wir das nicht schon von draußen gerochen?”
Cassandra hatte nicht genug Atem um zu sprechen. Sie warf einen schnellen Blick in das Bad und schlug die Tür zu, nachdem sie mehrmals hastig an der Türklinke vorbeigriff. Es war unmöglich, das Bad zu betreten, darum musste der kurze Blick ihr reichen, um den Anblick im Gedächtnis zu rekonstruieren.
Der Raum war mittelgroß und gekachelt. Welche Farbe die Kacheln einmal gehabt haben könnten, war nur noch zu erahnen. Vielleicht mochten sie weiß gewesen sein, aber jetzt waren sie nur noch grün und gelb. Wer auch immer da drin gewütet haben mochte, er musste wohl mehrere Arschlöcher und ein dutzend Penisse gehabt haben, um in der Lage zu sein, den Raum vom Boden über alle vier Wände bis an die Decke so gründlich vollzuscheissen und vollzupissen, so dass er aussah wie eine moosbewachsene Höhle. Die Kackreste waren nicht braun, sondern grün wie der Mageninhalt einer Kuh. Der Raum sah aus wie mit Lianen behangen. Cassandra konnte nicht an sich halten und lachte laut los, als sie sich vorstellte, dass so Popeyes Kacke nach drei Dosen Spinat aussehen musste. Rechts hatte eine Badewanne gestanden, sie mochte aus Zinn oder Kupfer bestanden haben, aber inzwischen hatte sie höchstens noch Ähnlichkeit mit einem mutierten Pilzschwamm. Ein beinahe schon märchenhaftes Licht hatte sie durch das grüne Fenster hindurch beschienen.
Die Toilettenschüssel war unbeschreiblich gewesen.
Auch Nick musste lachen. Er sagte: “Ich glaube diesen Raum brauchen wir nicht zu durchsuchen.” Er zog sich den Blazer von der Nase... und stutzte. Sein Lachen erstarb.
Cassandra sah ihn an, die Armbeuge noch vor dem Gesicht. “Was ist?”, tönte sie in den Ellenbogen hinein.
Nick war sich nicht sicher, ob er jetzt spann. Er atmete probeweise ein und glaubte, sein Geruchsinn müsse gestört sein. “Riech mal”, sagte er.
“Nein, danke. Nimm du ruhig noch einen Zug, aber mein Tagesplan sieht vor, heute nicht zu kotzen.”
Nick atmete tief ein. “Es stinkt nicht mehr.”
Vorsichtig senkte Cassandra ihren Arm und testete die Luft. Tatsächlich, der Kloakengeruch war verschwunden. Wie zuvor roch es nach alten Fürzen und bitteren Sägespänen.
In Nicks Augen glitzerte Verwirrung und das leise Wissen um unheimliche Vorgänge. “Wie kann das sein?”, fragte er.
“Ich weiß nicht”, sagte Cassandra, und wusste doch, dass sie log. Das Haus hatte sich einen Scherz erlaubt, das war alles. Schließlich hatten sie doch beide gelacht. Sie und Nick. Und auch das Haus.
“Ich sehe nochmal rein.”
“Nein”, sagte Nick. “Lass uns lieber weitersuchen. Je schneller wir verschwinden, desto besser.”
Am Ende des schiefen Hausflurs stand die schmale Treppensäule zum Dachboden. Wie in einem merkwürdig stillen Alptraum liefen sie durch den rautenförmigen Flur und die daraus resultierende verzerrte Perspektive; zwei dunkelblaue Gestalten mit Rucksäcken, die nach oben schauten. Die kleine Falltür am oberen Ende der Decke verhieß neue Ebenen des Traumes.
Cassandra begann sich zu fragen, ob sie nicht einen Fehler begangen hatte, als sie Nick hierhergeführt hatte. Das Haus hatte sich einen Scherz mit ihnen erlaubt, und auch wenn das nicht unbedingt das Zeichen für das absolut Böse war, so konnte es für sie beide trotzdem noch gefährlich werden. Nora hatte recht gehabt, als sie meinte, dass das Haus auf keinen Fall wohlgesonnen war. Und wuchs das Böse nicht oft aus anfänglichen Scherzen heraus? Wie oft führten Scherze zu Streit? Streit zu Schlägereien und dann zu Totschlag? Und wie oft waren Scherze böse gemeint. So wie eben?
“Ich gehe zuerst”, sagte Nick. Er setzte einen Fuß auf eine quietschende, verzogene Stufe, aber Cassandra hielt ihn zurück.
“Nein. Ich gehe”, bestimmte sie. Wenn sie Nick schon solch bizarren Gefahren aussetzen musste, dann konnte sie ihm wenigsten den Gefallen tun, und zuerst gehen.
Nick trat beleidigt zurück. Dieses Mädchen musste auch immer die erste Geige spielen.
Cassandra stieg die Treppe empor. Sie hoffte, dass sie nicht ausrutschte und die spiralförmigen Stufen herunterstürzte, falls sich das Haus sich entschließen sollte, sie zu erschrecken. Sie legte eine Hand an die Falltür und drückte. Sie rechnete schon halb damit, dass etwas Schweres auf der Falltür liegen würde, aber sie ging mühelos auf. Nicht Dunkelheit lugte durch den Spalt, sondern staubig goldenes Licht. Sie warf die Falltür um. Der Knall wirbelte Staub auf.
Sie stieg eine weitere Stufe hinauf, bis der Dachboden auf ihrer Augenhöhe war und schaute vorsichtig in die Runde. Sie schaute auch hinter sich, auch wenn sie dafür auf den schiefen Holzstufen tänzeln musste. Sie glaubte, dass kein Mensch auf der Welt durch eine solche Falltür steigen konnte, ohne sich sofort vorzustellen, wie jemand auf der anderen Seite des Loches stand und eine Axt über den Kopf schwang. Aber da war niemand. Nur schattige Ecken und Winkel. Gegenüber sah sie die hohen Fenster und dahinter grauen Winterhimmel. Bald würde wieder Schneeregen fallen. Sie stieg noch drei Stufen hoch und sah, dass auch der Dachboden vollkommen leer war.
“Was siehst du?”, fragte Nick.
“Absolut nichts.”
“Nun steig schon rauf, lass mich sehen.”
Sie überwand die letzten Stufen und trat zur Seite, damit Nick ihr folgen konnte. Ihm fiel sofort auf, wie sauber es hier war.
“Das ist der erste Dachboden, den ich sehe, der nicht voller Taubenscheiße ist.”
“Wie frisch gefegt”, stimmte Cassandra zu.
Sie sahen sich gründlich um und sahen auch hinauf zu den Dachbalken, weil Nick der Gedanke kam, dass Ron die Haschischpäckchen auf einem der Balken abgelegt haben könnte, aber er sah schnell, dass diese Balken ohne eine sehr hohe Leiter nicht zu erreichen waren.
“Fehlanzeige. So eine Scheiße.”
Während Nick sich daranmachte, den Dachboden nach losen Brettern zu durchsuchen, lief Cassandra die Schräge hinauf zu den hohen Fenstern. Sie sah hinaus.
Unter dem stählernen Himmel sah sie ein gutes Stück des Zufahrtsweges und der grauen Landstraße, und dahinter das offene, herbe Grasland. Von links kam ein großer Lastwagen mit knallrotem Anhänger vorbeigejault und verschwand Richtung Princetown. An der Seite trug er die Aufschrift Lenko´s Grocery Prod. and Forw. Agency.
Wie schön es wäre, jetzt da draußen zu sein, dachte sie. Dieses Haus ist ein Gefängnis. Eine riesige Rattenfalle. Eine Menschenfalle. Es war ein Fehler gewesen hierherzukommen, ich spüre es.
Auf der anderen Straßenseite fuhr ein blauer PKW vorbei. Sie stellte sich vor, wie er nach Brickrow fuhr, oder er fuhr auf der Landstraße weiter, vorbei an Orten wie Walkhampton, Dousland und Yelverton. Diesen Weg nahmen ihre Eltern, bogen auf der A386 nach Süden ab, passierten Roborough, dann Estover Mainstone, bis sie schließlich Plymouth erreichten. Aber diese Zeiten würden vorübergehen. Sie würden das Haus in Hillside verlassen, sobald Cassandra volljährig wurde. Sie würden nach Plymouth ziehen, und erwarten, das Cassandra sie besuchen kam.
Sie werden mir den Führerschein bezahlen und erwarten, dass ich jeden Morgen von Hillside zur Uni nach Plymouth fahre und abends wieder zurück. Sie werden mir einen Gebrauchtwagen kaufen, nicht damit ich sie mehr liebe, sondern damit ich mich leichter von ihnen löse.
Die ersten dicken Regentropfen fielen auf die Fensterscheiben, und Cassandra fragte sich ganz am Rande, wieso noch niemand diese Scheiben eingeworfen hatte.
Oh Nora, Toby, steht mir bei. Ich will nicht alleine sein.
Ich will nicht korrosiv sein.
Ich will nicht...
(Lara so schrecklich vermissen)
Ich will...
(tot sein)
...
Von der anderen Seite der Scheibe betrachtet wurden Regentropfen zu Tränen, die es niemals bis zu Cassandras Wangen schafften. Sie weinte nicht. Sie litt stumm. Tränen waren für Menschen, die Mitleid wollten, und das war etwas, dass Cassandra hasste, weil es sie so sehr abwertete. Sie brauchte kein Mitleid. Sie brauchte nichts und niemanden. Und vor allem brauchte sie niemanden, der sie nicht brauchte.
Wütend über sich und die Welt wandte Cassandra sich um, um zu sehen, was Nick so lange trieb. Es wunderte sie, dass er kein Wort sagte.
Er sagte kein Wort, weil er nicht da war.
Cassandras Wut verpuffte.
“Nick?”, fragte sie. “Wo steckst du?”
Wie konnte er verschwinden, ohne dass sie das Quietschen der morschen Treppe gehört hatte? War sie dermaßen tief in Gedanken gewesen?
Der Dachboden war schattendurchzogen, aber das Licht reichte aus, ihr zu zeigen, dass sie allein war. In den dunklen Nischen versteckte sich nichts Größeres als eine Maus. Trotzdem rief sie noch einmal nach Nick.
Er musste nach unten gegangen sein, hier war er definitiv nicht. Aber wieso hat er nichts gesagt? War er von diesem verdammten Gras so besessen, dass er sie einfach hier oben allein ließ? Möglich. Sie traute es ihm zu.
Aber sie glaubte es nicht.
Das Haus hatte ihn geholt. Das Haus hatte ihn. Cassandra wusste es.
Lieber Gott, lass ihm nichts zugestoßen sein, bitte! Lass ihn nicht das Opfer meiner Neugier sein!
Dieses verfluchte Haus!
Sie lief den schrägen Boden hinab zur Falltür und sah hinunter.
Es war unheimlich. Durch das Loch im Boden sah sie die schmale Treppe und einen kleinen Teil des Flurs; viel zu wenig, um jemanden ausmachen zu können. Eine ganze Horde Zombies könnte im Flur stehen, ohne dass sie es bemerkte. Sie zögerte kurz, lief dann aber die Treppe so schnell hinunter, dass die zwei Windungen bis zum Boden sie schwindelig machten.
Unten angekommen versteinerte sie förmlich.
Die Wände bewegten sich.
Der Flur hatte sich verändert. Nicht in der Form, sondern in der Farbe. Die Tapete bewegte sich, oder vielmehr das Muster auf der Tapete.
Cassandra wusste, dass Nick hier irgendwo war, und dass jede vertane Sekunde ihn in Gefahr brachte, und nicht sie, trotzdem opferte sie wertvolle Zeit, als sie an die Wand herantrat und das Muster der Tapete betrachtete. Vorhin war sie braun gewesen, und das war sie auch jetzt noch, aber die filigranen goldenen Ziselierungen, die das orientalische Muster bildeten, waren nicht mehr golden, sondern schillerten in den Farben des Regenbogens. Die dünnen, gekröselten Linien wechselten millimeterweise die Farbe, und dieser Umstand ließ sie wirken, als würden sie über die Tapete kriechen.
Fast wie Kupferdrähte. Wie Schaltkreise.
Cassandra traute sich nicht, die Tapete zu berühren, obwohl sie vor Neugier beinahe platzte. Sie befürchtete, dass diese “Drähte” herausschießen könnten. Sie würden herausschießen und sie einwickeln. Sie hatte so etwas schon einmal gesehen, in einem Film, glaubte sie, aber sie wusste nicht mehr in welchem. Ein ekelhaftes und dennoch erregendes Gefühl, das einen deutlich sexuellen Beigeschmack hatte, stieg in ihr hoch, als sie sich vorstellte, wie diese schimmernden Drähte sie so üppig umflochten, dass ihr Körper darin verschwand. Wie sie sie in die Wand hineinzogen...
Sie presste die flache Hand gegen ihren Magen und trat von der Wand weg. Eine Angst, die sie vollkommen vergessen glaubte, kroch in ihren Eingeweiden empor. Die Angst vor VERGEWALTIGUNG. Die Angst, die man ihr als Kind eingepflanzt hatte, und die schlimmer war als die Angst vor jeder anderen körperlichen Gewalt.
Das Schaltkreismuster veränderte sich vor ihren Augen. Große Teile der feinen Linien fielen aus und nahmen ihre ursprüngliche goldene Farbe an. Was blieb, war eine handbreite Fläche schimmernder Drähte, die sich wie ein Orientierungsstreifen an der Wand entlang zog. Cassandras Augen folgten dem Streifen. Er führte rechts von ihr über das Holz der Badezimmertür zur Treppe ins Erdgeschoß. Er zeigte ihr den Weg zu Nick.
Es geht los. Die Spielchen sind vorbei.
Angst war jetzt das einzige, was Cassandras Denken beherrschte. Die Abenteuerlust und die krampfhafte Suche nach Mysterien fielen von ihr ab wie eine alte Haut. Was blieb war rohe, nackte Angst um einen Menschen, den sie persönlich in Lebensgefahr gebracht hatte.
Ich hätte ihn nicht hierher führen sollen. Was habe ich mir gedacht? Wieso denke ich immer nur an mich?
Ihre Füße trugen sie zum Rand der breiten Treppe. Sie schaute über das Geländer, konnte aber nichts sehen. Unten war es dunkel.
Was wenn ich von hier verschwinde? Ich könnte durch das Fenster steigen und die Polizei holen...
Der Gedanke, so feige er auch war, schien doch richtig. Bläuten einem die Leute das nicht ständig ein? Sei kein Held, hol die Polizei. Wenn es Ärger gibt, hol Hilfe.
Nur sprachen gleich mehrere Gewissheiten gegen dieses Vorhaben. Cassandra wusste, dass das Haus sie nicht gehenlassen würde. Es spielte mit ihr. Das war sonnenklar, denn das Haus hätte sie beide schnappen können, statt dieses Versteckspiel mit Nick aufzuführen. Wenn sie jetzt versuchte zu fliehen, würde das Haus Nick wahrscheinlich töten und ihn dann genau wie Ron einfach verschwinden lassen.
...oh mein Gott...
Vermutlich würde sie das Fenster, durch das sie gestiegen waren, geschlossen vorfinden, und zwar so fest, dass kein Brecheisen es öffnen konnte. Und selbst wenn sie es hinausschaffte, was sollte sie der Polizei erzählen? Dass Nick die Treppe runtergefallen war? Dass er sich verlaufen hatte? Was würde die Polizei finden?
Auf einer unterbewussten Ebene, verstand sie den bösen Humor des Hauses. Sie konnte sich gut vorstellen, wie das Haus Nicks Körper auf eine besonders interessante Weise ausstellte, damit es auf keinen Fall so aussah, als hätte er einen Unfall gehabt. Egal was sie der Polizei erzählte, das Haus würde dafür sorgen, dass der Tathergang ihrer Geschichte widersprach. Wäre das nicht ein köstlicher Witz? Wenn der Mann aus Exeter ihr plötzlich komische Fragen stellen würde? Nicht nur über Nick, nein, auch über Ron. Wie gut kanntet ihr beide euch eigentlich...?
Cassandra stieg die Treppe hinab. Die Stufen waren verzogen, aber sie quietschten nicht. Unten sah sie, was sie schon erwartet hatte. Die Fenster des Erdgeschosses waren nicht geborsten. Die nasse Erde blockierte die Sicht nach draußen bis auf einige Zentimeter am oberen Rand, wo schmale Lichtstreifen vom schrägen Himmel hereinfielen. Ein Streifen Gras trennte Himmel und Erde.
Das Haus war so freundlich und schaltete das Licht ein, damit Cassandra besser sehen konnte. Kein elektrisches Licht. Vielmehr ließ das Haus die Luft glühen. Als sie das große Wohnzimmer betrat, hatte sie das Gefühl, durch ein Glas sehr hellen Honigs zu laufen. Kleine Schwebeteilchen standen im Licht wie Verunreinigungen im Honig.
Das schimmernde Lichtband führte rechts von ihr zum hinteren Teil des Hauses, aber Cassandra lief nicht dorthin. Wie ein guter Soldat sondierte sie zuerst die Lage.
Der größte Teil des Erdgeschosses bestand aus dem großen Wohnzimmer und dem Foyer. Hinten rechts war ein Durchgang zu einem weiteren Raum, wo Cassandra die Küche vermutete. Ebenfalls rechts, direkt neben der Treppe, an der sie stand, war ein unbeleuchteter Durchgang, durch den das Lichtband führte. Sie hatte erwartet, dass das Erdgeschoß genauso leer war wie das obere Stockwerk, aber sie hatte sich geirrt. Hier standen tatsächlich noch Möbel.
Stehen die hier wirklich noch von damals, oder hat das Haus sie für Ron hier hingestellt?
Es war eine typische Wohnzimmergarnitur mit Stoffcouch, Sofa, Sessel und niedrigem Tisch, alles in beiger Farbe. Die Möbel schienen vom Stil her recht modern, auf keinen Fall waren es Überbleibsel vom letzten Jahrhundert. Allerdings waren sie vollkommen zerfetzt. Schaumstoffballen und Metallfedern ragten aus der Polsterung. Auf dem Boden lagen alte Verpackungen von Schokoriegeln, Fertig-Menüs und Bonbons, und dazwischen zerquetschte Dosen. Cola und Bier. Auf dem zerschlissenen Sessel lagen drei wellige Pornohefte. So weit, so normal.
Doch der Anblick der Pyramide auf dem Wohnzimmertisch entbot jeglicher physikalischer Logik.
Das Haus wusste, weshalb Nick hierhergekommen war, und hatte ihm zur Freude etwa zweihundert Kilogramm Marihuana auf den Tisch gezaubert, abgepackt in durchsichtige, elektrostatische Küchenfolie. Der Schwerkraft trotzend stapelten sich die grünbraunen Päckchen bis hoch zur abblätternden Decke. Das Arrangement wirkte so wackelig, dass Cassandra es nicht wagte, zu dicht an diese Pyramide heranzugehen, aus Angst, sie würde plötzlich in sich zusammenstürzen und sie unter sich begraben.
Darauf vorbereitet, dass das Haus jeden Moment etwas wirklich Gefährliches hervorzaubern konnte, etwas mit Zähnen und Klauen, wühlte Cassandra in ihrer Jackentasche, auf der Suche nach ihrem Klappmesser. Eine solche Waffe in der Hand zu halten, würde ihren Mut um einiges steigern. Sie würde selbstsicherer auf die Suche nach Nick gehen können, immer bereit auf alles einzustechen, das ihr feindlich gesinnt sein mochte. Doch statt des Messers, fanden ihre Finger nur ein Loch im Innenfutter der Jacke. Sie schob die Hand in das Loch und riss es noch weiter auf, ohne an das Messer zu kommen, das hinter ihren Rücken gerutscht war. Sie hätte vor Frust schreien können. Wie konnte das in diesem denkbar ungünstigen Moment geschehen?
Sie musste in die Küche, und sich bewaffnen.
Mit einiger Mühe zog sie die Hand aus der Tasche und ging an der Marihuana- Pyramide vorbei zum Küchendurchgang. Dabei ließ sie die gestapelten Päckchen nicht aus den Augen. In der Küche fand sie einen großen, gusseisernen Herd und mehrere alte Küchenschränke, in deren Mitte ein Küchentisch stand. Eine unnatürliche Sterilität herrschte hier, ähnlich der Sauberkeit von Vorführküchen in Möbelhäusern. Cassandra zog alle Schubladen auf und fand die gleiche sterile Leere in deren Innerem. Keine Schublade enthielt auch nur ein Besteckteil. Keine Gabeln, keine Löffel und keine Messer. Rein gar nichts.
Die Hilflosigkeit machte sie schwindelig. Sie griff sich mit beiden Händen an den Kopf und drehte sich im Kreis, auf der Suche nach einer Waffe, wenn es auch nur ein Topf war. In ihrem Haar sammelte sich die Hitze der Aufregung.
Denk nach, brich ein Tischbein ab, schlag ein Fenster ein, such nach dem Schürhaken, tu was!
Und da stoppte sie plötzlich. Sie stand vor dem Küchentisch und starrte auf den Gegenstand, der eben noch nicht dagewesen war. Mitten in die Tischplatte war ein langes Wetzeisen getrieben worden. Es ragte auf wie ein Angebot. Nimm es, wenn du möchtest.
Das Haus verhöhnte sie und bot ihr dieses stumpfe Ding an. Es war ein handelsübliches Wetzeisen, dass man in jedem Küchenbedarf fand. Es hatte einen billigen Plastikgriff. Sie zog es heraus, und im Tisch blieb ein kleines, rundes Loch zurück.
Wie du willst, dachte sie. Lach du ruhig. Wirst schon sehen.
Auf diese erbärmliche Weise bewaffnet lief sie ins Wohnzimmer und folgte dem Regenbogenband in den hinteren Teil des Hauses. Sie lief durch einen kurzen Flur und stand unvermittelt einer weißen Tür gegenüber.
Der Grundriss des Hauses stimmte nicht mehr.
Was war dieses Haus? Ein Lebewesen? Ein Computer? Zumindest hatte es Humor, also musste es ein Spaßhaus sein; eines, das auf einem Rummelplatz stand. Ein Spaß für die ganze Familie! Eintritt auf eigene Gefahr! Wir wollen kein Geld, aber bezahlen müsst ihr trotzdem!
Cassandra öffnete die Tür. Der Schrecken war ihr ausgegangen und der Humor auch, also empfing das Haus sie mit einem weißgekachelten Raum, so steril wie ein Operationssaal.
Aber hier ist nichts!!!
Der Raum war leer. So groß wie ein Operationssaal und vollkommen leer. Die blütenweißen Kacheln, die aus einem modernen Baumarkt zu stammen schienen, bedeckten den Boden, die Wände und sogar die Decke. Cassandra trat einen Schritt hinein, hielt aber die Schulter gegen die Tür gedrückt, falls das Haus vorhatte, sie hinter ihr zu schließen.
Auf den zweiten Blick, erinnerte der Raum weniger an einen Operationssaal, als an eine Gummizelle ohne Gummi. Eine Kachelzelle. Für die besonders bösen Psychopathen.
“Wenn du die Tür zufallen lässt, schlag ich dir die Kacheln ein!”, warnte sie und trat einen weiteren Schritt in den Raum. Ihr war etwas aufgefallen und sie wollte es sich näher ansehen. Sie wartete kurz, aber die Tür blieb offen.
“Denk dran!”, sagte Cassandra und schwenkte das Wetzeisen.
Du benimmst dich verrückt.
An der gegenüberliegenden Wand stimmte etwas nicht. Sie musste näher heran, um es richtig zu sehen.
Nicht alle Kacheln waren so makellos sauber wie sie gedacht hatte. An der Wand gegenüber waren einige Kacheln ein wenig dunkler als der Rest. Sie schienen schmutzig zu sein. Nicht viel, nur so, als hätte die Putzfrau den falschen Reiniger benutzt, so dass die Kacheln nachgedunkelt waren. Wenn man es genauer betrachtete, erkannte man das Muster. Es war das eines Menschenleibes.
Die angegrauten Kacheln bildeten das Mosaik eines mittelgroßen Mannes mit ausgestreckten Armen. Cassandra trat näher heran. Konnte es sein, dass …
Konnte es sein, dass dort jemand durchgepresst worden war? Ein grausiger Schauer schüttelte sie am ganzen Leib, und nur den Bruchteil einer Sekunde bevor es passierte, erkannte Cassandra den Mechanismus. Sie sprang zurück, und auf der gesamten Breite und Höhe der Wand schnappten die Kacheln auf wie messerscharfe Briefkästen. Trockenes Blut verkrustete die metallischen Rohre, die jetzt offen standen. Die ganze Wand war ein riesiges Reibeisen. In Cassandras Kopf erschienen Bilder von langen Käsestreifen, die aus Löchern gepresst wurden, nur waren diese Streifen rosa. Sie waren weich.
Cassandras Kopf wurde leicht. Der Raum begann sich zu drehen.
Wenn der Boden aufklappt...
Cassandras Beine wurden schwach, und die Schwäche strahlte nach oben ab. In ihrer Brust wurde es kalt. Sie musste hier raus. Sie bekam keine Luft.
Hinter ihr sagte Nick: “Hier steckst du. Du wirst nicht glauben, was ich gefunden habe.”
Sie wirbelte herum. Nick stand da und musterte sie. Im Raum. Er stand im Raum.
“Die Tür!”, rief Cassandra. Ihre Beine wollten nicht. Sie hatte das Gefühl, als summten ihre Knochen.
Nick verstand nicht. Viel zu langsam drehte er sich um und streckte den Arm aus, um sie offen zu halten, doch die Tür schlug so fest zu, dass Cassandra den Wind spürte.
Als Nick begriff, stürzte er zu dem Teil der Wand, an dem die Tür gewesen war, aber dort war nichts mehr. Nur weiße Kacheln.
Cassandra schaffte es, die Schultern seiner Jacke zu greifen und Nick brutal nach hinten zu ziehen, genau in dem Moment als die Wand aufschnappte und blutige Rohre offenbarte.
Nick stieß einen knappen Schrei aus, dann fielen beide zu Boden. In einer elektrischen Sekunde war sich Cassandra sicher, dass der Boden aufschnappen und sie einfach hindurchfallen würde, aber die Kacheln blieben geschlossen. Cassandras Daunenjacke dämpfte ihren Sturz.
“Was ist das?” Nicks Stimme fiel in das hohe Winseln der beginnenden Panik. Er hatte in die eckigen Rohre gesehen. Hatte braune, verkrustete Ablagerungen gesehen.
“Wir müssen raus”, brüllte ihn Cassandra an, während sie ihn hochzog. Dann schrie sie das Haus an: “Lass uns raus!” Sie suchte das Haus. Suchte nach Augen in diesem weißen Raum.
“Du verdammtes Stück Scheiße!”, heulte Cassandra. Das war kein Spaß mehr. Sie hatte noch nie zuvor solche Angst gespürt. Reine unverfälschte Angst. Kein Nervenkitzel, keine Abenteuerlust, kein Kribbeln, nur nackte Todesangst so sauber und steril wie dieser Raum.
“Bitte!”, heulte sie. “Bitte, lass mich raus!”
Nichts. Der Raum schwieg. Und in Cassandra stieg verzweifelte Wut auf. “Ich bring dich um, du Scheißhaufen!” Drei Schritte brachten sie bis an die Wand, wo sie das Wetzeisen hob, um diese verfluchten Kacheln einzuschlagen. Ihre Hand schoss herab, und sofort schnappten die Kacheln auf wie kleine Schließfächer. Ihr Arm wäre in quadratische Stücke geschnitten worden, wenn Nick sie nicht zurückgezogen hätte.
Die Wand schloss sich mit einem schabenden Geräusch.
Dann öffneten sich alle Kacheln.
Die Unendlichkeit bestand aus quadratischen Rohren.
Die aufschwingenden Platten ließen Nick und Cassandra stolpern.
Dann begann das Fest der Schmerzen.
Beide rutschten mit den Füßen in die Löcher. Ihre Schuhe waren zu lang, darum schnitten die scharfen Kanten Nick die Zehen ab. Blut pulsierte aus der Wunde und regnete in die dunklen Tiefen der Rohre.
Cassandras Füße waren kleiner. Sie rutschte mit den Fußspitzen in die Löcher und schnitt sich dabei die Ferse der Schuhe ab. Heißer Schmerz verbrannte ihr die Fersen, und sie wusste, dass zwei blutige Stücke in die Tiefe fielen.
Beide schrien, als sie zu Boden fielen. Cassandra hob instinktiv die Arme, aber die Daunenjacke bewahrte sie nicht davor, mit ansehen zu müssen, wie zuerst ihre Hände und dann zwei Teile ihrer Unterarme hinabfielen. Dann der Ellenbogen. Nick war inzwischen ein brüllendes Stück Mosaik. Ein blutiges Puzzle, dem Arme und Beine fehlten.
Cassandra konnte nicht glauben, dass sie wirklich starb. Es war so anders als alles, was sie kannte.
Ihr wurde schwarz und rot vor Augen. In ihren Knien fühlte sie einen barbarischen Druck, und sie wusste, dass sie keine Knie mehr hatte. Ihr letzter Gedanke, bevor sie mit dem Gesicht auf die Rohre schlug, war: Lara.
Dann ließ der Druck nach, und die Kacheln schlossen sich.
2
Toby wusste, dass etwas nicht stimmte, als er durch den breiten Ausgang auf den Hof der Schule trat und sah, dass weder Cassandra, noch Nick auf ihn warteten. Er hätte nicht sagen können, wieso ihn ihre Abwesenheit so beunruhigte, oder was genau nicht stimmte, aber dennoch raste die Vorahnung auf eine nahende Katastrophe durch seine Eingeweide.
Er hätte er sich keine Sorgen gemacht, wenn er nicht in einer Stadt gelebt hätte, in der es spukt. Und dieser Gedanke führte zum unvermeidbaren Schluss: Cassandra ist zum Westcott Manor gegangen.
Toby klappte sein Mobiltelefon auf und überlegte, wen er anrufen könnte. Es war ein reiner Reflex. Wenn ein Problem auftaucht, nimm das Telefon und schau, wen du anrufen kannst. Das war der Zeitgeist dieser Epoche, dem sich Toby nicht entzog.
Dummerweise war Cassandra die große Ausnahme im Pool gesellschaftlicher Regeln. Sie besaß kein Mobiltelefon. Und Toby verfluchte sie nicht zum ersten Mal dafür.
Er wählte Noras Namen. Die ersten Sekunden während des Rufaufbaus vergingen in Stille, dann klingelte es einmal und Nora nahm ab.
“Hey”, sagte sie.
“Ist Cassandra bei dir?”
“Nein.” Kurze Stille. “Spürst du es auch?”
“Es bringt mich fast um.”
“Es will, dass wir hineingehen.”
“Was tun wir?”, hauchte er.
“Ich steige in den nächsten Bus. Bitte warte auf mich. Geh nicht alleine hinein.”
“Ich rühre mich nicht weg. Bei Gott nicht.”
Gegen 17.30 Uhr stieg Toby zu Nora in den Bus. Sie fuhren nicht zum Westcott Manor, sondern in die entgegengesetzte Richtung nach Hillside. Während der Fahrt sprachen sie kein Wort.
In Hillside klingelten sie an Cassandras Tür, warteten vergeblich auf Antwort und holten dann den Ersatzschlüssel aus seinem Versteck im Türrahmen.
Um 17.48 Uhr setzten sie sich voll krankhafter Sorge ins Wohnzimmer. Toby vergrub den Kopf in den Händen, während Nora steif dasaß mit ineinander verkrampften Händen. Eine Minute später nahm sie ihr Mobiltelefon und rief Cody Barnes an. Toby widersprach nicht. Hätte Nora es nicht getan, dann hätte er eine Minute später angerufen. Sie mussten nicht absprechen, was sie Chief Constable Barnes sagen sollten, Nora sagte einfach das, was ihr am vernünftigsten schien. Sie sagte, das Cassandra zum Westcott Manor gegangen war, und dass sie seitdem nicht wiedergekommen sei. Sie glaubten nicht eine Sekunde lang, dass es anders sein könnte. Sie wussten, dass es so war. Sie wussten es, weil sie gegen den Drang kämpfen mussten, selbst dort hineinzugehen.
Barnes tiefe Stimme sagte, dass er sich das ansehen würde. Er schlug nicht vor zu warten, bis Cassandra von alleine wieder auftauchte. Er fragte nicht, ob Nora oder Toby im Manor gewesen waren. Er erwähnte auch nicht, dass es schon dunkel wurde. Er nahm zwei seiner Männer und fuhr zum lachenden Haus, das sie um 17.56 Uhr erreichten. Das Polizeiauto parkten sie direkt vor dem Haus, damit die Scheinwerfer es erleuchteten, bevor sie hinüberliefen und mit starken Lampen durch die Fenster leuchteten. Sie fanden nichts.
Barnes schickte einen seiner Männer nach rechts um das Haus herum, während er mit dem anderen Mann nach links lief. Sie trafen sich auf der überhängenden Rückseite, wo sie schließlich zu dem einzig möglichen Schluss kamen: Dieses Anwesen war seit Jahren nicht mehr betreten worden, nicht seit 1978, in dem Jahr, als die letzten Fotos für die Touristen geschossen worden waren. Alle Fenster und die aus dem Boden ragende Tür waren noch immer verplombt. Barnes war sicher, dass Cassandra (und auch Ron) hier nicht waren. Er nahm sein Funkgerät zur Hand und rief einen Wagen der städtischen Feuerwehr herbei. Nur fünf Minuten später lehnten zwei Feuerwehrleute eine Leiter an eines der Fenster. Einer von ihnen stieg hinauf und löste die Plombe.
Barnes, seine zwei Kollegen und drei Feuerwehrleute durchsuchten mit tanzenden Lampen das Westcott Manor. Weder Leichen offenbarten sich ihren staubigen Lichtstrahlen, noch Verletzte oder sonst jemand. Sie fanden auch keine Essensabfälle, Drogen oder Spuren von Blut. Auch keine auffälligen Räume oder merkwürdige Tapeten. Was sie allerdings fanden war eine Menge Schimmel und Erde, die durch die zerbrochenen Fenster im Erdgeschoß gerieselt war. Ganze Insektenkolonien lebten in der feuchtnassen Schwärze. Eigenartige Sporen schwebten überall in den dunklen Räumen, und Barnes erinnerte das alles an nichts so sehr wie an ein totes Aquarium. An jeder Ecke des Hauses erwartete er, einen grässlichen Tiefseefisch zu sehen, mit grauem Gesicht, die Zähne so lang und dünn wie Nähnadeln, und Augen so groß wie Salatschüsseln. Barnes fühlte sich wie ein Tiefseetaucher ohne Tauchanzug. Schutzlos.
Im Haus stank es bestialisch. Die Feuerwehrleute setzten ihre Sauerstoffmasken auf, aber Barnes Leute hielten es nicht lange aus. Sie verließen das Manor um 18.41 Uhr.
Von da an galt für Barnes Cassandra Moon inoffiziell als vermisst. Einen Tag später erfuhr Barnes, dass Nick Shelton sie wahrscheinlich begleitet hatte, und von da an wurden beide offiziell vermisst.
Die Suche ging weiter, aber Ron Hausers, Cassandra Moons und Nick Sheltons Verbleib blieb ungeklärt.
Was blieb, waren eine Stadt in Angst (vielleicht hat sie ja ein Psychopath geholt) und zwei Jugendliche, Toby Carlton und Nora Rivers, die nicht wussten, wie ihr Leben weitergehen sollte.
Die Geschichte schien ein Ende gefunden zu haben.
3
...aber auf irgendeine Weise geht es immerfort weiter. Immer. Und für jeden. Ohne Ausnahme.
Jede Straße, die nicht zu Ende gebaut... Jede Brücke, die eingestürzt... Jedes Leben, das beendet...
...setzt sich fort.
Die Straße wird zum Feldweg... Die Brücke führt hinab zum Fluss... Das Leben... nun, das Leben...
Seht selbst.
Hier kommt der...