Читать книгу Gefangen im Gezeitenstrom - Robert S. Bolli - Страница 11

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Ich habe mich mit ein paar Beuteln Snacks eingedeckt. Irgendetwas mit Käsearoma und Paprika. Ein weiterer Schultag am Zentrum für Berufsbildung neigt sich dem Ende zu. Mittwochabend. Zirka dreizehn Stunden später werde ich schon wieder auf dem Bau sein. Eigentumswohnungen – gehobener Standard. Plattenbau für diejenigen, die es geschafft haben. Schattenlage, aber Aussicht über die Stadt und Balkone so groß, dass man darauf zu viert Tischtennis spielen kann. Am Kiosk schreite ich zielstrebig zum Kühlregal und schnappe mir eine Dose Energydrink als Stärkung für unterwegs. Damit gehe ich langsam zur Kasse, wo weitere Kunden auf Bedienung warten. Ungeduldig trete ich von einem Bein auf das andere. Dann endlich bin ich an der Reihe. Ein unsicheres „Hi!“ kommt über meine Lippen, als ich das Mädchen sehe.

Ein gleichgültiges, abgehacktes „Hi!“ wirft sie mir entgegen, aber mit einer anmutigen Bewegung nimmt sie die Dose und zieht sie über den Scanner. „Ein Franken“, sagt sie im gleichen Tonfall.

Mir schießt das Blut heiß bis in die Ohren. Mein Kopf scheint zu glühen, als sie kurz zu mir hochschaut. Ich stehe wie versteinert da. Sie muss etwa in meinem Alter sein. Vermutlich ist sie eine Schulabgängerin und hat hier kürzlich eine Ausbildung angetreten. Vielleicht auch zehntes Schuljahr, Berufswahlklasse. Schnupperlehre. Jedenfalls etwas, das doch nicht so ganz ihren Erwartungen zu entsprechen scheint.

„Was ist? Hast du kein Geld dabei?“, fragt sie nun etwas ungeduldig.

„Äh, ja … doch … natürlich!“, stottere ich und klaube umständlich ein Frankenstück aus meinem Geldbeutel, das ich ihr mit zitternden Fingern über die Theke reiche.

„Danke“, sagt sie und wirft das Geldstück mit einer gleichgültigen Geste in die Kassenschublade.

Sie sieht wirklich verdammt gut aus. Ihre schulterlangen schwarzen Haare geben den Rahmen für ein wunderschönes, makelloses Gesicht. Auf ihren dunkelbraunen, vollen Lippen hat sie lediglich etwas metallisch glänzendes Lipgloss aufgetragen und an der rechten Augenbraue trägt sie ein Piercing. Dann entdecke ich das Tattoo, das die Innenseite ihres rechten Unterarmes ziert. In der Eile kann ich das Motiv nur flüchtig erkennen. Aber es durchzuckt mich wie ein Blitz. Etwas in der Art eines chinesischen Drachens. Ein anerkennendes „Wow!“ zischt durch meine Gedanken, aber für mehr reicht es nicht. Hinter mir wartet bereits wieder eine ungeduldige Menge Kundschaft. Ein flüchtiges „Tschüss“ gebe ich von mir und schlendere dem Ausgang zu.

Unschlüssig bummle ich über den Platz und biege in die Vorstadt ein. Der Abend ist noch jung und ich habe genügend Zeit, in meinem Plattenladen vorbeizuschauen. Meine linke Hand steckt in der Gesäßtasche, mit der rechten wühle ich mich durch die alphabetisch geordneten CDs. Ich suche keine besondere Scheibe. Ich will auch keine kaufen. Ich brauche nur etwas Zerstreuung. Mit meinen Gedanken schweife ich immer wieder woanders hin – zu dem Mädchen vom Kiosk. Diese Lippen. Das Tattoo. Die anmutige Bewegung mit diesen feinen Händen! Alles an ihr fasziniert mich. In meinem Bauch beginnt es zu kribbeln und ich kann an nichts anderes mehr denken. Nur eines weiß ich: Ich muss sie unbedingt wiedersehen. Ich verlasse den CD-Shop und peile die Bahnhofstraße an, wo ich den Trolleybus nehme, der mich nach Hause bringt.

„Hallo zusammen!“, rufe ich in den Hausflur hinein, als ich die Eingangstür aufstoße und eintrete. Anstelle eines Grußes dringt das Gequassel des viel zu laut aufgedrehten Fernsehers an meine Ohren. Irgendeine Doku-Soap mit Haustieren flimmert über den Bildschirm. Mein Opa hat sich auf dem Sofa hingelümmelt und starrt wie gebannt auf den TV, als irgendein Tierarzt in irgendeiner durchgestylten Klinik für die Viecher der Schicki-Micki-Elite einem potthässlichen Designerköter ohne Fell, dafür mit spitzen Ohren, aus denen graue Haarbüschel hervorsprießen, eine Spritze mit einem Antirheumatikum verpasst. In China hätte man einem solchen Ding längst eins über die Rübe gezogen und es in die Pfanne gehauen. Soll angeblich vorzüglich schmecken, so an einer braunen Soße, mit Bratkartoffeln, Karotten und Zwiebelringen. Aber das ist nur so eine Vermutung.

„Auf der A4 im Weinland hat es schon wieder gekracht“, lässt nun der Opa als Gruß vernehmen. „So ein Volltrottel hat es doch geschafft, die falsche Auffahrt zu nehmen. Dann gab’s einen Frontalen! – Hast du gehört?“

„Jaah“, sage ich ziemlich gleichgültig.

Offenbar sind das die einzigen Themen, die meinen Großvater interessieren. Menschen und Tiere im TV. Dann kann er sich wenigstens noch einbilden, irgendwie mit der Außenwelt in Verbindung zu stehen. Egal, es soll ja auch Leute geben, die sich wochenlang Big Brother reinziehen. Das ist doch echt krank.

„Mutter kommt später nach Hause. Sie ist noch für die Büroreinigung weg. In der Pfanne auf dem Herd liegt ein Stück Fleischkäse. Du sollst es dir warm machen, mit einem Spiegelei zusammen, hat sie gesagt.“

Ich bin echt begeistert.

Kürzlich hat sich Mum für einen Job als Putzfrau am Hauptsitz der Regionalbank beworben. Angeblich, um ihr Taschengeld aufzubessern. Sie hat ihn tatsächlich bekommen. Nun ist sie fast täglich, meist in den Abendstunden, mit Papierkörbeleeren, Bodenschrubben und Schreibtischeabwischen beschäftigt. In der Anzeige hieß es: Fachkraft für Büroreinigung gesucht. Neulich, nach der Berufsschule, ich war mit ein paar Kollegen noch kurz was trinken, da habe ich Mums Gärtner mit seinem Pickup vor der Bank vorfahren sehen. Er ist ausgestiegen und drückte einen Knopf in einer Nische neben dem Haupteingang. Nach einer Weile kam Mum zur Tür, hat ihm aufgemacht und ihn hereingelassen. Klar doch, war längst Feierabend und kein Banker mehr dort. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie die beiden eine tolle Zeit miteinander verbracht haben. Möglicherweise eine schnelle Nummer auf dem Schreibtisch im Direktionszimmer. Warum auch nicht? Dann soll Mum sich meinetwegen doch gleich als Vaginal-Fachverkaufskraft anbieten. Bestimmt hätte sie ein anständiges Einkommen, bei wesentlich geringerem Arbeitsaufwand versteht sich.

Ich hasse es, wenn mein Opa immer Mutter sagt, egal ob er seine Frau, seine Tochter oder seine wirkliche Mutter meint. Er sieht da keinen relevanten Unterschied. Er gehört eben zu jener Sorte Paschas, die sich bis ins hohe Alter bemuttern lassen wollen. Egal von wem.

„Ach ja, wenn es dir nichts ausmacht: Kannst du mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank bringen?“

„Meinetwegen. Aber trink nicht zu viel. Denk an deine Medikamente!“

„Ja, ja! Alkohol wirkt auch blutverdünnend. Hast du gehört?“

„Hab ich. Du solltest aufpassen, dass deine restlichen Hirnzellen vom Alk nicht verdünnt werden!“

Opa knurrt wie eine in den Arsch getretene Bulldogge und sieht mich abgrundtief verachtend an. Wenn Blicke töten könnten, hätte ich wohl kaum die nächsten Minuten überlebt.

Ich stelle die Dose auf das hölzerne Salontischchen mit den eingelassenen beigefarbenen Fliesen, mit irgendwelchen japanischen Schriftzeichen im Zentrum der Tischplatte. Frühe Siebzigerjahre, wie fast alles in unserem Wohnzimmer. Dunkelbrauner Spannteppich mit mintgrünen Streifchen, unter der Tür abgewetzt und Wellen werfend. Unter dem Tischchen ein kleiner bunter Teppich, billiges Perserimitat aus Otto’s, an den Wänden eine kleine Kommode mit verstaubten Nippes, eine unförmige Vitrine, die vermutlich schon seit sieben Generationen weitervererbt wurde, weil sich bis anhin keiner getraut hat, das hässliche Ding endlich einmal dem Sperrmüll mitzugeben. Aber bestimmt war das Teil schon zugegen, als meine Vorfahren noch Bauern waren, und beinhaltet nun die Glotze – einen Philips-Röhrenbildschirm – und Mamas Hausbar, nichts Besonderes, nur billigen Fusel aus dem Aldi, aber von drüben, weil auf der anderen Seite der Sprit noch ne Runde billiger zu haben ist als in den gleichnamigen Läden hierzulande. Neben dem Fenster ist ein schmales Regal aus schwarzen Stahlrohren und höhenverstellbaren Holztablaren, darauf ein paar ausgeblichene Familienfotos und jede Menge verstaubte Bücher, so etwas wie Intellekt suggerierend, jedoch bei näherer Beschau nur Bildbände, über die Schweiz, über den Heimatkanton, über unsere Stadt, wie sie vor hundert Jahren aussah, ein Kochbuch für die gutbürgerliche Küche, die wir nie hatten, ein Riesenwälzer mit deutschen Volksmärchen und einige Jahrgänge mit Sammelbänden aus dem Hause Das Beste. Alles harmloses Zeug eben. Das Proletariat unterhält sich mit Musikantenstadel und Dschungelcamp. Werke von Ernest Hemingway, Leo Tolstoi oder Marcel Proust sind für sie unerreichbare Welten. Namen mit derselben Bedeutung wie etwa spanische Bahnhöfe.

„Hast du noch ein Bierglas für mich?“

„Wozu denn das?“

„Einfach so.“

„Machst du neuerdings auf Culture?“

„Blödsinn, ich habe einfach Lust auf ein Bier aus dem Glas.“

Ich zucke die Schultern, aber besorge ihm das Glas und stelle es neben die Dose. Wortlos dreh ich mich weg und begebe mich nach oben auf mein Zimmer. Ich werfe die Sweatshirt-Jacke über die Stuhllehne, streife die Pumas von den Füßen, ohne die Schnürsenkel zu öffnen, und lege mich aufs Bett, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Ich denke nach.

Das Mädchen vom Kiosk. Wie mag es wohl heißen? Ich schließe die Augen. Eigentlich bin ich müde, aber ich kann keine Ruhe finden. Da ist es wieder. Das Kribbeln im Bauch. Nervös setze ich mich auf die Bettkante, nehme mein Handy und öffne die Seite Anrufe in Abwesenheit. Sie ist leer. Ich habe auch nichts anderes erwartet. Dennoch bin ich ein wenig enttäuscht. Ich öffne den Speicher und wähle Charlys Nummer. Ich muss es etliche Male summen lassen, bis mein Freund endlich rangeht.

„Hallo!“, krächzt es aus dem Handy.

„Hi, Kumpel! Ich bin’s, Oliver. Hast du Lust auf nen Drink?“

„Hi, Olli! Ja, schon, warum nicht? Aber ich habe noch in der Bude zu tun. Bei mir wird es später werden“, meldet sich Charly. Er ist der Einzige, der mich mit einem Kürzel ansprechen darf. Ansonsten hasse ich diese meist doofen Verkleinerungsformen.

„Kein Problem!“, sage ich. „Bei der Gelegenheit schaue ich noch schnell bei euch rein. Dann können wir noch wo hingehen, wenn du den Laden dichtmachst.“

„Okay, dann bis nachher!“, antwortet er. Ich drücke die rote Hörertaste und stecke das Handy weg.

Ich hole meine Sporttasche aus dem Schrank, schmeiße die Indoorschuhe und ein paar gebrauchte Sportklamotten sowie Duschzeug hinein, ziehe meine Sachen wieder an und hänge die Tasche mit dem Tragriemen über die Schulter. Dann verlasse ich das Haus und mache mich auf zur Bushaltestelle.

Das Studio RUEDIS POWER befindet sich am Rande der Altstadt in einer baufälligen Gewerbeliegenschaft, die den Anschein macht, als würden demnächst die Bagger auffahren, um Platz zu schaffen für eine zeitgemäße Überbauung mit Büros und Dienstleistungsunternehmen.

Als ich in die Gasse gelange, in der das Studio liegt, setzt leichter Nieselregen ein. Ich schlage angeekelt die Kapuze meiner Jacke über den Kopf. „Scheißwetter!“, gebe ich resigniert von mir. Ich eile an einer Zeile mit heruntergekommenen Fassaden und blinden Fenstern vorbei, wo irgend so ein Realo God was never on your side hingesprayt hat. Wenig später erreiche ich den Haupteingang zum Gewerbehaus.

Im Erdgeschoss befindet sich eine Reparaturwerkstätte für Mofas und Fahrräder, mit dem vielsagenden Firmennamen A – Z. Der Inhaber, Herr Albert Zipsin, ein kleiner kauziger Typ mit Vollglatze, der schon bald eine Sechzig auf dem Rücken tragen wird, betreibt hier ein Ein-Mann-Unternehmen. Hauptsächlich der Kohle wegen, da er sich einen vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand nicht leisten könne, gibt er unumwunden zu, wohl aber auch, um seiner Lebenspartnerin, einer gewissen Ingrid Wullimann, nicht allzu sehr auf den Keks zu gehen.

Die beiden haben sich auf irgend so einer Tanzveranstaltung des evangelischen Frauenbundes kennengelernt. Ingrid ist eine resolute Frau und alles andere als ein sensibles Hausmütterchen. Sie macht einen intelligenten und gebildeten Eindruck, und – so hat es mir Albert freudestrahlend einmal erklärt – sie nutzt ihren Tag für Besseres als nur Fernsehen und Kuchenbacken.

Obwohl sie gut einen Kopf größer als Albert und bestimmt zweimal so breit ist, scheinen sie wie füreinander geschaffen. Nach Möglichkeit bestreiten sie ihre Unternehmungen wie Urlaub, Kino, Theater und dergleichen zusammen. Ihre gemeinsame Wohnung liegt direkt über seinem Arbeitsplatz, allerdings im zweiten Stock. Da kann es durchaus von Vorteil sein, nicht nur ein eigenes Zimmer als Rückzugsmöglichkeit zu haben, sondern auch eine zwar veraltete, aber immer noch brauchbare Werkstatt, ein privates Refugium, einen heiligen Ort der Zuflucht und der Inspiration.

Denn eines weiß Albert Zipsin mit Sicherheit: Auf keinen Fall will er so enden wie die meisten seiner Kneipenkollegen, verstockt, mürrisch und stets unzufrieden mit sich und der Umwelt, und am Stammtisch nur ein Thema kennen, das vor allen anderen Themen punkto Wichtigkeit stets die Bestsellerliste anführt. Nämlich die eigenen kleineren und größeren Gebresten, die Unfähigkeit der Therapeuten und die der Ärzte sowieso.

Nein, er will sich, so lange es seine Gesundheit zulässt, nützlich in die Gesellschaft einbringen, und sein privates Biotop der Mechanik hilft ihm dabei, mit der schmuddelig-schummrigen Atmosphäre, dem chaotisch-kreativen Durcheinander von angerosteten Auspufftöpfen, Schutzblechen, fettstarren Fahrradketten, penetrant nach Kautschuk riechenden Luftschläuchen, verstaubten Pneus und mit dem allgegenwärtigen Geruch von Schmieröl und Zweitaktbenzin.

Ich kenne die urtümliche Werkstätte und ihren ebensolchen Besitzer von Kindsbeinen an. Ich liebe diesen Mikrokosmos am Rande der Altstadt. Dieses bisschen Leben, das in Form von metallischem Hämmern oder Motorengeknatter auf die Gasse dringt, wenn Albert Zipsin wieder einmal einen uralten Puch Velux zum Laufen bringen will, und das sich doch so sehr von dem Leben unterscheidet, das sich in den angesagten Lokalen, in den Clubs und Bars oder in den trendigen Modeboutiquen in der Fußgängerzone abspielt. Ich liebe diese Biosphäre, die ohne großen Aufwand so viel Abenteuer ausstrahlt und die Fantasie über alle Maßen anregt. Und ich liebe Albert Zipsin, diesen Mann, der auf mich schon damals alt, gütig und weise wirkte, der stets einen dunkelblauen, schmutzig-öligen Overall trägt und mir, dem fremden Jungen aus dem Außenquartier, schon früh das Du anbot, ohne nach dessen Name und Herkunft zu fragen.

Ich bin glücklich an diesem Ort. Albert strahlt etwas Spitzbubenhaftes, zugleich etwas Väterliches aus und ist auf eine besondere Art verschroben. Eigenschaften, die ich sowohl an meinem Erzeuger wie auch an Opa stets vermisst habe. Schon als Kind fühlte ich mich zu Albert hingezogen, besuchte ihn nach der Schule in seiner Werkstatt, wo ich mich auf einen abgewetzten Schemel setzte und dem Meister eine Stunde lang mehr oder weniger stumm bei der Arbeit zuschaute. Dann plötzlich schoss ich vom Stuhl hoch und verließ mit einem knappen Gruß die Bude, um eventuell schon am nächsten Tag wieder vor Alberts Tür zu stehen. Er ließ mich gewähren, bot mir Einlass und begann seinem sonst scheuen und wortkargen Gast Geschichten aus seinem Leben zu erzählen. Und er begann mich, diesen kleinen und spindeldürren Sonderling, zu mögen.

Eines Tages, als ich wieder einmal in der Werkstatt saß und Albert stumm Gesellschaft leistete, durchfuhr es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel und er erkannte die Geistesverwandtschaft, die ihn und mich auf eine eigenartige Weise wie eine unsichtbare Kordel verband. Erneut durchzuckte ihn die Erkenntnis, wie sehr ich ihn an seine eigene Kindheit erinnerte. Wurde er als Kleinwüchsiger nicht ebenso von seinen Klassenkameraden gepiesackt? Als Einzelkind eines alkoholkranken Zeughausangestellten und einer durchgeknallten Psychiatriepflegerin ist er in eher zweifelhaften Verhältnissen aufgewachsen. Bereits mit zwölf Jahren erstmals ausgebüxt, mit fünfzehn definitiv abgehauen, um drei Monate später ausgehungert und schlotternd vor Kälte zurückzukehren – aber nicht heim zu seinen Alten, sondern ohne Umschweife und ganz freiwillig meldete er sich in der kantonalen Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche und bat dort um Aufnahme. Diese wurde ihm letztlich auch gewährt und er blieb dort, bis er seine Volljährigkeit erreicht hatte. Wen wundert’s, hatte er denselben schweren Stand und musste sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchboxen beziehungsweise, unter Anwendung mancherlei Tricks, seinen Platz in der Gesellschaft erkämpfen. Jedoch erst seine späte Abnabelung, beziehungsweise sein Ausbrechen aus dem Milieu, brachte ihm die so sehr erhoffte Anerkennung und verhalf ihm zu mehr Selbstvertrauen. Das geschah, als er den endgültigen Beschluss fasste, nach dem Abschluss einer Grundausbildung zum Landmaschinenmechaniker als Tramper die Welt auf eigene Faust, ohne finanziellen Rückhalt zu erkunden. Seine beeindruckenden Reiseerlebnisse hat Albert in zahlreichen Tagebuchnotizen festgehalten. Die außergewöhnlichsten Abenteuer beabsichtige er in Buchform zu veröffentlichen, hatte er mir versichert. Noch arbeite er daran.

Diese Story und vieles mehr über sich und sein Leben hat Albert mir später nach und nach erzählt. So begann eine zarte Freundschaft heranzuwachsen.

„Ich geh an den Fluss, noch ne Runde schwimmen. Willst du mitkommen? Du kannst die Enten füttern, wenn du möchtest. Ich habe etwas altes Brot dabei“, sagte Albert, der mir einfach einmal etwas Neues zeigen wollte.

„Au ja! Das wäre schön“, entgegnete ich und sprang auf.

„Also los, du kannst auf dem Sozius meiner Maschine Platz nehmen. Ich kenne da ein Strandbad, dort gibt es die besten Bratwürste weit und breit.“

Schon seit geraumer Zeit betrachtete Albert meine magere Gestalt und offenbar bemitleidete er mich deswegen.

„Du kannst ja deiner Mutter immer noch sagen, du hättest in der Schule nachsitzen müssen.“ Er fügte diese Floskel, spitzbübisch grinsend, meistens noch an, obwohl meine Alten längst wussten, wo ich mich nach Schulschluss herumtrieb, waren sie doch gelegentlich Kunden bei Albert Zipsin, wenn sie hin und wieder für mich ein Kinderfahrrad brauchten oder dieses einer Reparatur unterzogen werden musste.

Albert, der selbst nie Nachwuchs gezeugt hatte – zumindest nie wissentlich –, setzte sich einen alten schwarzen Militärhelm auf den Kopf und bei mir improvisierte er, indem er mir einen Fahrradhelm verpasste. Dann traten wir vor die Werkstatt, wo Albert auf der Gasse mit dem Kopfsteinpflaster sein Motorrad, eine alte, aber wunderschön gepflegte Kreidler, die immer noch den originalen, dunkel-olivgrünen Militärlack trug, abgestellt hatte. Albert gab mir ein paar Anweisungen, dann fuhren wir die Straße entlang, in gemächlichem Tempo davon. Nach wenigen Minuten verließen wir „Downtown“ und gelangten an den Fluss. Damals war ich noch Nichtschwimmer. Ich hielt mich im Uferbereich auf und warf das auf den Steinen zertrampelte Brot ins Wasser. Albert zog seine Badeshorts an, stürzte sich ins erfrischende Nass und schwamm ein paar Züge. Anschließend gönnten wir uns die verheißene Wurst und ein großes Bier respektive für mich eine Limo.

„Weißt du, man muss die schönen Sommerabende genießen. Man weiß nie, wann das Wetter wieder umschlägt“, sinnierte Albert und ich nickte zustimmend, als gäbe es etwas, das dagegen spräche. Eine belanglose, ja eigentlich völlig überflüssige Bemerkung, denn ich wäre Albert sowieso durch den ärgsten Regenschauer gefolgt.

Diese spontanen Ausflüge in die nähere Umgebung begannen sich zu mehren und meine Alten forderten Albert Zipsin auf, endlich die Fahrten mit dem Motorrad sowie die Mahlzeiten und Getränke in Rechnung zu stellen, anstatt zu hinterfragen, warum ich mich immer mehr von ihnen abwandte und meine Freizeit bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit diesem altertümlichen Mechaniker verbrachte.

Etwa ab meinem zwölften Lebensjahr nahm mich Albert auch auf ausgedehnte Motorradtouren mit. Zum Beispiel an den Bodensee oder in den nahen Schwarzwald. Doch ein kleiner, eher unscheinbarer Ausflug bleibt für mich stets in bester Erinnerung. Er fand im Hochsommer statt, in jenem Jahr, als ich fünfzehn war.

Ein herrlicher Freitagnachmittag neigte sich dem Ende zu. Nach Schulschluss bummelte ich wie so oft durch die Stadt und blieb letztlich vor Alberts Geschäft hängen. Es dauerte nicht lange, da wurde ich hereingerufen. Albert hatte gerade nicht viel zu tun und schmiss aussortierten Schrott in eine Mulde, die im Hinterhof stand. Es war ihm anzusehen, dass er nicht sehr motiviert bei der Sache war.

„Hast du Lust auf einen Ausflug?“, fragte er mich kurz entschlossen.

„Warum nicht?“, meinte ich und zuckte die Schultern.

„Na, dann mal los. Ich packe nur noch schnell ein paar Sachen zusammen. Du kannst dir schon mal den Helm aufsetzen.“ Albert hatte eigens für mich einen weiteren Helm organisiert – ein olivgrünes Ding, ebenfalls aus alten Militärbeständen, das bereits deutliche Kampfspuren abbekommen hatte.

Er verschwand in seiner Wohnung und kam wenige Minuten später mit einem alten, aber nach wie vor soliden Militärrucksack wieder, in dem er Tourenproviant und ein paar weitere nützliche Dinge verstaut hatte. Tja, damals war Albert ein gern gesehener Stammkunde des Armyshops.

„Wir legen bei dir zu Hause noch kurz einen Zwischenhalt ein. Dann besorgst du dir einen Schlafsack, eine Taschenlampe und wenn du willst, etwas zum Knabbern und zu trinken. Ach … und sag deiner Mutter, dass du über Nacht wegbleibst. Sonst macht sie sich unnötige Sorgen.“

„Nö, ich glaub eher, dass meine Abwesenheit gar niemand bemerken würde“, sagte ich und zuckte ein weiteres Mal die Schulter. Trotzdem hielten wir zu Hause nochmals an. Ich packte eiligst ein paar Sachen zusammen und rief, bereits unter der Tür stehend: „Tschüss, bis morgen!“, in den Flur hinein.

Etwas später brausten wir zur Stadt hinaus, übers Land, wo der Weizen hoch und die Reben an den Südhängen satt und schwer standen. Es war ein wunderschöner Nachmittag Anfang August und eine ebensolche Nacht kündete sich an. Ich erinnere mich noch gut an den klaren Vollmond, der in gemächlichem Bogen über den schwarzen Himmel zog und dabei sein Licht wie geschmolzenes Silber über die Landschaft ergoss.

Kurz vor der Landesgrenze verließ Albert die Landstraße und bog auf einen mit Kalksteinschotter bedeckten Waldweg ein. Beim erstbesten Wanderparkplatz am Fuße eines Hügelzugs stoppte Albert sein Gefährt und wir machten uns zu Fuß auf den Weg, der zu einer Burgruine führt. Nach einer halben Stunde erreichten wir das zerfallene Gemäuer, wo wir sogleich unser bescheidenes Lager einrichteten und an der dafür vorgesehenen Stelle ein Feuer entfachten. Zu meinem Erstaunen hatte Albert ein kleines Igluzelt dabei, das er nun geschickt innerhalb der Mauerreste auf einem Stück ebenen Bodens errichtete, während ich mich um das Feuer kümmerte. Ich schwenkte den kreisrunden Grillrost über die Glut und Albert kramte aus seinem Rucksack zwei marinierte Schweinekoteletts heraus, die er auf den Rost legte. Albert griff nochmals in den Rucksack und entnahm ihm zwei Blechteller, einen Beutel mit Brötchen, Ketchup und zwei Dosenbiere, wovon er eines an mich reichte. „Harte Männer brauchen harte Drinks!“, sagte Albert grinsend und ich grinste zurück. Dann aßen wir schweigend, die Aussicht auf die umliegenden Täler genießend, begleitet vom Knistern des Feuers und den Geräuschen des Waldes. Anschließend, nach beendeter Mahlzeit, warfen wir beide, wie um das Ritual zu vollenden, die abgenagten Knochen über die Schultern in den von Gras überwachsenen Schutt.

Mittlerweile wich das Tageslicht der Abenddämmerung und Albert zauberte aus seinem Rucksack eine altertümliche Kaffeekanne heraus, die er mit Wasser aus einer PET-Flasche füllte, gemahlenen Bohnenkaffee hinzufügte und auf den Rost stellte. Die Szene erinnerte mich verblüffend an den Marlboro-Mann. Aber ich wusste, dies war genau Alberts Absicht. Er wollte mir eine Lektion erteilen, und das gelang ihm mit jedem Handgriff.

Albert wies mich an, nochmals tüchtig Holz aufzulegen, bevor wir vollständig von der Dunkelheit umfangen wurden, und ich machte mich erneut auf, in den umliegenden Wäldern Holz zu suchen. Dafür wollte Albert mich mit einem speziellen Geschenk überraschen. Er klaubte aus der Tasche seiner Lederjacke einen Beutel mit fein geschnittenem Pfeifentabak und ein Päckchen Zigarettenpapier hervor und begann sorgfältig einen Joint zu drehen. Erneut griff er zur Jacke und entnahm einer anderen Tasche einen kleinen Papierbeutel mit etwas Getrocknetem, Krautartigem und fügte es großzügig dem Tabak bei.

Unterdessen hatte ich genügend Holz für die Nacht herbeigeschafft und damit ein schönes großes Feuer entfacht. Es dauerte nicht lange, da kochte der Kaffee in der Kanne und verbreitete einen würzigen Duft. Albert nahm sie vom Feuer und schenkte die schwarze Flüssigkeit in zwei zuvor bereitgestellte Blechtassen ein. Dann griff er zu einer Plastikdose, die Zucker enthielt, schüttete in jede Tasse drei gehäufte Löffel hinein und rührte mit andächtigen Bewegungen. Er reichte mir die eine Tasse, dann tranken wir gemeinsam den bitter-süßen Sud. Es schien nicht nur wie eine – nein, es war eine Zeremonie. Ein Ritual unter Männern. Und ich genoss es, auch wenn ich anfänglich mit jedem kleinen Schluck das Gesicht zu einer Grimasse verzog. Denn bis anhin ernährte ich mich zu Hause überwiegend von Milchshakes in allen erdenklichen Variationen.

Dann erhob sich Albert und erklärte mir mit einer fast feierlichen Miene: „So, nun komm! Wir machen noch eine kleine Klettertour. Ich hab da noch was für den perfekten Abschluss des Tages.“

Albert ging voraus und ich folgte ihm. So erklommen wir die höchste Stelle der Mauerreste des ehemaligen Bergfrieds. Wir setzten uns nebeneinander auf die breite Mauerkrone und ließen unsere Beine ins Leere baumeln. Dann zündete Albert den Joint an, nahm einen tiefen Zug und gab ihn mir weiter. Auch das war eine Premiere für mich. Zuerst musste ich heftig husten, aber dann begann der Stoff zu wirken. Ich fühlte eine wohlige Wärme in mir aufsteigen. Ein unbeschreibliches Gefühl vollkommener Geborgenheit umfing mich. Ich schwebte auf samtweichen Wolken und mit einem Mal begann ich die Dinge klarer zu sehen. Die Farben der Natur und die meiner eigenen Gedanken gewannen an Intensität. Ich erkannte Zusammenhänge, die mir nie zuvor für möglich schienen. Ich blickte in Dimensionen, die für mich bisher völlig unbekannt waren. Mein Bewusstsein veränderte sich und ich nahm wahr, wie nichtig und unbedeutend das alles war, von dem ich bisher Kenntnis hatte. Ich fühlte, wie alles eigentlich sehr einfach war, das Leben, die Schöpfung, ja der ganze unendliche Kosmos.

Ich ließ mich auf den Rücken sinken und lauschte einfach den Geräuschen des Abends, dem allmählich verklingenden Gesang der Vögel, dem gelegentlichen Vorbeifahren eines Autos, tief unten im Tal. So saßen wir noch eine Weile beisammen und bewunderten das grandiose Farbenspiel der untergehenden Sonne. Dann verließen wir unseren Aussichtsposten, kletterten vorsichtig die Mauerreste hinab und begaben uns ins Zelt, wo wir in unsere Schlafsäcke gehüllt den Rest der Nacht verbrachten.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als wir unser Lager räumten und die Burgruine verließen. Im nahen Ausflugsrestaurant gönnten wir uns ein währschaftes Frühstück. Anschließend begaben wir uns zum Wanderparkplatz zurück, wo immer noch die gute alte Kreidler auf uns wartete.

Gefangen im Gezeitenstrom

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