Читать книгу Gefangen im Gezeitenstrom - Robert S. Bolli - Страница 7

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Draußen regnet es in Strömen – schon seit Tagen. Es ist Mitte Dezember. Ein kalter Wind fegt durch die verwaisten Straßen. Durch das Fenster sehe ich die kahlen Baumkronen sich in den Böen wiegen. Nasses dunkelbraunes Laub klebt auf den Gehsteigen. Die wenigen Menschen, die über die Straße eilen, ziehen die Kragen hoch und die Kapuzen noch weiter ins Gesicht. Sie schimpfen lauthals über dieses miserable Sauwetter. Warum auch nicht. Dazu ist das Wetter schließlich da. Sie tun es auch dann, wenn sie sich gar nicht kennen. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Schicksalsschläge formen aus Gegnern Verbündete. Keinerlei Floskeln suggerieren derart Mitgefühl, Anteilnahme, ja, in gewisser Weise sogar Geborgenheit und Wärme wie das gemeinsame Beschimpfen einer misslichen Situation.

Der Wind pfeift um die Ohren und bläst den Regen direkt ins Gesicht. Es ist kalt. Aber immer noch zu wenig kalt, um den Niederschlag in Schnee zu verwandeln. Das wäre schön: Ein makelloses Weiß, das den Schmutz, den grauen und den braunen Dreck, die Trostlosigkeit und die Tristesse des Alltags einfach zugedeckt hätte. Wenigstens für eine kurze Zeit wäre der ganze unansehnliche Müll, der Morast verschluckt worden. Verschwunden. Aus den Augen, aus dem Sinn. Einfach endloses Weiß, das unter einem stahlblauen Himmel glitzert, lediglich durchbrochen von den in bunten Winterklamotten spielenden und vor praller Lebensfreude jauchzenden Kindern.

Nun hat sich das Leben zurückgezogen. Ist in Deckung gegangen. In die Behausungen, in die Höhlen, in die Nischen. Früher scharten sich die Menschen bei Kälte um ein Feuer, versammelten sich in einem beheizten Raum. Vielleicht in der Küche, vielleicht in der Stube. Eigentlich recht gemütlich, wenn ich mir das so vorstelle.

Heute versammeln sie sich in den riesigen Einkaufszentren. In den Läden und Restaurants rund um die Mall wuselt es nur so von Leben. Besonders in der Vorweihnachtszeit. Da trifft man sie alle wieder, in Eintracht, beim Befriedigen ihrer Süchte. Und alle geben sich die größte Mühe, sich im Stress nichts anmerken zu lassen. Ihre eigene Unzufriedenheit, ihre eigentliche Abscheu, ja, ihre angestaute Frustration über ihr Versagen, dem wirtschaftlichen Diktat wieder nichts entgegengesetzt zu haben. Alle mimen gute Laune, grinsen sich affig an und geben heuchlerische Phrasen von sich, obwohl jeder seinem Gegenüber am liebsten die Faust in die blöde Fresse schlagen möchte. Und jeder denkt, es im nächsten Jahr ganz sicher besser zu machen. Aber was heißt das schon. Was soll denn noch besser werden? Noch mehr Umsatz, noch mehr Gewinn, noch mehr Konsumrausch?

Ich denke es immer wieder: Die Menschen sind schon seltsam. Geht es ihnen schlecht, geben sie sich alle solidarisch und stehen einander bei. Geht es ihnen nur schon ein bisschen besser, vergessen sie alle ihre guten Vorsätze, kippen ihr soziales Gewissen über Bord und mutieren zu egoistischen Wesen. Manchmal denke ich, dass eine Katastrophe in dieser Hinsicht auch eine positive Seite hätte. Ich meine natürlich nicht diese 08/15-Katastrophen, wie sie jährlich wiederkehren. Die, die man spätestens nach einem Jahr wieder vergessen hat. Erdbeben im Iran: 50.000 Tote. Tsunami in Japan: 30.000 Tote oder so ähnlich. Mal ehrlich: Wen juckt das hierzulande schon? Ich meine, es müsste schon etwas Handfestes sein. Etwas, das nicht nur ein Land erschüttert, sondern den ganzen Globus zum Taumeln bringt. Also etwas in der Art von „Deep Impact“ oder „Armageddon“. Ein Kometeneinschlag zum Beispiel, das wäre der Hammer. Dann könnten die Überlebenden, mit dem Wissen von heute, nochmals von vorne beginnen. Ohne den ganzen Zivilisationsmüll, der im Grunde niemandem etwas bringt. Ein Alltag, der sich gänzlich auf das Dasein beschränkt. Ein Alltag ohne Reizüberflutung, ohne den gigantischen Informationsmüll, ohne Konsumterror und ohne Vergnügungssucht. Ausgerüstet nur mit etwas Saatgut und Gartenwerkzeug. Einfach eine Erdscholle fruchtbar machen, Feldfrüchte anbauen und neue, einfache Siedlungen gründen, in denen zufriedene Menschen leben würden. Menschen, die mit sich zufrieden sind und mit ihrer Umwelt in Einklang leben.

Und wenn alles Leben ausgelöscht würde? Das wäre auch okay. So lange die Erde sich dreht und die Sonne scheint, kann sich immer wieder neues Leben entwickeln. Auch solches ohne Menschen. Wenn ich Schöpfer wäre, würde ich mir das sowieso nochmals gründlich überlegen – das mit den Menschen. Eine solche Radikalkur wäre schon megakrass. Aber sie hätte drei unbestreitbare Vorzüge: Erstens gäbe es über ein solches Ereignis nicht die geringste Zeitungsmeldung. Zweitens: Man bräuchte nirgends ein Careteam einzusetzen. Und drittens (das Wichtigste): Es gäbe niemanden, der Profit daraus schlagen könnte. Wir alle wären Verlierer. Das ist doch sehr tröstlich. Oder sollte ich vielleicht sagen, dass wir alle Gewinner wären? Jeder wäre der Erste beim großen Showdown, und wie es danach weitergeht, weiß sowieso niemand mit Bestimmtheit. Ich meine, wenn der Mensch so etwas wie eine Seele besäße, was würde mit dieser nach seinem Ableben geschehen, wenn es nirgends mehr eine Heimat gäbe, wo sie Zuflucht und Ruhe finden könnte? Und was wäre, wenn sich am Ende alles nur als ein gigantischer Irrtum herausstellen würde? Letztlich sind wir doch alle aus Sternenstaub entstanden und werden einst in ferner Zukunft in diesen Zustand zurückkehren, ganz unabhängig davon, wie wir unser Dasein auf Erden verbracht haben. Ist damit etwa der göttliche Plan des Ewigen Lebens gemeint?

Also, mal ganz ehrlich: Ich wäre sofort für Plan B – die radikale Variante. Jedoch wie so oft wird auch das von ganz anderer Stelle entschieden. Aber wie gesagt: Es wäre hammermäßig stark und ich wäre erfüllt von tiefster Genugtuung!

Nun jedoch sitze ich am Schreibtisch in meinem Zimmer, starre durch das Fenster, an das unablässig schwere Regentropfen klatschen, und ich lasse in meinen Gedanken die Geschichte nochmals Revue passieren, die ich zu Papier bringen möchte, und betrachte dabei die nackten Baumwipfel, die mal mehr, mal weniger heftig im Wind schaukeln. Ich möchte die Geschichte so detailgetreu wie möglich niederschreiben, sofern dies meine Erinnerungen zulassen. Denn ich weiß, dass ich der Einzige bin, der die ganze Wahrheit kennt, die sich dahinter verbirgt. Nur ich weiß, wie sich damals die Ereignisse wirklich abgespielt haben.

Ich heiße Oliver. Oliver Ambühl. Ich bin siebzehn Jahre alt. Im kommenden Sommer werde ich das dritte und letzte Jahr meiner Ausbildung zum Maurer in Angriff nehmen. Der Job ist ganz in Ordnung. Okay, manchmal ist es schon Knochenarbeit, aber ich hatte Glück und bin in einer guten Bude untergekommen. Ein richtiger Familienbetrieb, in dem noch der Patron das Sagen hat. Das Domizil befindet sich in der Gewerbezone am östlichen Stadtrand. Im Großen und Ganzen befriedigt mich die Arbeit, denn ich kann abends sehen, was ich tagsüber geleistet habe. Ich arbeite gerne draußen. In einem Büro würde ich auf die Dauer verkümmern. Die Mannschaft ist auch ganz okay, und auf dem Bau bin ich sowieso selten der einzige Azubi. Da ist zum Beispiel mein Unterstift. Er heißt Noah Stemmler. Wieso Noah? Das weiß nicht einmal er selbst. Vielleicht wollen seine Alten, dass er einmal eine Arche baut. Aber dann hätte er besser den Zimmermannsberuf erlernen sollen. Egal, er ist ein prima Kerl, auch wenn er das Arbeiten nicht gerade erfunden hat. Aber er kann zupacken, wenn man ihn darauf aufmerksam macht. Tja, ich kenne das. Man hat es nicht leicht, so nach neun Schuljahren zum ersten Mal „im Stollen“. Ich meine, so richtig, mit schwerem Gerät, und das bei Wind und Wetter.

Was ich nach der Grundausbildung mache, weiß ich noch nicht so genau. Zuerst einmal einfach abhauen. Einfach weg von hier. Fort aus diesem Zirkus, der sich Familie nennt.

Mein Zimmer ist nicht besonders groß. Etwa vier auf drei Meter. Eine bessere Besenkammer. Aber es gehört mir. Ein Bett, ein Schrank, der Schreibtisch, an dem ich jetzt sitze, und ein Regal mit ein paar auserwählten Büchern, denn ich lese oft und sehr gerne, anstatt meine Zeit vor der Glotze zu verschwenden. Seit meiner Kindheit lese ich Bücher. Zuerst waren es Abenteuergeschichten – Indianer, Cowboys, Piraten und so. Dann kamen Archäologie und Astronomie dazu. Später auch Philosophisches und gelegentlich Romane. Beim Lesen konnte ich wenigstens temporär wegtauchen. Ich bereiste fremde Länder, entdeckte ferne Welten, die mir sonst für immer und ewig verborgen geblieben wären.

Dafür wurde ich in der Schule als Langweiler gehandelt. Oft schnappte ich mir etwas aus der Stadtbücherei und zog mich in eine ruhige Ecke zurück – meistens in mein Zimmer, während die Kids draußen spielten. Von niemandem wurde ich vermisst. Die Bücher offenbarten mir eine Welt voller Wunder und Magie. Damit war mein Dasein als Außenseiter genügend entschädigt.

Einen Computer gibt es bei uns keinen. Unsereiner kann sich so was nicht leisten und meine Alten, besonders Opa, halten die Anschaffung zivilisatorischer Errungenschaften, wie zum Beispiel Unterhaltungselektronik, die etwas mehr bietet als analoges TV, für so ziemlich das Sinnloseste, was der Mensch braucht. Alles, was über das Festnetztelefon (am besten noch mit Wählscheibe) hinausgeht, ist für ihn völlig überflüssig und hochgradig dekadent. Mir soll’s recht sein. Brauchten wir für die Schulaufgaben einen Rechner mit Internetzugang, half mir mein gleichaltriger Schulfreund Charly und wir benutzten gemeinsam die Kiste seines Vaters. Im Übrigen bin ich seit Neuestem stolzer Besitzer eines Smartphones – wow! Na ja, auch unsereiner, der der „Working Class“ angehört, will gelegentlich mit der Zeit gehen.

An den Wänden habe ich Poster einiger Rockbands, zum Beispiel Avenged Sevenfold, Wolfmother oder von den Foo Fighters, denn ich stehe auf alle Arten von Rock bis Metal. Mehr geht nicht rein in mein Zimmer.

Im Regal bewahre ich unter anderem zwei menschliche Totenschädel auf. Wunderschöne, vollständig erhaltene Objekte, die ich vor ein paar Jahren meinem ehemaligen Schulfreund Nik abgeschnorrt habe, dessen Vater bei der Friedhofsverwaltung angestellt ist. Nik hat mir den Tipp gegeben, dass sie ein altes Gräberfeld aufheben würden. Aber man wisse nie im Voraus, was dabei herauskommt. So war es eine kleine Sensation, als die Arbeiter einige sehr gut erhaltene Skelette freilegten. Niks Vater hat gesagt, die Leute seien mit etwa siebzig Jahren gestorben und beigesetzt worden. Darum sind Schädel mit allen Zähnen drin äußerst selten. Ich wusste sofort, dass ich mindestens einen dieser Köpfe haben musste. Das war so eine fixe Idee von mir. Ich war völlig überrumpelt, als Nik gleich zwei dieser Dinger, schon fein sauber gereinigt, in einer Kartonschachtel verpackt in die Schule brachte. Dafür gab ich ihm eine von Opas Eisenbahnermützen und eine grün-weiße Abfertigungskelle. Ich war hin und weg. Der Schultag war gelaufen. Ich konnte mich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Gleich nach der Glocke stürmte ich nach Hause und drapierte die Schädel zuerst auf einem Silbertablett aus Mamas Hausrat auf meinem Nachttischchen. Ihren gellenden Schrei, als sie zum ersten Mal in die beiden Augenhöhlenpaare blickte, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Sie hat mir angedroht, nie wieder mein Bett zu machen, wenn ich dieses Horrorkabinett nicht sofort verschwinden lassen würde. Ich habe ihr dann in bestmöglicher Coolness gesagt: „Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir bleiben – alle drei – oder wir gehen zusammen – alle drei!“

Wir einigten uns auf die Unterbringung der Schädel im Regal. Dann müsse sie sich beim Bettenmachen wenigstens nicht so anstarren lassen. Das Silbertablett wollte sie nie mehr zurückhaben. Okay, ich habe meiner Mama noch versprechen müssen, dass ich damit keinen Okkultismus betreibe, und sie sagte mir, dass Skelette oder Teile davon kein Spielzeug seien. Man müsse auch Toten gegenüber jenen Respekt zeigen, den sie zu Lebzeiten schon verdient hätten.

„Alles klar, Mama“, habe ich gesagt. „Ich hatte auch nie vor, mit den beiden zu spielen!“

Seit diesem Tag genießen die beiden Schädel – sie heißen nun Fred und Barney (wie die Hauptfiguren aus der „Familie Feuerstein“) – bei mir im Regal ihre vorletzte Ruhe. Nik hatte mir noch gesagt, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach, aufgrund der ebenfalls entfernten Grabinschriften, um männliche Exponate handeln würde, aber so genau wisse er es nicht mehr, da sie sich schlecht voneinander unterscheiden lassen. Gelegentlich nehme ich sie hervor, entferne den Staub, poliere ihre Schädeldecken auf Hochglanz und bestaune immer wieder ihre wunderbare naturgegebene Struktur. Ich nehme an, dass ich damit genügend Respekt zeige.

Es ist nicht so, dass ich persönlich Todessehnsüchte hege. Aber ich liebe das Morbide, das Vergängliche. Alles Leben entsteht aus Dreck und Schlamm. Aus steriler Reinheit kann nichts Schlaues entstehen. Es ist doch so, dass gerade menschliches Leben sich aus Schleim entwickelt, und wenn wir sterben, verbreiten wir einen so gotterbärmlichen Gestank, dass sogar die meisten Tiere einen großen Bogen um uns herum schlagen würden, wenn es nicht die Arbeit der Totengräber gäbe.

Aber wie gesagt: Alles, was mich an die Endlichkeit des Lebens und letztlich an meine eigene Vergänglichkeit, ja meine eigene Unvollkommenheit erinnert, übt auf mich eine geradezu magische Faszination aus, der ich mich kaum entziehen kann. Und ich liebe diese Dinge, weil sie einen wunderbaren Kontrast zu unserer allgegenwärtigen, zur Perfektion neigenden Glanz-und-Gloria-Gesellschaft setzen.

In unserer Stadt, gleich hinter dem Bahnhof, gibt es ein Tattoostudio. Als Schulkind war mir der Laden nie geheuer. Opa hat mir erklärt, dass dort nur Seefahrer, Kriminelle und Huren verkehren. Ich habe mich oft gefragt, warum Opa die Seefahrer und Kriminellen in den gleichen Topf wirft. Sind denn alle Seefahrer gemeingefährlich? Oder anders gefragt: Was haben sie gemeinsam? Ich brauchte einige Jahre der Reifung, bis ich zur Erkenntnis gelangt bin, dass es die unterschiedlichen Lebensphilosophien der Menschen sind, die im Bewusstsein ihrer eigenen Individualität einen Lebensweg einschlagen, der sich so sehr vom breit getrampelten Pfad der Masse abhebt und letztlich mit der Flucht aus dem ausgeleierten Tretrad der Banalitäten endet.

Nur mit Charly zusammen brachte ich den Mut auf, jeweils nach Schulschluss dieses sonderbare Lokal aufzusuchen. Wir drückten meist vergebens unsere Nasen an den abgedunkelten Schaufenstern platt. Wenn dann gelegentlich die Tür offen stand – und der Tattoomeister uns einmal nicht mit Schimpf und Schande eingedeckt in die Flucht trieb –, erhaschten wir einen kurzen Blick ins Innere des Studios und waren zunächst einmal erstaunt darüber, keinen Vorhof zur Hölle vorgefunden zu haben. Klar, als zartes Jüngelchen ohne jegliche Lebenserfahrung reagierte ich mit gemischten Gefühlen, zwischen kindlicher Neugierde, Ekel und Faszination hin- und hergerissen. Das Gruselkabinett umfasst auch heute noch alles, von Totenschädel (menschlichen und tierischen Ursprungs) über weiteres Anschauungsmaterial, Fachliteratur, Zeichnungen, Fotos sowie – besonders beeindruckend – diverse Airbrush-Darstellungen von HR Gigers Biomechanoiden, die die Wände des Studios zieren.

Das waren die ersten Kontakte mit den Schöpfungen dieses eigenwilligen Künstlers. Natürlich kannte ich „Alien“, obwohl mir meine Mutter untersagte, diesen Film anzuschauen. Ich sei noch zu jung, begründete sie. Okay, damals war ich zwölf. Aber wie bereits erwähnt, halfen mir Charly und sein Computer weiter. Damit war meine Neugierde kaum mehr zu bändigen. Schnell konnten mich die Bilder aus dem Internet nicht mehr befriedigen, weshalb ich mich entschloss, mein Glück in der Stadtbücherei zu suchen, und prompt auch fündig wurde. Von einem schweren Bildband mit großformatigen Fotos fühlte ich mich besonders angesprochen. Sehr zum Erstaunen der Büchereileiterin musste ich das Werk sicher ein halbes Dutzend Mal ausleihen, bis ich es durchgearbeitet hatte. Aber so konnte ich wenigstens die horrenden Kosten für die Neubeschaffung eines solchen Buches umgehen.

Gigers Bilder habe ich sprichwörtlich in mich hineingefressen. Seine gynäkologischen Landschaften versetzten mich in fremde extraterrestrische Welten, besser als es jeder Science-Fiction-Film geschafft hätte. Besonders angetan war ich von seinen albtraumhaften larvalen Kreaturen, die mich in meiner Kindheit tatsächlich gelegentlich in meinen Träumen – und ich hatte damals öfters höchst bizarre Träume – heimsuchten.

Erst viel später begann ich den Sinn und die Botschaft dieser Darstellungen zu verstehen. So entdeckte ich zum Beispiel in unserem Garten eine potthässliche Raupe, die sich über Opas Salatköpfe hermachte. Anstatt sie zu vernichten, bewahrte ich sie, zusammen mit etwas Grünzeug, in einem leeren Einmachglas auf und präsentierte sie Charly, wo wir uns ausgiebig über Sinn und Zweck von Metamorphosen unterhielten.

„Stell dir einmal vor“, begann ich zu philosophieren, „wenn sich dieses hässliche Ding einmal verpuppt und daraus ein wunderschöner Schmetterling entsteht – welch wundervolles Geschöpf müsste dann erst aus dem Menschen hervorgehen, wenn dereinst sein Körper, diese unvollkommene, nackte und anfällige Larve, stirbt und zu Staub zerfällt?“

„Hmm …“, machte Charly und zuckte die Schulter. „Ich weiß nicht. Aber der Gedanke, dass uns im Jenseits vielleicht doch so was wie Flügel wachsen, mit denen wir uns frei im Kosmos bewegen können, hat etwas Faszinierendes.“

„Ja, genau das meine ich! Wir sollen unsere Blicke nach oben richten, denn dort befindet sich das Erhabene, dort ist unsere Zukunft!“

„Meinst du wirklich? Ich sehe nur deine vergilbte Zimmerdecke mit einem verstaubten Lampenschirm darunter.“

Charly grinste mich an und für eine Sekunde reagierte ich verwirrt. Ich war mir nicht ganz im Klaren, ob er nun ein Dorftrottel war oder nur einen spielte und mich absichtlich provozieren wollte.

„Doch nicht so, du Döspaddel! Himmelwärts blicken sollen wir. Ins All hinaus!“

Symbolisch breitete ich meine Arme seitlich aus, wie Flügel. Aber Charly hatte mich auch so verstanden.

„Wir müssen die Erde einfach als Basecamp für unsere interstellaren Kreuzfahrten betrachten. Im Grunde ist der ganze Globus ein einziges Raumfahrtzentrum.“

„Ach, das dauert ja noch Jahrzehnte, bis der Mensch so weit ist“, gab Charly zu bedenken.

„Nein, nicht so! Ich meine ohne Space Shuttle und Raumanzüge. Ich denke, jeder Mensch ist sein eigener Pilot und wir alle werden irgendwann einmal auf der Startrampe stehen und unsere Flügel ausbreiten, wenn für uns der Zeitpunkt gekommen ist.“

„Okay, ich glaub, ich hab’s kapiert!“, sagte Charly, verzichtete jedoch auf eine weitere Stellungnahme.

Ich fühlte mich ihm gegenüber wenigstens intellektuell haushoch überlegen, dafür stellte er mich für die ersten Jahre unserer Freundschaft sportlich und kräftemäßig weit in den Schatten. Hätte ich damals schon geahnt, mit welchen Streichen mir das Leben seine Aufwartung machen würde, wäre ich in philosophischen Dingen wohl etwas zurückhaltender gewesen. Denn so oft ich mich auch mit Giger & Co. beschäftigte, für die nächsten paar Jahre war der Qualm meiner Zigaretten das Einzige von mir, das himmelwärts stieg.

Gelegentlich trafen wir auch auf die Leute, die im Tattoostudio ein- und ausgingen oder sich vor dem Laden eine Zigarettenpause gönnten. Für mich damals alles wilde Kerle, die nur den sprichwörtlichen Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll im Kopf hatten. Mittlerweile weiß ich, dass die Kundschaft mit den feuerspeienden Drachen auf der unbehaarten Brust, den blutigen Totenmasken und den krudesten Dämonenfratzen auf den Oberarmen nicht selten zu den sanftmütigsten und lebensbejahendsten Wesen gehören, die die Götter je zur Erde gesandt haben.

Ach ja, meine Schulzeit: Eine Tragödie in neun Akten. Ich hatte das unwahrscheinliche Glück, in all den Jahren stets solche Typen als Klassenlehrer zu haben, die man ausnahmslos den Sparten nett, unauffällig, belanglos, langweilig hätte zuordnen können. Damen und Herren also, die den Unterricht pflichtbewusst, brav gemäß Lehrplan herunterspulten und dabei jegliche Form von Leidenschaft oder Begeisterung für den uns dargebotenen Schulstoff im Besonderen und für das Lernen im Allgemeinen vermissen ließen. Wohlverstanden, davon ausgenommen sind die Sportlehrer – die bilden noch heute eine eigene Kategorie, und ich meine nicht nur die mit pädophilen Neigungen – nein, auch die Lehrerschaft für die Sonderfächer verdienen, wenigstens teilweise, etwas mehr Respekt für ihre Arbeit. Da war zum Beispiel für das Fach Bildnerisches Gestalten die damals zirka vierzigjährige und alleinstehende Dorothea Scheinfrucht, die wir aufgrund ihres Alters und ihrer Körperfülle salopp, aber keinesfalls geringschätzig unsere Zeichentante nannten. Sie ist eigentlich auch heute noch eine recht attraktive Frau – Nomen ist eben nicht immer Omen! –, von der wir mehr über das Leben erfahren durften als von allen anderen zusammen.

Wen wundert’s, dass ich das meiste Zeug beim Ordnen meiner Festplatte gleich wieder über Bord geworfen und ein für alle Mal im Meer des Vergessens versenkt habe. Ein kleines Detail aus meiner Frühzeit ist mir trotzdem in bester Erinnerung geblieben. Es war in der ersten Klasse. Fach: Deutsche Sprache. Lesen lernen bei Frau Adelheide Neubauer (liiert mit einem Rottweiler Zahntechniker und ebenfalls aus der deutschen Nachbarschaft übergesiedelt, zur Verstärkung des heimischen Lehrkörpers). Wir hatten irgendeine Geschichte gelesen, die mit dem Satz endete: „Mensch sein heißt Kämpfer sein!“ Ich weiß nicht mehr, wovon die Geschichte handelte. Offensichtlich hatte ich damals etwas falsch verstanden, denn ich stellte mir augenblicklich alle Menschen in Militäruniformen vor und ich fragte mich, ob es wirklich notwendig sei, dass alle eine Ausbildung zum Soldaten absolvieren müssen. Leider unterließ es Frau Neubauer, näher auf das Thema einzugehen, was gerade für schwächliche Jungens wie unsereiner sicher von Vorteil gewesen wäre. Doch da schellte bereits die Schulglocke und der Heimweg lockte zu neuen Abenteuern.

Die Lektion war aber noch nicht ganz ausgestanden. Da gab es in unserer Klasse noch diesen Vollpfosten namens Andreas Schöneich, genannt Andy. Ein Typ, der in mancher Hinsicht andersrum geschraubt war. So machte er ab einem gewissen Alter kein Geheimnis mehr daraus, dass er schwul sei. Natürlich war für jede Menge Spott gesorgt, wenn wir gelegentlich mitbekamen, dass er wieder auf der Suche nach hübschen Jungs mit denselben Vorlieben war.

In regelmäßigen Intervallen, das heißt in etwa täglich, wollte er außerdem seine Kräfte messen, und dafür quatschte er jeden erdenklichen Typen an, der ihm über den Weg lief. Er nannte es Friedenskampf und meinte damit Ringen in ungezwungener Atmosphäre. Eine Zeit lang, gehörte ich ebenfalls zu seinen Auserwählten. Er quasselte mich so lange an, bis ich mich blöderweise erweichen ließ und zusagte. Vielleicht wollte er mehr von mir. Vielleicht stand er sogar auf mich. So genau lässt sich das im Nachhinein nicht mehr beurteilen. Wir trafen uns nach Schulschluss auf der großen Spielwiese hinter dem Schulhaus. Ich hatte einerseits natürlich keine Ahnung vom Ringen, andererseits wollte ich ihn nicht einfach mit einem gezielten Kinnhaken k. o. schlagen, denn das wäre meine einzige Option gewesen. Also dauerte der Kampf kaum zwei Minuten, schon lag ich auf dem Rücken, der triumphierende Andy saß rittlings über mir.

Vielleicht hätte uns Frau Neubauer doch noch etwas über das Thema Kämpfen erzählen sollen …

Gefangen im Gezeitenstrom

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