Читать книгу Gefangen im Gezeitenstrom - Robert S. Bolli - Страница 8

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Der Schreibtisch steht direkt unter dem Fenster. Mein Blick schweift über eine kleine Senke mit einem städtischen Schrebergartenareal. Auf der gegenüberliegenden Anhöhe macht sich eine Elite von Neureichen und Zugezogenen mit Luxusappartements und Einfamilienhäusern im Landhausstil breit, deren ökozertifizierte Schwimmteiche allein schon mindestens doppelt so groß sind wie die gesamte Grundfläche unseres Häuschens. Dort drüben wohnt auch ein weiterer Junge unserer Clique, Kai-Uwe Hagen, der vor etwa vier Jahren mit seinen Eltern aus Kassel hierhergezogen ist. Man hatte ihn derselben Schulklasse zugeteilt, die auch Charly und ich besuchten. Und als Neuling mit einem ausgeprägten nordhessischen Dialekt genoss er zunächst ebenso wie auch wir den Status eines Außenseiters.

Wenn ich Opas altes Fernglas nehme, kann ich ihn erkennen, wenn er zum Beispiel auf der Dachterrasse ihrer Attikawohnung steht. Gelegentlich winkt er dann zu mir herüber und ich winke zurück.

Mein Zimmer befindet sich im Obergeschoss eines dieser kleinen, aber eigentlich ganz hübschen Häuschen, die zur Eisenbahner-Genossenschaftssiedlung gehören, welche so etwa in den Vierziger- oder Fünfzigerjahren am Stadtrand errichtet wurden. Es sind einfache, vorwiegend aus Holz gebaute Häuser. Nur die Untergeschosse sind gemauert. Jedes Haus trägt dieselbe Fassadenverkleidung, die aus cremefarbenen Eternitschindeln besteht. Dafür variieren die Anstriche der Fensterläden von tannengrün bis dunkelbraun. Je nach Budget und Fantasie der Bewohner sind auch die kleinen Gärten gehalten: Meist dominieren Gemüsebeete und Beerensträucher, aber auch einfache Kiesflächen mit urtümlichen Wäscheleinen sowie üppig blühende Blumenrabatten lassen sich in unserem Quartier finden.

Peter Ambühl, mein Großvater, war bis kurz vor seinem Abgang Fahrdienstleiter bei den Bundesbahnen. Besuchern zeigt er jeweils gerne und mit Stolz seine schwarze Uniform und besonders seine Mütze mit dem Emblem der Gesellschaft und den weißen Streifen, die ihn im Rang eines Bahnhofsvorstandes bestätigten. Er hatte in sämtlichen Stationen an der Hauptstrecke nach Zürich gedient, oftmals auch als Ablöser, und später, im Laufe der Umstrukturierungsmaßnahmen, als die SBB in eine Aktiengesellschaft überführt und immer weitere Strecken automatisiert beziehungsweise Stationen auf Fernsteuerung umgestellt und Fahrkartenschalter durch Ticketautomaten ersetzt wurden, rückte auch Peters Arbeitsbereich in greifbare Nähe. Ganz zuletzt wurde ihm noch ein Posten in der Einnehmerei im Bahnhof unserer Stadt angeboten. Aber diesen Job verrichtete er nur noch ein knappes Jahr lang, dann begab er sich, mit einem ärztlichen Attest in der Hand, in Frührente. Das geschah kurz nach einem leichten, aber doch deutliche Zeichen setzenden Herzanfall. Und diesem ging der schmerzvolle Verlust seiner geliebten Hannelore – meiner Oma – voraus, die von einem unheilbaren Krebsleiden befallen wurde. Damit begann der langsame und unerbittliche Zerfall von Peter Ambühl. Anstatt sich noch einmal aufzuraffen, sich eine vernünftige Freizeitbeschäftigung anzueignen, zum Beispiel Reisen oder Wandern, was für die körperliche und geistige Fitness von Vorteil gewesen wäre, vielleicht Tontaubenschießen oder doch wenigstens Briefmarkensammeln, liegt er nur noch auf dem Diwan herum, sitzt stundenlang vor der Glotze oder unterhält sich mit Hörfunksendungen auf SRF 1, was immerhin seine Fantasie ein wenig ankurbeln mag.

Doch einem bescheidenen Hobby ist Peter zeitlebens treu geblieben. Er ist leidenschaftlicher Pfeifenraucher – sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die Opa zum Rauchen erbarmungslos vors Haus schickt. Sie findet, so ein Buschfeuer, wie sie das Pfeifenrauchen abschätzig nennt, gehört nicht in den Wohnbereich. Für ihren Zigarettenkonsum erlässt sie großzügige Ausnahmen. In den warmen Sommermonaten ist das für ihn kein Problem. Dann geht er in den Garten und setzt sich auf die alte, ursprünglich rot lackierte, nun aber verwitterte Sitzbank. Sobald die Tage jedoch kälter werden, drängt es ihn, im Haus zu bleiben. Meine Mum quittiert es mit diskreditierenden Blicken und oft deckt sie Opa mit einem Wortschwall auserlesener Flüche und weiteren Obszönitäten ein. Opa wiederum grunzt und schnaubt, murmelt etwas wie „Dumme Kuh!“ und trollt sich mit seiner geliebten Pfeife ins Bad. In der Kommode, die in der kleinen Stube steht, hortet er eine bescheidene Sammlung dänischer und holländischer Tabakpfeifen, deren Formenvielfalt mich schon als Kind stets fasziniert hat. Damals hat er mir auch gezeigt, wie man die Pfeifen korrekt stopft. Er verwendet bis heute unter anderem diese fein geschnittenen, parfümierten holländischen Tabake, die ich wegen ihres süßlichen Aromas besonders mag.

Vor ein paar Jahren habe ich, zusammen mit Charly, unseren Einstand als frischgebackene Teenager gefeiert, indem ich eine von Opas Pfeifen und eine Dose Tabak aus der Schublade klaute und Charly seinen Beitrag in Form eines kleinen, weißen Leinenbeutels leistete, mit etwas Getrocknetem darin, das er Mariejohanna oder so ähnlich nannte. Dass es sich tatsächlich um Marihuana handelte, das er seinem Alten abgeluchst hatte, erfuhr ich erst später. Jedenfalls sind wir eines Abends bei Wind und Wetter losgezogen. In einem alten Bushäuschen einer aufgehobenen Linie haben wir es uns gemütlich gemacht, so gut es ging. Wir haben alles ausprobiert. Zuerst nur Tabak, dann nur Gras, dann gemischt. Dazu tranken wir geklautes Dosenbier. Anschließend mussten wir zwar kotzen, aber – und das war das Wichtigste – danach fühlten wir uns großartig. In dieser Nacht waren wir unsterblich! Trotzdem haben wir beide die Sache mit der Pfeife schon bald aufgegeben. Das Herumschleppen aller Raucherutensilien schien uns doch zu aufwändig. Außerdem stieß etwas später noch Kai-Uwe zu unserer Clique, der seinen Einstand in derselben mit einer Shishaparty in der Attikawohnung feierte, mit einer reich verzierten Wasserpfeife, die er Ali, dem der Dönerladen beim Bahnhof gehört, für etwas mehr als ein Taschengeld abgerungen hatte.

Opas dürftige Beschäftigungen können in keiner Weise verhindern, dass er langsam, aber stetig in ein schwarzes Loch tiefster Depressionen fällt, aus dem er nie mehr herausfinden wird. Mit zunehmendem Medikamentenkonsum muss sich offenbar auch sein Verstand allmählich verabschiedet haben. Seit etwa zwei Jahren spricht er des Öfteren mit Oma. Und wenn gelegentlich ein Hauch von Bewusstsein die Schleier durchdringt, die seinen Geist umnebeln, setzt er weiterhin unerbittlich seine Monologe mit sich selbst fort. Vielleicht ist das auch ganz okay. So kann er wenigstens den grauen Alltag und seine triste Einsamkeit mit etwas Farbe überpinseln. Das ist jedenfalls meine Meinung. Kosmetik ist allemal besser als gar nichts. Denn Peter hat keine Freunde mehr. Alle haben sich rar gemacht, wollen nichts mit einem psychisch Kranken zu tun haben. Eigentlich hat er nur noch Gertrud, so heißt meine Mutter, und mich und seine Erinnerungen. Gespeicherte Essenzen. Konzentrat eines gelebten Lebens, und doch nur verblassende Gedanken, verebbende Wellen, verflüchtigend wie Parfüm auf spröder Haut.

Klar bekommt er vom Unternehmen eine für seine Verhältnisse recht ansehnliche Rente, jedoch weder die Erinnerungen noch sein Stolz können verhindern, ja, können in keiner Weise die Tatsache überspielen, dass er ein Opfer der Sparmaßnahmen ist. Gesundschrumpfen nennt man das in Fachkreisen. Es gebe keine Entlassungen, hieß es damals aus der Direktionsetage. Man wolle die wirtschaftlichen Ziele durch natürliche Abgänge erreichen. In Wahrheit wurden die Arbeitsbedingungen derart unattraktiv gestaltet, dass so mancher freiwillig und vorzeitig das Handtuch schmiss. Ich nenne das aus dem Betrieb wegamputiert, als gelte es, angeblich gesundes Fleisch vor dem Verfaulen zu bewahren.

Das einzig Richtige, was mein Opa noch vor seinem Fall in die Dunkelheit getan hat – also noch zu Lebzeiten von Hannelore – war der günstige Erwerb der Liegenschaft, um sich und der Familie so die Existenz oder wenigstens die Grundlage dazu zu sichern.

Kurz nach dem Tod von Hannelore packte Gertrud, seine einzige Tochter, die Gelegenheit beim Schopf und zog ins Haus ein. In der linken Hand einen großen Koffer schleppend, mit der rechten einen Kinderwagen schiebend. Der Koffer enthielt ihre Klamotten und ein paar Habseligkeiten, der Typ in der Karre war ich. Für meine Mum – wie ich Mutter seit einem Jahr nun nenne – war der Umzug zu Opa damals sicher die einfachste Lösung, aber für sie auch die schlechteste.

Eigentlich wäre sie eine blitzgescheite Frau. Ja, sie wäre intelligent genug gewesen, die Matur zu schaffen. Sie hätte alle Möglichkeiten gehabt, zu studieren – Sprachen, Medizin, Reisen, die Welt zu entdecken und vielleicht im fernen Afrika in irgendeinem Buschkrankenhaus als Krankenschwester zu dienen. Vielleicht einmal eine eigene Praxis, eine eigene Pflegestation zu gründen, damit auch die verarmte Bevölkerung auf dem Lande eine medizinische Grundversorgung erhalten würde.

Gewiss hätte sie einen tollen Kerl heiraten können. Einen von der Uni. Einen Akademiker. Vielleicht einen Arzt oder einen Juristen. Eventuell einen Archäologen. Jedenfalls so einen gescheiten Typen, mit dem sie auch Abenteuer hätte bestreiten können. Einen, der ihre Interessen wahrgenommen hätte. Einen, der sie auf ihren Reisen um den Globus begleitet hätte; und ins Theater oder ein Konzert. Einen, mit dem sie auch einmal hätte zanken können. Einen, der auf den Tisch gepoltert und deutlich seine Meinung gesagt hätte. Aber auch einen, der hätte scherzen können; und der sie zärtlich in die Arme genommen, liebkost, geküsst und geliebt hätte.

Stattdessen beging sie den größten Fehler ihres Lebens und band sich an diesen widerlich schleimigen Typen, einen Versicherungsagenten, dessen Namen ich nie, trotz all der Jahre ohne ihn, vollständig aus meinem Gedächtnis werde tilgen können, mit dem sie kurz nach der Trauung, in einem Anfall von jugendlicher Naivität, mich gezeugt hatte. Manche mögen es Unfall nennen. Ich betrachte die ganze Beziehung, so kurz sie auch dauerte, nicht nur als unglücklich, in Tat und Wahrheit war sie die reine Katastrophe.

Ein paar Monate später – ich glaube, ich war damals etwa ein halbes Jahr alt – angelte sich Alex, so nennt jedenfalls meine Mum diesen ekligen Speichellecker noch heute, wenn sie von ihm spricht, eine Geliebte, mit der er auch öfters verkehrte, bis die Affäre ans Licht kam. Die junge Gumsel gab Alex den Übernamen Lexus. Ich weiß nicht, ob das ein Hinweis auf die viele Kohle war, die ihr Lover bei der Agentur gewiss machte, die noblen Geschenke, mit denen er sie regelmäßig beehrte, oder doch eher symbolisch gedacht war, für die edle Schale mit der harten Stoßstange. So oder so, als ich den Spitznamen zum ersten Mal bewusst wahrnahm, sank der Sympathiegrad für meinen Samenspender blitzartig unter den Gefrierpunkt.

Mum und Alex trennten sich erst probehalber, dann vorübergehend, letztlich definitiv. Mein Erzeuger festigte seinen üblen Charakter, indem er sich für das Vergnügen entschied und Mum und mich aus der Wohnung hinauswarf. Die amtliche Scheidung besiegelte dann nur noch das Ende eines miesen Schaustücks.

Das war der Augenblick, in dem sie zu rauchen und zu trinken begann. Nicht besonders viel, aber immer öfter.

Kurz darauf folgte die Einladung von Peter, zu ihm ins halb leer stehende Eisenbahnerhäuschen zu ziehen. Und sie beging den zweiten großen Fehler ihres Lebens.

Gertrud ließ sich dazu herab, den ganzen Haushalt und Peters Betreuung zu übernehmen. Für ein bis zwei, allerhöchstens für drei Jahre, stellte sie sich damals wahrscheinlich vor. Und bestimmt nicht unentgeltlich. Ein bisschen mehr als nur Taschengeld müsste schon drin sein. Aber mittlerweile ist aus dem einst rüstigen Frührentner ein alter gebrechlicher Mann geworden, der vorzeitig an Demenz erkrankt ist und dennoch überhaupt nicht ans Abtreten denkt. Und sie begann sich mit ihrem Dasein als Haushälterin und Hobbypflegerin abzufinden. Ja, sie fühlt sich wohl in ihrer Rolle. Sie wird gebraucht. Sie blüht regelrecht auf, in ihrer für sie eigenen Art. Nun ist sie es, die allen, erfüllt mit Stolz, ihren Alltag schildert. Sie erzählt jedem von ihren körperlichen Strapazen und dem bürokratischen Aufwand, die ihr neuer Job so mit sich bringt.

Gelegentlich half Peter beim Unterhalt des kleinen Gartens, der das Haus umgibt, noch mit. In früheren Jahren pflegte er zusammen mit Hannelore einen recht ansehnlichen Gemüse- und Blumengarten, der zu seinen besten Zeiten in der ganzen Nachbarschaft für helle Begeisterung sorgte. Peter erledigte die Grobarbeiten, wie den Boden umgraben, Kartoffeln anbauen, Sträucher schneiden und vieles mehr. Hannelore und die damals noch kindliche Gertrud hingegen waren für die Blumenrabatten und weitere Feinarbeiten zuständig. Das Jahr begann jeweils mit Blaukissen, Steinkraut und vielerlei Zwiebelgewächsen. Dann blühten gelbe Rudbeckien und lila Phlox um die Wette und schließlich endete das Gartenjahr mit dem Abblühen der blauen Herbstastern und der gelb-rot-bunten Herbstbelaubung eines stattlichen japanischen Fächerahorns.

Nach Hannelores Tod und nachdem sich auch Peter vom Gärtnern verabschiedet hatte, übernahm Mum ihre Parts ebenfalls. Aber es war innert Kürze absehbar, dass ihr die Belastung allmählich über den Kopf wuchs. So klafften in den Blumenrabatten immer größere hässliche Lücken und in den Gemüsebeeten begann das Unkraut zu sprießen.

Und ich? Ich hielt mich stets aus diesem Zirkus heraus, denn für mich war das Ganze eine einzige inszenierte Show, die nur dazu diente, unseren Nachbarn, unseren Gästen und den Passanten vorzutäuschen, dass in unserem schnuckeligen Häuschen mit der biederen Fassade nur bodenständige, konservative und selbstverständlich glückliche Menschen leben. Was für ein gigantischer Selbstbetrug. Eine Verlogenheit, die an Groteskem kaum zu übertreffen war. Für mich bestand das einzige Glück darin, dass alle beide darauf verzichteten, Gartenzwerge und sonstigen Zierramsch aufzustellen.

Schließlich war es meine Mum, die den Garten gänzlich verwildern ließ und dafür in einem dieser Fitnessstudios für gelangweilte Hausfrauen ein Jahresabo löste. Als sich die Nachbarn wegen der Wildnis und des sich aussamenden Unkrauts beschwerten, suchte sie per Zeitungsinserat einen möglichst billigen, in Rente stehenden Gärtner für den Gartenunterhalt. Es meldete sich ein junger Arbeitsloser, der willig genug war, mit der Wildnis aufzuräumen, jedoch etwas mehr verlangte als die Rentner. Mum ließ sich durch nichts beirren, drückte den verlangten Tarif auf Rentnerniveau und versprach dem verdutzten Mann, den Rest in Naturalien auszuzahlen, wobei sie ihre Bluse aufknöpfte und ihm ihre Reizwäsche zeigte. Das genügte für einen mündlichen Vertragsabschluss. Jeweils nach verrichteter Gartenarbeit bietet sie dem Gärtner unsere Dusche an, worauf sie gleich mit ihm hinter dem Vorhang verschwindet. Zugegeben: Irgendwie war es schon ätzend, als ich zum ersten Mal meine Mum – diesmal auf dem Küchentisch – beim Herumpoppen mit einem jungen Kerl ertappte, der kaum mehr Bartstoppeln als ich vorzuweisen hatte. Na ja, mir blieb sowieso nichts anderes übrig, als mich daran zu gewöhnen.

Manchmal fahren beide anschließend in seinem klapprigen VW-Pickup davon. Zu Hause sagt sie dann, sie gehe noch schnell was einkaufen. Tatsächlich dauern ihre Einkäufe nicht selten bis zwei Uhr morgens oder es wird noch später. Manchmal kommt sie auch erst im Laufe des Vormittags nach Hause. Dann wird Opa richtig grantig, weil niemand da ist, der ihm die Frühstückseier kocht und Kaffee macht. In solchen Momenten dreht er völlig durch, beschimpft Mum als geile Nutte, die sich gefälligst um den Haushalt zu kümmern habe, und nennt mich fauler Hurensohn, obwohl er eigentlich wissen müsste, dass ich mich längst auf dem Bau abrackere, wenn er sich endlich dazu bequemt, seinen eigenen Arsch von der Matratze zu hieven. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mit einem guten Teil meines Stiftenlohns herhalten muss, das Haushaltsbudget zu optimieren.

Das sind diese Situationen, in denen ich mich beherrschen muss, Opa keine zu schmieren. Manchmal versuche ich, mit Mum darüber zu sprechen. Ich habe ihr schon öfters vorgeschlagen, dass es besser wäre, ihn für ein Altersheim anzumelden. Sie jedoch wimmelt jedes Mal ab. Entweder weil sie davon nichts wissen will oder weil es ihrer Ansicht nach noch zu früh ist. Dieses Verhalten wiederum macht mich wütend. Nicht wegen Opa – der ist im Grunde ein kranker und darum bedauernswerter Kerl –, nein, meine Mum, mit ihrem uneinsichtigen Verhalten, treibt mich zur Weißglut. Dann würde ich am liebsten abhauen. Aber irgendetwas hält mich zurück und ich weiß beim besten Willen nicht, ob es wirklich nur Vernunft ist. Stattdessen verlasse ich fluchtartig unser Haus, gehe zu Charly, meinem besten Kumpel, zum Krafttraining oder wir gehen, wenn sein Dienstplan es zulässt, in Miller’s Hafenkneipe etwas trinken.

Eigentlich war Peter ein frommer, gottesfürchtiger Mann, der sonntags regelmäßig die Gottesdienste in der Quartierkirche besuchte und großen Wert darauf legte, dass seine Familie ihn ohne Widerspruch dahin begleitet. Früher, als ich klein war, spielte ich dieses Spiel widerspruchslos mit. Dann kam die Sache mit dem Religionsunterricht und der Vorbereitung zur Konfirmation.

Es war einer dieser legendären Abende im Pfarrhaus. Unsere Klasse bestand damals aus etwa fünfzehn Jungen und Mädchen. Pfarrer Lautenschlager laberte uns eine satte Stunde lang mit so einer fünftausendjährigen Geschichte aus dem alten Testament die Gesichter zu. Irgendwas, das nun wirklich niemanden in der heutigen Zeit interessiert.

Nach einem langen und strengen Schultag kämpften wir Jungs mehr oder weniger erfolglos gegen den Schlaf. Ich hielt meine Augen einigermaßen wach, indem ich die Mädchen beobachtete, ihre Rundungen, ihre Oberweiten; und ich versuchte mir vorzustellen, wie ihre Brüste wohl aussahen, wenn sie keine Blusen oder Pullover getragen hätten. Von einem dieser Mädchen war ich ganz besonders angetan. Sie hieß Conny Ritter und war unglaublich schön. Hellbraune, schulterlange Haare, schlanke Beine, ein Teint, der stets Ferienbräune zeigte, und zwei pralle Dinger, die zum Zupacken animierten. Mit der Zeit starrte ich nur noch sie an und ich glaube, ich hätte mich beinahe in sie verliebt, wenn sie sich nicht so zickig benommen hätte. Eines Abends kam sie auf mich zu und sagte mir direkt und ohne Umschweife, ich solle gefälligst die Glotzerei unterlassen. Ich sähe zwar auch ganz nett aus, aber sie bevorzuge Jungs aus den oberen Gesellschaftskreisen. Später angelte sie sich dann tatsächlich einen dieser smarten Pinkel, den sie beim Reiten kennengelernt hatte. Einen gewissen Gustav Oderbolz, ein pikfeiner, aber schon in Jugendjahren recht arroganter Typ aus einer steinreichen Industriellenfamilie, der die strohblonden Haare stets gescheitelt und angegelt hatte, eine dieser unmöglichen Hornbrillen mit zentimeterdicken Gläsern trug und bei jeder Gelegenheit nach Balma Kleie roch, sogar dann, wenn er mit seiner Entourage unterwegs in den Ausgang war. Tja, so ist das Leben. Eigentlich liebe ich solche Frauen wie Conny, denn man weiß immer sofort, woran man ist und wie die Chancen stehen. Obwohl, wenn ich mir das so recht überlege, finde ich, dann hätte sie mir doch ruhig auch mal einen blasen dürfen. Ich meine, von wegen nett aussehen oder so.

Und dann kam eben dieser Abend, an dem uns Lautenschlager mit dieser Bibelgeschichte bekackeierte und uns aufforderte, diese Typen, die darin vorkamen, als Vorbilder zu nehmen. Da stand ich auf, nahm meine Bibel und warf sie dem verdutzten Pfarrer vor die Füße. Zur allgemeinen Belustigung der Klasse begann ich einen Monolog, in dem ich ihm den ganzen Bullshit dieser Veranstaltung unter die Nase rieb, ihn fragte, ob er sich vorstellen könne, wie sich das anfühlt, wenn einem bewusst wird, dass der leibliche Vater schon kurz nach der Geburt mit einer jungen, aus Osteuropa stammenden Zwetschge abgehauen ist, und wenn man gezwungen wird, bei einem senilen und demenzkranken Opa und einer mit jungen Handwerkern herumhurenden Mutter aufzuwachsen. Denn damals bezeichnete ich eben meine Mum so: Am Herd eine Schlampe, im Bett eine Hure. Vielleicht hätte ich mich dafür schämen müssen. Aber diesen Abend genoss ich. Die Klasse war augenblicklich in hellem Aufruhr, johlte und spendete Beifall.

Okay, Lautenschlager sah mich extrem vorwurfsvoll und irgendwie konsterniert an und brabbelte etwas wie, sie sei bitte schön immer noch meine Mutter. Da habe ich die Schultern gezuckt und gesagt, wenn das sein letztes Wort gewesen sei, dann hätten wir uns nichts mehr zu sagen. Ich machte auf den Absätzen rechtsumkehrt und verließ diesen seltsamen Bibelclub für immer.

Jeden Mittwochabend, Woche für Woche der gleiche Bockmist: Da pendelt der Pfarrer zwischen Schreibtisch und Flipchart hin und her, erzählt biblische Geschichten von einflussreichen Kamelzüchtern, Kaufleuten oder angesehenen Hohepriestern und Schriftgelehrten. Erwähnt alttestamentarische Familien mit gebildeten frommen Söhnen und schicken, toll aussehenden Töchtern, und ködert uns damit, auch uns stünden alle diese Möglichkeiten offen, sofern wir bereit wären, uns dem richtigen Gottesglauben hinzugeben und den weltlichen Sünden zu entsagen.

Dann wieder schweift er ab und landet bei der wahren Christusliebe. Quasselt von armen, nackten, geschundenen Leuten und erklärt, dass auch sie Trost finden würden, sofern sie den richtigen Glauben annähmen und bereit seien, Christus zu folgen. Das ist doch sehr beruhigend.

Trotzdem bin ich der Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, weil er nicht einfach eine andere Rasse von Schafen haben wollte, sondern eben Menschen. Eigenständig denkende und handelnde Wesen. Vor Jahren habe ich am Gebälk einer alten Jagdhütte einen eingekerbten Sinnspruch entdeckt, der mich seither immer wieder zum Nachdenken anregt. Er lautet ganz einfach:

„Menschen sind, damit sie Freude am Leben haben.“

Wenn also Gott den Menschen erschaffen und mit der Gabe der Selbstbestimmung über sein Leben ausgestattet hat, dann hätte er auch voraussehen müssen, dass die Wege, die die Menschen einschlagen, ebenso zahlreich wie die Charaktere sind, die er kreiert hat. Ja, Gott hätte wissen müssen, dass es Menschen gibt, die Dinge kritisch hinterfragen und manchmal Wege beschreiten, die für andere nicht nachvollziehbar sind. Menschen sind darum Menschen, weil sie oftmals Dinge tun, für die das Prädikat Vernunft nie zutreffen wird, aber dennoch zum Erreichen eines persönlichen Zieles von Vorteil sind. So betrachtet erscheint es als völlig normal, alles für vernünftig zu erklären, was wir begehren. Die Sache mit der Entscheidungsfreiheit ist auch immer mit der Frage des persönlichen Standpunktes verbunden. Im Grunde ist es das Gleiche, ob ich meinen Ehepartner mit einem Seitensprung betrüge oder ob ich den roten Knopf drücke und so einen nuklearen Genozid auslöse. Grundmotiv kann in solchen Fällen nie Vernunft sein, sondern einzig und allein die Aussicht auf persönlichen Gewinn. Das allein erklärt die Frage, warum Milliarden für die Aufrüstung der Armeen ausgegeben, aber kaum Gelder zur Bekämpfung des Hungers in der Welt zur Verfügung gestellt werden. Wie wir mit solchen Missständen umgehen, liegt ebenfalls in der Natur des Menschen. Es ist jedem einzelnen gegeben, damit glücklich zu leben oder daran zu zerbrechen. Vielleicht liegt es auch in unseren Genen – oder es ist eine Eigenschaft unseres Charakters, für welche Wege wir uns entscheiden, unser Seelenheil zu erlangen. Auch daran hätte Gott denken müssen.

Dennoch habe ich dem Pfarrer die Bibel hingeschmissen und gesagt, dass ich mich in keiner Weise einer dieser Volksgruppen weder verpflichtet noch sonst wie angehörig fühle. Nur, dass ich mit dem Pech gesegnet bin, Teil einer sogenannten Familie zu sein, wo Begriffe wie Treue, Gemeinsamkeit, Fürsorge, Geborgenheit, aber auch Kreativität, Begeisterung, Zuneigung, Lust, Liebe, Ekstase nicht nur Fremdworte sind – nein, solche Dinge sind bei uns schlicht inexistent!

In diesem Milieu also, zwischen bürgerlich-religiösem Mief und anrüchigem nachpubertärem Rebellentum, bin ich aufgewachsen. Und diese Verhältnisse widern mich noch heute an. Es ist zum Kotzen. Eines Tages wird diese Atmosphäre in blanken Hass umschlagen, wenn sich nicht bald etwas ändert. Nicht meine Alten mit ihren eigenwilligen, oft bizarren Lebensstilen hasse ich – nein, vielmehr hasse ich dieses verkappte System Familie. Für mich ist sie lediglich ein Apparat, dafür vorgesehen, jegliche Gefühle im Keim zu ersticken.

Eigentlich hätte ich unter diesen Bedingungen alle Freiheiten der Welt haben können, jedoch habe ich sie wie Treibholz im Fluss ungenutzt davonziehen lassen. Vermutlich bin ich einfach ein wenig zu scheu und habe es eben nie richtig gelernt, in gewissen Situationen nicht nur selbstsicher, sondern richtig forsch aufzutreten. Eigentlich hätte ich längst abhauen müssen. Aber ich weiß nicht so richtig wie und wohin. Letztlich kenne ich niemanden außerhalb der Stadt.

Erschwerend kommt dazu, dass ich als Kind, aufgrund meiner dürren, schon fast kränklich wirkenden Gestalt, nahezu pausenlos gepiesackt wurde, entweder von den Mitschülern, weil ich in deren Augen einer war, der zu nichts taugt, schon gar nicht zu sportlichen Anlässen, oder dann von den Lehrern, die in mir nur einen schüchternen und dummen Jungen sahen, bei dem sowieso Hopfen und Malz verloren schien.

Mit anderen Worten: Ich war damals auf dem besten Weg, ein völliger Versager, ein Verlierer zu werden, der später einmal zu nichts zu gebrauchen wäre und der Leistungsgesellschaft nur im Weg herumstünde.

Gefangen im Gezeitenstrom

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