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V.
Berlin. September 1862 bis November 1863.

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Reinfeld, 21. Juni 1862.

… „Aus Paris bekomme ich oft liebe und Gott sei Dank gute Gesundheits-Briefe, nur stets in Angst um Berliner Telegramme, die Wilhelmstraßen-Gefängniß bringen könnten. Bismarck hat 14 Tage in Berlin auf Entscheidung gewartet, ist dann ärgerlich geworden, worauf man ihn schleunigst nach Paris ernannte, aber gleich dabei sagte, unter Umständen wäre wohl eine baldige Zurückberufung möglich. …“

3. Juli.

… „Von Bismarck hatte ich eben einen lieben Brief – gottlob gesund, aber unsicher wie immer. Heute sollte er in Fontainebleau bei Louis speisen und parforcejagen.“ …

9. August.

… „Von Bismarck kommen die liebsten Briefe – ganz berauscht von den wundervollen Gegenden, die er am Atlantischen Ocean wie in den schönen Pyrenäen täglich durchwandert. St. Sebastian scheint ihm bis jetzt den überwältigendsten Eindruck gemacht zu haben, aber er war auch sehr entzückt von verschiedenen französischen Schlössern (Chambord und Chenonceaux), von Bordeaux und Biarrits; er ist gottlob recht wohl und noch nicht entschieden, wie lange und wo er eigentlich bleiben will; vierzehn Tage hat er von seinen 6 Wochen Urlaub schon verreist und das Heimweh plagt ihn trotz aller himmlischen Naturgenüsse so sehr, daß er die Badekur in Biarrits, die er sich vorgenommen, wohl ziemlich kurz einrichten wird.“ …

Reinfeld, den 7. September.

… „In diesem Monat soll sich viel entscheiden. Bismarcks letzter Brief (vom 30ten aus Biarrits) war fast wehmüthig über die baldige Trennung von dem reizenden Meer, den liebenswürdigen Russen und der schönen Bummelzeit, die er mit ihnen vier Wochen dort vollführt – er ist ganz hingerissen von Kathi Orlow (Frau des russischen Gesandten in Brüssel), die ihm täglich alle Beethovens, Schuberts, Mendelssohns u. s. w. vorspielt; und wenn ich Anlage zu Neid und Eifersucht hätte, könnte ich mich jetzt wahrscheinlich bis in tiefste Abgründe von diesen Leidenschaften tyrannisieren lassen. In meiner Seele ist aber gar kein Stoff dazu vorhanden, ich freue mich nur immerzu ganz ungeheuer, daß mein lieber Gemahl die reizende Frau dort gefunden, ohne deren Gesellschaft er nimmer so lange Ruhe auf einem Fleck gehabt hätte und dann nicht so gesund geworden wäre, wie er’s in jedem Briefe rühmt. Das biskaische Meerwasser und die südfranzösische Luft haben ihm wundervoll wohlgethan – Gott sei tausend Dank dafür.“ …

24. September.

… „Unser Schicksal wird sich in diesen Tagen entscheiden, ist vielleicht schon geschehen, da Bismarck nach seiner Rückkehr von Meer und Gebirgsfreuden mit zwei telegraphischen Depeschen eilends nach Berlin gerufen wurde, von wo er mir schon freundlichst und gesund, aber sehr mißgestimmt geschrieben, weil er wieder große Uneinigkeit in allen Regionen gefunden und tobend fürchtet, um nichts und wieder nichts festgehalten zu werden und am Ende ganz dort hängen zu bleiben, was ihm einen gleichen Schauder gibt wie mir. Gott mög’s fügen, wie es heilsam für uns ist – man hat nach all’ der langen Bummelei gar keinen Willen mehr, und ich flehe nur dringend, daß es gut werde für Bismarck und die Kinder – ich bin wirklich sehr Nebensache und stets zufrieden, wo die vier glücklich und gesund sind. Das weiß Gott!“ …

Am 23. September erfolgte die Berufung Bismarcks zur Leitung des Staatsministeriums.

* * *

Um die Aufgabe verständlich zu machen, vor welche er damals gestellt wurde, muß ich kurz erzählen, wie aus der Heeresreform der Verfassungskonflikt erwachsen war.

Nach den grundlegenden Gesetzen von 1814 und 1815 war in Preußen jeder gesunde Mann vom 20. bis zum 50. Lebensjahre wehrpflichtig, und zwar 3 Jahre im stehenden Heere, 2 Jahre in der Reserve; dann in der Landwehr und im Landsturm. Die Landwehrdienstpflicht endete im ersten Aufgebot mit dem 32., im zweiten mit dem 39. Jahre. Die Reservisten hatten jährlich einige Wochen in den Linienregimentern zu üben. Die Landwehrleute ersten Aufgebots wurden der Regel nach nur einmal in 4 Jahren auf 8 Tage einberufen, aber zu besonderen Infanterie- und Kavallerieregimentern formiert, welche mit je einem Linienregimente zusammen eine Brigade in der mobilen Feldarmee zu bilden hatten. Das zweite Aufgebot der Landwehr sollte nur zur Landesverteidigung und zum Festungsdienst, der Landsturm nur in äußersten Notfällen einberufen werden.

Die Stärke des stehenden Heeres und der Landwehr war „nach den jedesmaligen Staatsverhältnissen“ zu bestimmen. Im Kriege sollten bei eintretendem Bedürfnis auch Landwehrleute als Reservisten eingezogen werden.

Die im Jahre 1820 vollendete Organisation des stehenden Heeres gab die Möglichkeit, jährlich 40.000 Rekruten einzustellen. Diese Ziffer war für die damalige Bevölkerung Preußens von etwa 11 Millionen Seelen berechnet; später aber mußten viele wehrfähige junge Leute wegen Mangels an Raum in den Cadres dienstfrei bleiben. Die Zahl derselben war im Jahre 1859, bei einer Bevölkerung von etwa 18 Millionen, auf mehr als 23.000 Köpfe jährlich herangewachsen.

Statt der dreijährigen Dienstzeit wurde lediglich aus Ersparnisrücksichten im Jahre 1833 die zweijährige bei der Infanterie versuchsweise eingeführt; auf Grund der damit gemachten Erfahrungen aber ging man 1852 zur 2 ½-jährigen über und kam 1856 zur dreijährigen Dienstzeit zurück.

Als im Jahre 1859 während des italienischen Krieges 5 Armeekorps mobilgemacht wurden, befanden sich unter den einberufenen Landwehrleuten ersten Aufgebotes 55.277 Familienväter, während Hunderttausende gesunder junger Leute dienstfrei umhergingen.

Der Prinz von Preußen hatte seit Jahrzehnten für die Hauptaufgabe seines Lebens gehalten, die erkannten Mängel der militärischen Einrichtungen zu beseitigen und die Kriegstüchtigkeit des Heeres zu erhöhen. Als Prinzregent befahl er, im Februar 1860, dem Landtage einen Gesetzentwurf vorzulegen, in welchem zwei Grundgedanken hervortraten: vollständige Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht und Ersetzung der Landwehr ersten Aufgebots in der mobilen Feldarmee durch Reservisten.

Zur Aufnahme der bis dahin jährlich dienstfrei gebliebenen über 23.000 Mann als Rekruten war eine bedeutende Vermehrung der Regimenter erforderlich.

Durch Ausdehnung der Reservepflicht von 2 auf 5 Jahre aber gedachte man die Schlagfertigkeit des Heeres zu erhöhen, die Mobilmachungszeit abzukürzen und die älteren Leute zu schonen, welche im ersten Aufgebot der Landwehr zur Hälfte, im zweiten zu 5/6 verheiratet waren.

Es kam auch in Betracht, daß die seit dem Aufhören der „heiligen Allianz“ wesentlich veränderte Lage von Europa militärische Demonstrationen nötig machen konnte, zu welchen die Landwehr heranzuziehen dem Lande Lasten auferlegt haben würde, wie sie bei den Mobilmachungen von 1850 und 1859 wegen der den Kreisbehörden obliegenden Ernährung der Familien einberufener Landwehrmänner als unverhältnismäßig schwer empfunden worden waren.

Zur Ausführung der Heeresreform wurde eine Erhöhung des Militärbudgets um 9 ½ Millionen Thaler jährlich verlangt.

Die von Vincke präsidierte Kommission des damals gemäßigt-liberal und ministeriell gefärbten Abgeordnetenhauses folgte den Ratschlägen des Generalmajors a. D. Stavenhagen, welcher zwar die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht billigte, aber die Erhaltung der Landwehr in der mobilen Feldarmee und Einführung zweijähriger statt der dreijährigen Dienstzeit bei der Infanterie forderte. Man bezeichnete die „durch ruhmvolle Erinnerungen geheiligte“ Institution der Landwehr als den kräftigsten Bestandteil des Heeres und als Bindeglied zwischen dem Volke und dem durch den exklusiven Corpsgeist der größtenteils adligen Offiziere unpopulären stehenden Heere. Wegen der zweijährigen Dienstzeit bezog man sich auf deren langjährige faktische Geltung und auf einige militärische Autoritäten früherer Zeit.

Vergebens kämpfte der Kriegsminister von Roon mit Gründen überlegener Einsicht; die populären Schlagworte „Erhaltung der Landwehr“ und „zweijährige Dienstzeit“, deren sich fast die ganze liberale und demokratische Presse bemächtigt hatte, behielten auch in der Kommission die Oberhand, obwohl es kein Geheimnis war, daß der Prinzregent die dreijährige Dienstzeit zu kriegstüchtiger Ausbildung der Infanterie mit den modernen Waffen für unerläßlich, und daran festzuhalten für Gewissenspflicht hielt.

Infolge der unbeugsamen Haltung der Kommission mußte das Ministerium die Ablehnung des Gesetzentwurfs im Plenum für sehr wahrscheinlich halten und zog denselben im Mai 1860 zurück.

Nun hatte aber die europäische Lage nach dem italienischen Kriege notwendig gemacht, das Heer auf dem Fuße einer gewissen Kriegsbereitschaft zu halten; und daß dies Bedürfnis auch im Jahre 1860 noch fortdauerte, war von den einflußreichsten Abgeordneten mehrfach anerkannt worden. Diese für Bildung neuer Cadres günstigen Zeitverhältnisse sollten nicht unbenutzt bleiben.

Man kam im Mai – leider um fünf Monate zu spät – im Kriegsministerium auf den Gedanken, daß es eines neuen Gesetzes gar nicht bedürfe, um neue Regimenter zu schaffen, und daß dazu nur eine Geldbewilligung erforderlich sei; diese würde durch den im Frühjahr bekannt gewordenen günstigen Finanzabschluß des letzten Jahres erleichtert werden.

Allerdings waren die beabsichtigten Formationen neuer Cadres nach den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen ausführbar; und auf die danach im Frieden nicht zulässige Einberufung der jüngsten Jahrgänge der Landwehr zum Reservistendienste konnte man vorläufig verzichten.

Man verlangte demnach vom Abgeordnetenhause neun Millionen auf 14 Monate zu dem Zwecke „der Aufrechterhaltung und Vervollständigung derjenigen Maßnahmen, welche für die fernere Kriegsbereitschaft und die erhöhte Streitbarkeit des Heeres erforderlich und auf den bisherigen gesetzlichen Grundlagen thunlich“ wären.

An den Kommissionsverhandlungen über diese Vorlage hat Roon persönlich keinen Teil genommen. Er wußte, daß im Dezember 1859 seine Ernennung von der liberalen Partei mit Mißtrauen begrüßt worden war. Es wurde damals erzählt, sein in der Partei beliebter Vorgänger, General von Bonin, habe sich zurückgezogen, weil er einige von ihm gewünschte Einschränkungen des Reorganisationsprojektes wegen Widerspruchs des Generals Freiherrn Edwin von Manteuffel, damaligen Chefs des Militärkabinetts, nicht habe zur Geltung bringen können. Roon war noch nie in der Lage gewesen, eine politische Farbe zu bekennen; aber infolge unbestimmter Gerüchte und weil er alle von seinem Kriegsherrn beabsichtigten Neuerungen zu vertreten unbedenklich übernahm, wurde er als ein „Reaktionär“ angesehen. Die unfreundliche Stimmung der Majorität war ihm in der Kommission fühlbar geworden. Er mochte daher für geraten halten, in die Verhandlungen über den verlangten Kredit nicht einzugreifen und die Vertretung des Ministeriums in der Kommission dem persönlich beliebten Finanzminister Freiherrn Patow zu überlasten. Roon dachte, jedermann würde verstehen, daß es sich um die Mittel für Einrichtung der neuen Cadres handelte, welche zu der allseitig gebilligten stärkeren Rekruteneinstellung erforderlich waren; und er setzte als bekannt voraus, daß – wie er später einmal sagte – „Regimenter nicht von Diätarien kommandiert werden könnten“.

Umgekehrt aber dachten die meisten Abgeordneten, daß nach den heißen Kämpfen um die gesetzlichen Bedingungen der Heeresreform diese nicht ausgeführt werden könne ohne ein neues Gesetz. Sie wurden in ihrem Irrtum dadurch bestärkt, daß Patow in der Kommission erklärte, es handle sich um ein Provisorium, welches den in Betreff der Dienstzeit und der Landwehr geäußerten Wünschen nicht präjudizieren werde. Allerdings blieben diese beiden Fragen offen; aber weder der Ausdruck „Provisorium“ war zutreffend noch die daran geknüpfte Betrachtung, daß, wenn der Landtag später zur definitiven Organisation seine Zustimmung versage, „alles wieder auf den früheren Stand gebracht werden könnte.“

Diese Erklärungen nahm jedoch Vincke als Referent in den Kommissionsbericht auf, und unter starker Betonung ihrer bindenden Kraft empfahl er die Bewilligung des verlangten Kredits.

Im Plenum modifizierte nun zwar – vermutlich auf den Rat des Kriegsministers – Patow seine früheren Aeußerungen dahin: „Die Umgestaltungen im Heerwesen, welche erforderlich wären, um die waffenpflichtigen Mannschaften auch waffenfähig zu machen, würden nur in dem Sinne provisorisch sein, daß zu ihrer definitiven Regelung die Zustimmung des Landtages notwendig wäre.“ Das Haus aber schien keine Notiz von dieser Erklärung zu nehmen. Der anwesende Kriegsminister fand keinen Anlaß, den Worten Patows, welche verständlich auf die zur Ausbildung von 63.000 statt 40.000 Rekruten notwendigen neuen Cadres hinwiesen, etwas hinzuzufügen.

Vincke kam dem Finanzminister augenscheinlich entgegen, indem er sagte, die Bewilligung des Kredits habe keine Gefahr, denn, wenn beispielsweise zehn Kavallerieregimentskommandeure ernannt und ihre Stellen später nicht genehmigt würden, so „kämen sie auf den Aussterbeetat“.

Daß der Berichterstatter der Kommission in diesem Falle nur für seine Person gesprochen hätte, konnte niemand vermuten; die Regierung hatte daher Grund, aus Vinckes Worten zu schließen, daß die Majorität erwartete, es würden viele neue Regimenter formiert werden. Die Minister wurden auch durch die ungewöhnliche Beschleunigung der Verhandlungen, sowie durch vertrauliche Mitteilungen einzelner Abgeordneter in den Glauben versetzt, daß es ihrer im Hause maßgebenden Partei erwünscht wäre, über den in der Heeresreformfrage hervorgetretenen peinlichen Gegensatz schnell und möglichst geräuschlos hinwegzukommen. Man täuschte sich gegenseitig; aus diesen Täuschungen aber erwuchs der verhängnisvolle Konflikt. Man kann sagen, derselbe sei entstanden, weil Minister wie Abgeordnete ihn hervorzurufen scheuten. Nach meiner Auffassung lag jedoch die Hauptursache des Konflikts in Unterlassungen des Ministeriums.

Hätten die leitenden Männer, die Auerswald und Schwerin, die unermeßliche Tragweite der Heeresreform für das Land und für ihre Partei gewürdigt, wären sie mit ganzem Herzen dafür eingetreten, so hätten sie vor Einbringung der Vorlagen Vincke und andere Führer wahrscheinlich dafür zu gewinnen vermocht. Vom Finanzminister Patow, der für die damals beanspruchten jährlich 9 ½ Millionen noch keine sichere Deckung hatte, war das nicht zu verlangen; die anderen populären Minister aber hätten die Sache von langer Hand her einleiten und vielleicht retten können. Stattdessen überließen sie die Vertretung des gewaltigen Projekts dem noch unbekannten, des Konservatismus verdächtigen Roon.

Nachdem nun, wie zu erwarten gewesen, die Kommission Herabsetzung der enormen Ausgabesteigerung verlangt und populäre Schlagworte dafür gestempelt hatte, schien die Sache unrettbar verfahren.

Da begingen die Minister die zweite Unterlassungssünde, nämlich, nicht zu sagen, daß ihre Ansicht über die Notwendigkeit eines neuen Wehrgesetzes sich geändert hatte. Ich möchte jedoch dem nachmals von den Patrioten aller Farben gepriesenen Kriegsminister auch als ein großes historisches Verdienst anrechnen, sein Gewissen mit dieser Reticenz belastet zu haben, da ohne ein solches „Kunststück“ die für den Entscheidungskampf um Deutschland notwendige Heeresreform bei dem damaligen Stande der öffentlichen Meinung wahrscheinlich nicht ausführbar gewesen wäre.

Die neun Millionen wurden fast einstimmig bewilligt. Beim Schlusse der Session dankte die Thronrede hierfür in Worten, welche erwiesen, daß der Prinzregent überzeugt war, der Landtag habe durch diese Bewilligung die Ausführung der geplanten Formationen genehmigen wollen.

Im Sommer und Herbste wurden die Cadres für 36 neue Infanterieregimenter, 9 Füsilierbataillone und 10 Kavallerieregimenter geschaffen, die anderen Truppengattungen angemessen verstärkt, die Offiziere und Unteroffiziere ernannt und die erforderlichen Fahnen und Standarten verliehen.

Da ging durch weite Kreise im Lande der Ruf: „Wir sind betrogen; statt provisorischer Einrichtungen, für welche das Geld bewilligt war, hat man unabänderliche geschaffen. Das wird unerträgliche Steuererhöhungen verursachen.“ Bei zwei Stichwahlen entschieden sich die früher gemäßigt-liberalen Wahlmänner für zwei Führer der äußersten Linken: Waldeck und Schulze-Delitzsch.

Am 2. Januar 1861 wurde König Friedrich Wilhelm IV. von seinen Leiden erlöst; König Wilhelm bestieg den Thron.

Bald darauf gelangte an das neue Abgeordnetenhaus ein Etat; in welchem die durch die neuen Regimenter bedingten Erhöhungen der Militärausgaben erschienen, als wäre alles in Ordnung und ein neues Wehrdienstgesetz überflüssig. Die bezüglichen Verhandlungen verliefen im Abgeordnetenhause merkwürdig ruhig, weil die Majorität den Sturz des Ministeriums herbeizuführen scheute. Nur ein Abgeordneter (Hoverbeck) nannte das Verfahren der Regierung, wenn auch vielleicht legal, so doch „nicht loyal“. Es wurde aber die für die neuen Regimenter im laufenden Jahre erforderliche Summe nur als „einmalige außerordentliche“ Ausgabe bewilligt und ein Antrag Vinckes, die Regierung zur Vorlegung des – zu Einberufung der jüngsten Jahrgänge der Landwehr als Reservisten unerläßlich notwendigen – Wehrdienstgesetzes aufzufordern, einstimmig angenommen.

Im Sommer bildete sich die demokratische sogenannte Fortschrittspartei. Mißtrauen und Haß gegen die Minister verbreitete sich in immer weitere Kreise. „Es mögen gute Leute sein,“ sagte man, „aber sie lassen sich mißbrauchen, die Kastanien aus dem Feuer zu holen für die Junkerpartei, welche sie nach Hause schicken wird, sobald sie diesen Dienst geleistet haben.“ Eine große Zahl der bis dahin ministeriellen Abgeordneten näherte sich der Fortschrittspartei, und diese erfocht bei den im Dezember stattfindenden allgemeinen Wahlen glänzende Siege.

Dem neuen Hause wurde im Januar 1862 ein Etat vorgelegt, in dem die Mehrforderungen für die Heeresreform als ordentliche Ausgaben figurierten, obgleich nicht anzunehmen war, das jetzt überwiegend demokratische Haus würde Ausgaben als fortdauernde genehmigen, die das frühere, gemäßigt-liberale nur als einmalige bewilligt hatte.

Ein kurzer Gesetzentwurf, betreffend Abänderungen einiger Bestimmungen des Kriegsdienstgesetzes, in welchem die Reservedienstzeit auf vier statt fünf Jahre bemessen und die Landwehrdienstzeit um drei Jahre verkürzt war, ging zuerst dem Herrenhause zu und kam, von diesem genehmigt, im Februar an das Abgeordnetenhaus, gelangte aber hier nicht zur Verhandlung, weil das Haus wegen eines anderweiten regierungsfeindlichen Beschlusses schon im März aufgelöst wurde. Alle als liberal bekannten Minister traten zurück und wurden durch konservative ersetzt; nur Roon und Bernstorff blieben auf ihren Posten und von der Heydt, bis dahin Handelsminister, übernahm die Finanzen.

Bei den Neuwahlen machte die Demokratie noch weitere Fortschritte; die Zahl der Konservativen sank bis auf elf.

Im Juni wurden dem neuen Hause die Etats für 1862 und 1863 vorgelegt, worin die Kosten der Heeresreform wieder als ordentliche Ausgaben erschienen; ein Wehrgesetz aber, „mit dessen Diskussion die Sommersession nicht belastet werden sollte,“ stellte man für den Winter in Aussicht.

Der Finanzminister hatte mit bewundernswürdiger Kunst Ersparnisse im Militäretat von etwa zwei Millionen und zugleich den Wegfall gewisser, 1859 eingeführter Steuerzuschläge ermöglicht. Diese wesentlichen Erleichterungen machten jedoch auf das tief erregte Haus keinen merklichen Eindruck.

Im September kam es wegen des Militäretats zu einer mehrtägigen Redeschlacht. Die seit zwei Jahren durch mancherlei Rücksichten verdeckte Glut des Hasses gegen die Militärverwaltung schlug jetzt in hellen Flammen auf. Die Landwehrfrage trat zwar jetzt nach Vinckes Zeugnis im Lande zurück; umso fester aber hielt man an der Forderung der zweijährigen Dienstzeit.

Das Finanzjahr fiel damals mit dem Kalenderjahr zusammen. Da der Landtag regelmäßig im Januar zusammentrat, vergingen immer einige Monate, ehe das Budget festgestellt werden konnte, und in diesen Monaten wurden die laufenden Staatsausgaben wie natürlich geleistet, obwohl sie streng genommen vorheriger Genehmigung durch das Budgetgesetz bedurft hätten. So war es auch im Jahre 1862 geschehen, in welchem wegen der Auflösung des Hauses und der Neuwahlen die Etatsberatung sich ungewöhnlich lange verzögerte. Jetzt aber erhob man gegen das Ministerium den Vorwurf der Verfassungsverletzung wegen dieses Verfahrens, namentlich in Bezug auf die von diesem Hause noch nicht genehmigten und von einem früheren Hause ausdrücklich nur für 1861 bewilligten Ausgaben.

Von der Heydt und Roon kämpften mit bewunderungswürdiger Ruhe und Umsicht, aber vergebens. Am 23. September beschloß das Haus mit 273 gegen 68 Stimmen, im Etat von 1862 die für die Heeresreform vorgesehenen Ausgaben – im Belaufe von ungefähr sechs Millionen – zu streichen. Dann wurde der so verstümmelte Etat von 308 gegen 11 Stimmen genehmigt.

Die gestrichenen Posten waren zu drei Vierteln bereits thatsächlich verausgabt. Der Beschluß, daß solche Ausgaben nicht geleistet werden sollten, war daher unausführbar und konnte nur bezwecken, die Macht des Hauses fühlbar zu machen. Da Worte des Mißtrauens gegen die Minister nichts erreicht hatten, sollte eine That dem Könige deutlich machen, daß er diese Männer entlasten und andere ernennen müsse, die sich mit der Majorität des Hauses zu verständigen vermöchten.

Im Lande fand der Beschluß des Hauses nur ausnahmsweisen Widerspruch. Daß die Minister ungesetzlich verfahren wären, sagten die meisten. Auch aus politischen Gründen gab man ihnen unrecht. Zur Einheit Deutschlands, dachte man, wäre auf friedlichem Wege zu gelangen, wenn Preußen einen liberalen Musterstaat mit parlamentarischer Regierung darstellte; dann würde es den kleineren Staaten gegenüber eine ähnliche Anziehungskraft auf politischem Gebiete ausüben wie früher auf handelspolitischem bei Gründung und Erweiterung des Zollvereins. Daß solche politische Angliederung sich ohne Schwertstreich vollziehen könne, wurde trotz der Erfahrung von 1850 vielfach ehrlich geglaubt und sogar von Abgeordneten öffentlich ausgesprochen. Auch von dem Koburger Hofe ausgehende Anregungen förderten diesen Glauben.

Es wurde damals oft bezweifelt, ob wirklich ein wohlgeschultes Heer zum Schutze des Landes gegen die benachbarten großen Militärstaaten notwendig wäre. Sogar in Kreisen hoher und höchster Civilbeamten begegnete man oft genug der Meinung, daß für das Militär „eigentlich schon viel zu viel geschähe“ und daß es ratsamer sein würde, das Landwehrsystem weiterzuentwickeln, als das stehende Heer durch junge Reservisten zu verstärken. Von den ungeheuren Vorteilen technischer Durchbildung der Truppen hatten nur sehr wenige eine annähernd richtige Vorstellung. Wünsche nach einer Erleichterung des Militärdienstes wie der Steuerlasten waren im Volke weit verbreitet.

Durch das preußische Dreiklassenwahlgesetz war die Entscheidung bei den Wahlen in die Hände der bemittelten Klassen gelegt. Gerade diese hatten 1861 und 1862 in zwei kurz aufeinander folgenden Wahlen die Heeresreform mit dreijähriger Dienstzeit entschieden abgelehnt. Die große Mehrheit der Wähler hatte sich mit den Abgeordneten einverstanden erklärt.

Unlösbar schien die Aufgabe, die Volksvertretung und die Wähler unter den Willen des Königs zu beugen. Nur ein Held, „der das Wichten nicht gelernt hatte,“ konnte übernehmen, das zu versuchen.

Der König war ungewiß, ob er einen solchen finden würde. Er war schon vertraut mit dem Gedanken der Abdikation, als er am 22. September an Bismarck die Frage richtete, welche Bedingungen dieser bei Uebernahme des Ministeriums stellen würde.

Die Antwort lautete: „Gar keine. Ich fühle wie ein churbrandenburgischer Vasall, der seinen Lehnsherren in Gefahr sieht. Was ich vermag, steht Eurer Majestät zur Verfügung.“

Diesen Anfang der Audienz, deren Verlauf in den „Gedanken und Erinnerungen“ (I, S. 267) dargestellt ist, hat Bismarck mehrmals in meiner Gegenwart erzählt.

Er ging ohne Freude, aber in festem Gottvertrauen an’s Werk. Er war überzeugt, daß die von dem königlichen Kriegsherrn jahrzehntelang erwogenen Mittel zur Steigerung der Kriegstüchtigkeit des Heeres die richtigen wären; und unerträglich war ihm der Gedanke, daß der Versuch des Abgeordnetenhauses, durch einen unausführbaren Beschluß den Willen des Kriegsherrn zu brechen, gelingen sollte.

Seine Uebernahme des Ministerpräsidiums steigerte die Erbitterung des Hauses. Die von ihm in den Jahren 1849 und 1850 gegen die Frankfurter wie gegen die Erfurter Verfassung gehaltenen Reden waren in aller Gedächtnis. Auf Grund einer vertraulichen, vielleicht mißverstandenen Aeußerung des Königs der Belgier zu einem Schriftsteller verdächtigte man ihn, mit Napoleon über die Vergrößerung Preußens unter Abtretung des linken Rheinufers verhandelt zu haben. Im Innern erwartete man von ihm Abschaffung der Verfassung, wie im Jahre 1850 Schwarzenberg sie in Oesterreich herbeigeführt hatte.

Seine ersten Versuche, sich mit dem Abgeordnetenhause zu verständigen, fanden natürlich kein Entgegenkommen. In einer Kommissionssitzung sagte er mit Hinweisung auf die Heeresreform: „Die Einheit Deutschlands wird nicht durch Kammerreden bewirkt werden, sondern durch Eisen und Blut.“ Als diese Worte bekannt wurden, ging ein Schrei des Unwillens durch das Land. In Breslau erzählte mir ein hoher Regierungsbeamter, Bismarck habe an diesem Tage zu stark gefrühstückt; „sonst hätte er wohl so etwas nicht sogen können.“

Das Herrenhaus verwarf am 10. Oktober den vom andern Hause verstümmelten Etat von 1862. Dadurch wurde eine budgetlose Verwaltung unvermeidlich. Die Session des Landtags endete am 12. Oktober.

Am 19. reiste ich von Breslau zur dritten Weltausstellung nach London und, um Bismarck als Minister zu begrüßen, meldete ich mich bei ihm als Kurier zur Mitnahme von Depeschen. Er sah blaß, aber wohl aus, sprach ausführlich über einige gerade vorliegende Fragen des auswärtigen Dienstes und lud mich ein, auf der Rückreise einige Tage in Berlin zu bleiben.

Als ich am 1. November zurückkehrte, befand er sich in Paris zur Verabschiedung beim Kaiser Napoleon. An diesem Tage hörte ich von einem mir befreundeten Landsmann, dem Literaturhistoriker Julian Schmidt, daß Bismarck in den ersten Tagen seines Ministeriums zwei altliberale Abgeordnete zu sich eingeladen hatte, um ihnen Ministerposten anzubieten. Diese Thatsache ist durch Sybels Geschichte der Begründung des Deutschen Reiches9, wenn nicht früher, bekannt geworden. Dort wird aber nicht erwähnt, daß er – nach Schmidts Zeugnis – auch den Redakteur der National-Zeitung, Herrn Dr. Zabel, zu einer Besprechung einlud und demselben ausführlich darlegte, er strebe in der deutschen Politik nach demselben Ziele wie die liberale Partei; zu dessen Erreichung sei jedoch Aufrechterhaltung der Heeresreform unerläßliche Vorbedingung; die Partei handle daher völlig verkehrt, wenn sie ihn nicht unterstütze.

Bei dem damaligen Stande der öffentlichen Meinung konnte aber jeder der Eingeladenen nur erklären, daß ohne die Zusage der zweijährigen Dienstzeit irgendeine Unterstützung der Regierungspolitik vonseiten der liberalen Parteien unmöglich sei.

Am 1. Dezember hatte ich in Berlin Privatgeschäfte und war zu Tische bei Bismarck um 5 Uhr, was damals noch die gewöhnliche Zeit seiner Hauptmahlzeit war. Es kam mir nicht in den Sinn, nach den eben erwähnten Vorgängen zu fragen. Ich wußte, daß die Form der Frage ihm in der Unterhaltung nie willkommen war, und darf hier erwähnen, daß er vielen politischen Agenten die Instruktion gegeben hat, im Verkehr mit Vertretern einer fremden Macht direkte Fragen möglichst zu vermeiden. Wolle man eine gewisse Nachricht konstatieren, so möge man in geschickter Weise das Gespräch auf den Gegenstand bringen. Sei der andere geneigt, das Gewünschte mitzuteilen, so werde er es dann freiwillig thun; habe er jedoch Ursache, darüber zu schweigen, so werde man auch durch eine Frage die Sache nicht herausbringen, sondern dem Gefragten nur eine Mißempfindung bereiten, welche auf schwebende Verhandlungen ungünstig zurückwirken könne.

Ich erhielt also damals keine Bestätigung der Mitteilungen von Julian Schmidt. Anfang Juni 1866 aber erzählte Bismarck, daß er „wieder einmal“ Herrn Zabel zu einer Besprechung eingeladen hätte und daß die politischen Meinungen dieses trefflichen Mannes im Grunde nicht sehr weit von seinen eigenen entfernt wären.

Bei dem erwähnten Diner (am 1. Dezember 1862) hörte er mit Interesse, daß ich in London bei einem deutschen Maler zufällig Mazzini getroffen hatte, welcher versicherte, das nächste Ziel der italienischen Aktionspartei würde nicht Rom, sondern Venedig sein.

Nach dem Essen am Kamine rauchend, sagte Bismarck: „Ich habe Sie im Staatsministerium zum Oberregierungsrat vorgeschlagen. Die andern meinten aber, das ginge nicht, da Sie erst kürzlich vom Assessor zum Rat befördert seien. Ich habe gedacht, ein Adjutantenposten bei mir würde Ihnen nicht zusagen, da Sie an mehr Unabhängigkeit gewöhnt sind. Ich bat deshalb einen Vetter, zu mir zu kommen, den Rittmeister Grafen Karl Bismarck-Bohlen, der hier bei den Dragonern gestanden, aber den Abschied genommen hat. Natürlich fehlt ihm noch Geschäftskenntnis, wohl auch eine feste Gesundheit.“

Darauf ich: „In meinem ganzen Bekanntenkreise weiß ich nur einen Menschen, der vielleicht einigermaßen zu Ihrem Adjutanten passen würde, das bin ich selbst.“

„Sie sind zu schade dazu,“ sagte er; „ich kann Sie doch nicht aus Ihren gesicherten Verhältnissen herausreißen, um hier Laufbursche zu werden. Eine Ratsstelle ist nicht vakant.“

„Daran liegt mir gar nichts,“ erwiderte ich. „Sie mögen es mit andern versuchen, schließlich werden Sie hoffentlich auf mich zurückkommen.“

* * *

Die erste gründliche Auseinandersetzung des Ministerpräsidenten mit dem Abgeordnetenhause fand im Januar 1863 statt bei den Beratungen über die an den König zu richtende Adresse, welche den Vorwurf der Verfassungsverletzung und überdies eine Reihe von Beschwerden gegen das Ministerium erheben sollte. Der Abgeordnete Peter Reichensperger (Geldern) führte aus den Landtagsverhandlungen von 1849, auf welche man, um die Verfassung richtig zu interpretieren, zurückgehen müsse, den Nachweis, daß die meisten Redner beider Häuser unter Zustimmung der Minister dem Abgeordnetenhause ein volles Ausgabebewilligungsrecht hätten beilegen wollen. Andere Redner überhäuften das Ministerium mit leidenschaftlichen Angriffen.

Bismarck trat dem Vorwurfe der Verfassungsverletzung bekanntlich mit dem Wortlaute des Artikel 99 der Verfassungsurkunde entgegen, welcher lautet: „Alle Einnahmen und Ausgaben des Staates müssen für jedes Jahr im Voraus veranschlagt und auf den Staatshaushalts-Etat gebracht werden. Letzterer wird jährlich durch ein Gesetz festgesetzt.“

Nun gehöre, sagte er, zum Zustandekommen dieses wie jedes anderen Gesetzes Uebereinstimmung der drei Faktoren der Gesetzgebung. Solange diese fehle, habe eine Ausgabeverweigerung des Abgeordnetenhauses nur den Wert einer Meinungsäußerung, keineswegs aber rechtsverbindliche Kraft. Wenn eine entgegengesetzte Praxis sich in England durch altes Herkommen gebildet habe, wenn solche auch in andern Ländern gelte, wo parlamentarische Verfassungen nach englischem Muster eingeführt wurden, und wenn sich hierdurch eine entsprechende staatsrechtliche Doktrin gebildet habe, so sei das ohne praktische Bedeutung für Preußen, weil unsere Verfassung die Mitwirkung des Herrenhauses und des Königs zum Budgetgesetze wie zu jedem anderen vorschreibe. Da der Wortlaut der Verfassungsurkunde einen völlig klaren Sinn gäbe, so sei kein Anlaß zu irgendwelcher Interpretation.

Allerdings könne hienach jeder der beiden andern Faktoren das Ausgabebewilligungsrecht des Abgeordnetenhauses vernichten; ebenso klar aber sei, daß nach dem englischen Rechte das Abgeordnetenhaus die Staatsmaschine willkürlich zum Stillstand bringen könne. Es müsse eben als natürlich vorausgesetzt werden, daß jede der gesetzgebenden Gewalten ihr Recht mit Mäßigung und in Hinblick auf das Gemeinwohl ausüben würde, was jedoch hier im vorigen Jahre nicht geschehen sei.

Bismarck schloß mit den berühmten Worten: „Das preußische Königtum hat seine Mission noch nicht erfüllt, es ist noch nicht reif dazu, einen rein ornamentalen Schmuck Ihres Verfassungsgebäudes zu bilden, noch nicht reif, als ein toter Maschinenteil dem Mechanismus des parlamentarischen Regimentes eingefügt zu werden.“

Es war vorauszusehen, daß beide Teile, das Ministerium wie das Abgeordnetenhaus, für Gewissenspflicht halten würden, auf ihrem Rechtsstandpunkte auszuharren. Eine Lösung des Konflikts schien auf theoretischem Gebiete unmöglich.

Außerhalb der Offizierskreise standen in Breslau fast alle meine Bekannten, die sich überhaupt äußerten, auf der Seite des Abgeordnetenhauses; aber mein in Ostpreußen lebender Bruder stimmte voll ein in meine Bewunderung für den Mann, der einen gangbaren Weg gefunden hatte, um den Prachtbau der Heeresreform vor Zerstörung zu retten.

Frau von Bismarck schrieb mir nach Breslau am 27. Januar 1863:

… „Diesen Schwirr von früh bis spät jeden und jeden Tag vertrage ich kaum.

Ich werde allgemach unausstehlich dabei und die Sorge um Bismarck seufzt ununterbrochen in den kläglichsten Molllauten durch mein Herz …

„Man sieht ihn nie und nie – morgens beim Frühstück fünf Minuten während Zeitungsdurchfliegens –, also ganz stumme Scene. Drauf verschwindet er in sein Kabinett, nachher zum König, Ministerrath, Kammerscheusal – bis gegen fünf Uhr, wo er gewöhnlich bei irgendeinem Diplomaten speist, bis 8 Uhr, wo er nur en passant Guten Abend sagt, sich wieder in seine gräßlichen Schreibereien vertieft, bis er um halb zehn zu irgendeiner Soiree gerufen wird, nach welcher er wieder arbeitet bis gegen ein Uhr und dann natürlich schlecht schläft. Und so geht’s Tag für Tag – soll man dabei nicht elend werden vor Angst und Sorge um seine armen Nerven …

„Wie sich das Demokraten-Volk gegen meinen besten Freund benimmt, lesen Sie hinlänglich in allen Zeitungen. Er sagt, es sei ihm „nitschewo“10, aber ganz kalt läßt es ihn doch nicht.“ …

Dieser Brief wurde geschrieben am Abend des zweiten Tages der langatmigen Verhandlungen des Abgeordnetenhauses über den damals im Königreich Polen ausgebrochenen Aufstand und den Versuch der Regierung, denselben durch Verständigung mit Rußland von unseren Grenzen fernzuhalten.

Allerdings überschütteten selbst Führer der altliberalen Partei, die Sybel, Twestten und Simson, in jenen Tagen den Ministerpräsidenten mit ausgesuchten Liebenswürdigkeiten.

Der eine sagte: „Diese Regierung kann weder im Innern noch nach außen handeln, weder ruhen noch wirken, ohne die Gesetze dieses Landes zu verletzen … unter solchen notorisch unfähigen und unglücklichen Befehlshabern sind überall Niederlagen zu erwarten.“

Der andere: „Die Ehre der augenblicklichen Regierung ist nicht mehr die Ehre des Staates und des Landes.“

Der Dritte: Zu gutem Regieren gehöre Genie oder wenigstens Talent; dieser Regierung könne man jedoch nur die jedem Seiltänzer zugewendete Bewunderung zollen, daß sie nicht fällt.

Mir erschien es bewunderungswürdig, daß Bismarck solchen Maßlosigkeiten gegenüber eine äußerlich ruhige Haltung beobachtete.

In diesen Tagen sprach er die später oft angeführten Worte: „Die Neigung, sich für fremde Nationalitäten und Nationalbestrebungen zu begeistern auch dann, wenn dieselben nur auf Kosten des eigenen Vaterlandes verwirklicht werden können, ist eine politische Krankheitsform, deren geographische Verbreitung sich auf Deutschland leider beschränkt.“

Am 26. März schrieb Frau von Bismarck:

… „Sehr reizend wäre es, wenn ich Sie nächsten Mittwoch, den 1. April, um 10 Uhr früh zu seinem Geburtstag aufbauen könnte. Was meinen Sie? … Von dem geselligen Wirrwarr sage ich nichts. Sie kennen das, wie es hier geht und wie man zuletzt ganz schwach davon wird, nicht leiblich, sondern geistig. Das Schlimmste ist, wenn zwischendurch pommersche Verwandte und gute Bekannte hereinfallen, die einen sehen wollen und gekränkt sind, wenn man sich ihnen nicht immer zur Disposition stellt. – Bismarck bekommt aus allen Provinzen viele freundliche Adressen und Depeschen, Säbel, Kuchen, Lorbeerkränze und Gedichte und freut sich, daß man ihn liebt. Ich freue mich auch und fände es wunderbar, wenn es nicht wäre … Sein Befinden ist leidlich, aber blaß und unermeßlich beschäftigt ist er von 10 Uhr morgens immer bis 1 Uhr nachts) trotz Bitten und Lampenauslöschen“ …

Am 1. April kam ich früh in Berlin an und blieb von 10 Uhr morgens bis 10 Uhr abends bei Bismarcks. Er litt an starken Kopfschmerzen und lag den ganzen Vormittag auf dem Sofa, ohne ein Wort zu sagen. Erst gegen Abend wurde es besser. Besuch wurde nicht angenommen; nur einige Verwandte, namentlich seine schöne und geistvolle Schwester, Frau v. Arnim-Kröchlendorff, mit Gemahl und Tochter leisteten ihm Gesellschaft. Er war in alter Weise freundlich zu mir, sagte aber kein Wort über die Möglichkeit meiner Berufung.

Bald darauf hatte ich Anlaß, sein Vertrauen in einer wichtigen Angelegenheit anzusprechen.

In Breslau wurde der konservative Oberbürgermeister Elwanger trotz anerkannt großer Verdienste um die städtische Verwaltung nicht wieder gewählt, sondern die Wahl der Stadtverordneten fiel auf den Regierungsrat Hobrecht, welchen Graf Schwerin 1860 als Hilfsarbeiter in das Ministerium des Innern berufen hatte und welcher sich auch 1863 noch in dieser Stellung befand. Ende April beschloß die Breslauer Regierung mit nur einer Stimme Majorität, die Bestätigung des Gewählten zu befürworten. Ich befürchtete Beanstandung dieses Antrages im Staatsministerium und schrieb daher an Frau von Bismarck, mit der Bitte um Mitteilung an ihren Gemahl, einige Bemerkungen zu Gunsten Hobrechts, den ich als einen vertrauten Jugendfreund genau kannte.

Sie erwiderte: „Hobrecht ist vorgelesen, aber man liebt ihn gar nicht, wie es scheint, also weiß ich nicht, was geschieht.“

Da mir Gefahr im Verzuge möglich schien, telegraphierte ich sofort zurück die Worte: „Bürge für den Mann mit Ehre und Vermögen“; worauf ich natürlich keine Antwort erwartete.

Am 26. Mai war ich in Berlin bei Bismarcks zu Tische und saß neben dem Minister. In einer Pause des allgemeinen Gesprächs fragte er mich: „Sie halten den Mann also für tugendhaft?“ Ich erwiderte: „Mehr als ausreichend für den Bürgermeisterposten. Es ist ein Glücksfall, daß die überwiegend demokratischen Stadtverordneten diesen zuverlässigen Altliberalen gewählt haben, der manche Eigenschaften besitzt, um bald Einfluß auf die Leute zu gewinnen. Würde er nicht bestätigt, so wäre die Wahl eines roten Demokraten zu erwarten. Dann müßte ein Regierungskommissar mit Leitung der Stadtverwaltung beauftragt werden, der noch weniger Einfluß haben würde als der frühere Bürgermeister.“

„So“, sagte der Minister leise für sich und begann dann wieder ein allgemeines Gespräch.

Gegen Abend fuhr er nach dem Potsdamer Bahnhof und lud mich ein, mitzufahren. Er sprach von der durch den General von Alvensleben im Februar abgeschlossenen preußisch-russischen Konvention. „Dieselbe hat bewirkt,“ sagte er, „daß die Polenfreunde in Petersburg nicht zur Geltung kamen und daß der Kaiser Alexander uns im Gegensatz zu Oesterreich und den Westmächten als Freunde erkannte. Die Konvention wird vom Publikum falsch beurteilt, weil man die Erdschichten nicht kennt, in welchen die Wurzeln dieses Gewächses lagen.“ Plötzlich fragte er, ob ich kommen wolle, wenn er mich riefe, auch ohne sichere Aussicht auf eine Ratsstelle. „Gewiß“, sagte ich. „Daß keine Ratsstelle frei ist, beruhigt mich einigermaßen. Eine längere Probezeit scheint mir gerade in diesem Falle unerläßlich.“ Er meinte dann, die amtliche Einberufung würde erst im Herbst erfolgen, nach Rückkehr des Königs von den Sommerreisen.

Anfang Juli schrieb mir Frau von Bismarck in seinem Auftrage, daß er nur auf Grund meiner Bürgschaft die Bestätigung Hobrechts im Staatsministerium durchgesetzt habe.

Bei diesem Beschluß hatte er vielleicht auch eine persönliche Mißempfindung zu unterdrücken. Einige Monate vorher war im Staatsministerium über den Entwurf der Kreisordnung, welchen Graf Schwerin hatte ausarbeiten lassen, beraten worden. Als dabei der Ministerpräsident sich über das ganze Projekt in wegwerfendem Tone äußerte, begann Hobrecht als Referent seine Erwiderung mit den Worten: „Ich weiß nicht, ob Sie den Entwurf gelesen haben.“ Nur Hobrecht selbst hat mir dies später erzählt.

Nach Jahren hat Bismarck mir zweimal für meine Empfehlung Hobrechts gedankt.

Als im Frühjahr 1866, beim Herannahen des Krieges, aus Ostpreußen, Pommern und vom Rhein viele kleinmütige Adressen um Erhaltung des Friedens an den König gerichtet wurden, kam von den Breslauer Stadtbehörden eine kriegerisch begeisterte Bitte um gründliche Lösung der deutschen Frage; das Verdienst dieser Kundgebung wurde natürlich dem Oberbürgermeister zugeschrieben.

Einige Jahre später äußerte Bismarck: „Von den Bürgermeistern gilt dasselbe, was man von den Frauen sagt: die, von denen gar nicht gesprochen wird, sind die besten. Von Breslau höre ich nie etwas, folglich muß Hobrecht seine Sache sehr gut machen.“

* * *

Ende September 1863 wurde in Breslau bekannt, daß meine Berufung zum Hilfsarbeiter im Staatsministerium bevorstand. Außer den Offizieren bedauerten fast alle meine Bekannten, liberale wie konservative, daß ich mein Geschick an das eines maßlos verwegenen Mannes und an eine hoffnungslose Sache ketten wollte. Oft genug mußte ich versuchen, den Leuten ihren Irrtum klarzumachen.

In der auswärtigen Politik war doch bis dahin offenbar alles geglückt, was der Ministerpräsident unternommen hatte.

Im November 1862 wurde der halsstarrige Kurfürst von Hessen dadurch zum Nachgeben bewogen, daß Bismarck in einem an den Minister Dehn gerichteten Briefe auf das mögliche Eingreifen der kurfürstlichen Agnaten hindeutete.

Angesichts der im Anfang des Jahres in Polen ausgebrochenen Unruhen befestigte Bismarck durch Aufrechterhaltung der Ordnung in den preußischen Grenzprovinzen und durch eine bezügliche Verständigung mit Rußland dessen Freundschaft, während die Westmächte und Oesterreich auf ihre wiederholt nach Petersburg gerichteten polenfreundlichen Ratschläge anfangs höfliche, zuletzt schroffe Abweisungen erfahren hatten.

Der übereilte Versuch Oesterreichs, die Bundesverfassung in seinem und der Mittelstaaten Interesse durch Beschlüsse der in Frankfurt versammelten souveränen Bundesfürsten so weit umzugestalten, daß unserm König sogar die Entscheidung über Krieg und Frieden entzogen würde, dieser Versuch endete mit einem vollständigen Mißerfolg, nachdem der König auf Bismarcks Rat der Fürstenversammlung ferngeblieben war.

In den preußischen Gegenvorschlägen wurde zum ersten Male amtlich auf die Ersprießlichkeit einer Volksvertretung am Bunde hingewiesen.

Gegen Dänemark endlich wurde von Preußen und Oesterreich gemeinschaftlich trotz der Opposition der Mittelstaaten ein Beschluß des Deutschen Bundes erreicht, das Exekutionsverfahren durch militärische Besetzung Holsteins eintreten zu lassen (1. Oktober).

Alle diese Thatsachen ließen doch in der Leitung unserer auswärtigen Angelegenheiten einen zielbewußten Kopf und eine glückliche Hand erkennen.

Aber selbst gegen diese Auffassung wurde manches eingewendet.

Ein mir von der Schule her befreundeter Gelehrter, der Privatdozent (später Professor) der Geschichte, Dr. Neumann11, kam zu mir, um mich eindringlich zu warnen.

Er hatte einige Jahre unter Schleinitz und Bernstorff, zuletzt auch einige Monate unter Bismarck im Auswärtigen Amte für die Presse gearbeitet. „Bismarck“, sagte er, „leidet an einer schweren Nervenkrankheit und ist mir mitunter wie nicht ganz zurechnungsfähig erschienen. Wenn er z. B. Instruktionen für die Presse gab, kam er zuweilen bald in einen gewissen ‚Galopp des Denkens‘, dem man kaum folgen konnte, und verlangte mitunter ganz unausführbare Dinge. Unter den Berliner Diplomaten ist die Meinung vorherrschend, daß er nervenkrank sei und nicht mehr lange leben werde, da er sich in keiner Beziehung schont. Als ein Symptom seiner Krankheit wurde auch das Gespräch aufgefaßt, welches er im letzten Dezember bekanntlich mit dem Grafen Karolyi gehabt hat; denn wie kann ein ganz gesunder Mensch dem Vertreter Oesterreichs sagen: ‚Ihr thätet gut, euren Schwerpunkt nach Ofen zu verlegen‘. Gesellschaftlich mag Bismarck sehr angenehm sein; aber wenn du in sein Ministerium eintreten willst, so wirst du ein morsches Schiff besteigen.“

Graf Limburg-Stirum, der Vater des jetzigen Führers der Konservativen im Abgeordnetenhause, sagte mir: „Es muß schön sein, der Fahne eines Mannes wie Bismarck zu folgen, wenn sie auch in den Tod führen mag.“

Das stimmte mit meiner Auffassung, jedoch mit dem Unterschiede, daß ich keinerlei Gefahr zu ahnen vermochte.

In Bezug auf die Minister schien im Falle eines Thronwechsels die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß sie wegen der budgetlosen Verwaltung mit Regreßansprüchen an ihr Privatvermögen bedroht werden könnten. Das Abgeordnetenhaus hatte am 17. Februar 1863 mit allen gegen 45 Stimmen beschlossen, bis nach Prüfung der Jahresrechnungen von 1862 die Entscheidung darüber vorzubehalten, für welche der verausgabten Summen die Minister mit ihrer Person und ihrem Vermögen haftbar wären12. Man riet damals dem Ministerpräsidenten, seinen Grundbesitz an einen Verwandten abzutreten; er lehnte das entschieden ab, um den Schein einer Besorgnis für sein Vermögen zu vermeiden. Ein Nachbar von Schönhausen aber, Herr von Katte-Roskow, hat – wie er mir 1864 erzählte – thatsächlich Vorkehrungen getroffen, um im Falle eines Regresses an Bismarck diesem ein ansehnliches Kapital zur Verfügung zu stellen.

Wenn demnach daran gedacht worden war, die Minister als persönlich haftbar anzusehen, so konnten doch deren Beamte in keinem Falle durch Regresse bedroht werden. Eine zu teilende Gefahr stand also für mich nicht in Aussicht, sondern nur eine kaum erwähnenswerte Einbuße an Wohlwollen bei vielen alten Bekannten und Landsleuten, wenn ich dem damals „bestgehaßten“ Manne persönlich dienstbar wurde.

Am 19. Oktober abends kam ich nach Berlin und übernachtete bei dem im Hausministerium angestellten Geheimrat von Loeper, dem hochverdienten Goethe-Herausgeber. Von diesem hörte ich zum ersten Male die Ansicht aussprechen, daß Bismarck trotz mancher unnötigen Schroffheiten seines Auftretens wahrscheinlich sehr viele Jahre lang der Leiter unsrer Politik bleiben werde.

Am 20. früh meldete ich mich beim Ministerpräsidenten im Auswärtigen Amte (Wilhelmstraße 76). Er sagte: „Sie müssen in meiner Nähe wohnen, finden aber in dieser Gegend der Stadt keine mietbaren Räume. Das Staatsministerium steht leer. Ich habe dort im vorigen Jahre einige Wochen gewohnt. Ein Beamter machte mich mit Stolz auf einige neue Tapeten aufmerksam; ich fand aber, daß diese Tapeten an eine Ausspannung in Prenzlau erinnerten. Nehmen Sie sich dort so viele Zimmer, wie Sie brauchen können, meinetwegen alle.“

Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: „Ich denke, Sie sollen einmal einen ‚propren‘ Bundestagsgesandten abgeben.“

Diese Aeußerung erwähne ich nur, weil daraus zu schließen ist, daß Bismarck im Oktober 1863 noch eine langjährige Fortdauer des Bundestages für wahrscheinlich gehalten hat.

Ich bezog sofort zwei Zimmer im Hinterhause des damaligen Staatsministerialgebäudes (Wilhelmstrabe 74), welches nachmals für den Bundesrat und für das Reichsamt des Innern ausgebaut worden ist.

Um 5 Uhr erschien ich nach Bestimmung des Ministers zum Essen mit ihm allein. Seine Gemahlin befand sich noch in Reinfeld in tiefer Trauer um ihre Mutter, welche dort im September gestorben war.

Er sah blaß und müde aus und sagte nach längerer Pause:

„Es kommt mir vor, als wäre ich in diesem einen Jahr um fünfzehn Jahre älter geworden. Die Leute sind doch noch viel dümmer, als ich sie mir gedacht hatte.“

Ich erwiderte: „Sie werden hoffentlich wieder viel jünger werden, sobald es eine große auswärtige Verwickelung gibt.“

Noch an demselben Abende besuchte ich den Geheimrat Hegel, welcher als vortragender Rat im Staatsministerium13 fungierte.

Dieser Schwiegersohn des Staatsministers von Flottwell war mir seit vielen Jahren als ein verehrungswürdiger Mann bekannt. Er sagte: „Die Lage ist fast verzweifelt; unser Chef aber ist ihr vollkommen gewachsen und wird mit Gottes Hilfe obsiegen, wenn auch vielleicht erst nach langer Zeit.“

Als Hilfsarbeiter war damals im Staatsministerium auch der Regierungsrat Zitelmann, hauptsächlich für die Presse, beschäftigt, welcher schon in Frankfurt unter Bismarck gedient und ihn 1863 im Gefolge des Königs nach Karlsbad und Gastein begleitet hatte; ein bescheidener und liebenswürdiger Mann, mit dem ich jedoch nur selten zusammenkam.

Der früher erwähnte Hilfsarbeiter Graf Bismarck-Bohlen war wegen Kränklichkeit auf unbestimmte Zeit beurlaubt, hatte jedoch die Zusage erhalten, wieder einberufen zu werden, wenn es einmal zu einem Kriege käme und sein Vetter mit zu Felde zöge.

Der Minister des Innern, Graf Eulenburg, empfing mich als Ostpreußen mit landsmannschaftlicher Herzlichkeit. Er dankte für meine Empfehlung Hobrechts, den er „ohne meine Hilfe schwerlich durchgebracht hätte“, und sagte dann: „Ihre Stellung bei Bismarck wird sehr schwierig werden, darauf machen Sie sich nur gefaßt. Er ist ein gewaltiger Mensch und duldet keinen Widerspruch. Wer mit ihm zu thun hat, den zwingt er zum Gehorsam, mag man dagegen ‚strampeln‘, soviel man will. Und nun ist Ihnen ja eine besondere Vertrauensstellung zugedacht. Sie werden es sehr schwer haben und ich wünsche von Herzen, daß Sie lange aushalten.“

Am folgenden Tage erhielt ich von Frau von Bismarck aus Reinfeld einen Brief, in dem es hieß:

… „Gott segne Ihren Einzug bei ihm, lieber Herr von Keudell, ich freue mich, daß Sie da sind, wenn auch mit Zittern, und wiederhole stets: Vereinigen und verwechseln Sie nie den Minister mit dem Freunde. Es sind gewiß zwei ganz verschiedene Menschen. Wenn der Minister verstimmt ist und Sie in solch unerquicklicher Laune anbrummt, weiß der Freund nichts davon und liebt Sie ungestört alle Zeit. Ich vergesse nicht mancher Sekretäre Verzweiflung in solchen Fällen; und wenn Sie auch kein so verzagtes Gemüth wie diese Jünglinge besitzen, so möchte ich Sie doch an all dies wieder erinnern mit herzlichen Bitten, in Ihrem Vertrauen und Ihrer Anhänglichkeit nicht zu wanken, da Bismarck deren mehr bedarf wie jeder andere. Er hat ja fast keinen wahren treuen Freund – ich mißtraue ihnen allen –, wenn’s darauf ankommt, lassen sie ihn alle im Stich, bin ich überzeugt. Wer bitte, thun Sie es nicht, halten Sie aus, wenn er auch oft recht unfreundlich scheint. Innerlich ist er’s bestimmt nie, das versichere ich Ihnen.“ …

Geschäftlich wurden mir alle an den Ministerpräsidenten persönlich gerichteten Gesuche zugewiesen. Morgens um zehn Uhr und abends um sieben Uhr hatte ich mich beim Chef zu melden, um die Eingänge in Empfang zu nehmen und die Entwürfe der Antworten vorzulegen, die er dann in meiner Gegenwart erstaunlich schnell durcharbeitete und unterschrieben zurückgab. Keine Sache blieb 24 Stunden unerledigt. Ich stand damals im vierzigsten Lebensjahre und war seit langer Zeit gewohnt gewesen, daß meine Entwürfe amtlicher Schriftstücke von Vorgesetzten fast gar nicht korrigiert wurden; jetzt aber kam ich wieder in die Stellung eines Schülers, dessen Konzepte selten unverändert stehen blieben.

Auffallend war mir die Behandlung der zahlreichen Bettelbriefe. Wenn solche den Eindruck wirklicher Not machten, wurde ich beauftragt, die Bittsteller aufzusuchen und kleine Unterstützungen zu spenden, nicht etwa aus irgendeinem staatlichen Dispositionsfonds, sondern aus den Privatmitteln des Ministers. Einmal mußte ich einer in der Köpenikerstraße 4 Treppen hoch wohnenden Witwe 25 Thaler (75 Mark) überbringen, was mir für die Privatverhältnisse des Gebers sehr hoch gegriffen schien. Ich erlaubte mir abzuraten von dieser dilettantischen Armenpflege, die immer neue unerfüllbare Ansprüche hervorrufen müßte. Die Antwort lautete: „Wer sich in Not bittend an mich wendet, dem helfe ich, soweit ich es mit meinen geringen Mitteln vermag.“

Gelegentlich fragte ich, ob es nicht zweckmäßig sein würde, durch das Bureau nur die wichtigeren Eingänge vorlegen zu lassen. „Nein,“ sagte der Minister, „wenn ich nicht alles sehe, was ankommt, verliere ich die Fühlung mit dem, was im Lande vorgeht.“

Nach mehreren Wochen wurde jedoch infolge der diplomatischen und militärischen Vorbereitungen zum dänischen Kriege die Geschäftslast so groß, daß er die augenscheinlich unwichtigeren Eingänge mit der Bezeichnung O als nicht gelesen an das Bureau gehen ließ und nach deren Erledigung nicht fragte.

Am 30. Oktober schrieb ich meinem Bruder:

„Bismarck ist in Geschäften wirklich wundervoll, von unbegreiflich schnellem Ueberblick und heiterer Entschlossenheit, verlangt aber mitunter Unausführbares, weil nicht alle Verwaltungsgesetze ihm geläufig find. Gestern Abend mußte ich wieder einmal vorstellen, daß dies und das nicht möglich sei. Er wurde wie immer in solchen Fällen ärgerlich und persönlich, ohne aber die Form im Mindesten zu verletzen. In der Nacht grübelte ich darüber, ob ich für sein Naturell den richtigen Ton zu treffen vermöchte, und heute morgen ging ich in etwas gedrückter Stimmung zum Vortrag. Da kam er mir mit besonderer Freundlichkeit entgegen und sagte, er wolle mich nun auch im auswärtigen Dienst beschäftigen und deshalb mit Thile sprechen.“

So geschah es. Der Unterstaatssekretär von Thile war ein kerniger und wohlwollender Mann von ungewöhnlicher wissenschaftlicher Bildung. Er empfing mich in liebenswürdiger Weise, verhehlte mir aber nicht, daß die zurzeit nicht gerade massenhaften Geschäfte der politischen Abteilung in festen Händen seien und daß es schwierig sein würde, dort für mich ein Arbeitsfeld zu schaffen.

Allerdings hätte die außergewöhnliche Arbeitskraft und Arbeitslust des mir seit Jahren wohlbekannten Geheimrat Abeken für sich allein hingereicht, um alles, was damals in der „hohen Politik“ vorkam, zu erledigen; es war aber in dieser Abteilung noch ein zweiter Rat angestellt, welcher doch auch Anspruch auf Beschäftigung machte. Nur wenn Bismarck selbst mich mit einer kleinen Arbeit in französischer Sprache, wohl um mich zu prüfen, beauftragte, gab es im Auswärtigen etwas für mich zu thun. Der Regel nach blieb ich mit inländischen Angelegenheiten beschäftigt, erhielt auch öfters mündliche Aufträge an einzelne Minister, namentlich an Roon und Eulenburg.

Erst im Februar 1864 wurde mir eine in der zweiten Abteilung des Ministeriums erledigte Ratsstelle übertragen, mit welcher die Bearbeitung aller Personalien und die Verwaltung der sogenannten Legationskasse, d. h. des Etats der auswärtigen Angelegenheiten, verknüpft war. Dieses Arbeitsfeld blieb mir bis zum Herbst 1872 anvertraut.

* * *

Anfang November 1863 kehrte Frau von Bismarck aus Reinfeld nach Berlin zurück. Bald darauf wurde die Landtagssession eröffnet. Das vor Kurzem neu gewählte Abgeordnetenhaus brachte zwar statt der früheren 11 konservativen Mitglieder deren 36, zeigte aber im Ganzen dieselbe feindselige Haltung wie das im Sommer aufgelöste.

Trotz der tiefen Trauer der Familie Bismarck pflegten sich doch einige der vertrauten Freunde abends gegen 9 Uhr einzufinden in dem Empfangssaale, welcher auf der Gartenseite des Hauses lag. Die gütige Hausfrau oder deren heranwachsende anmutige Tochter machte den Thee; auf zwei oder drei Tischen standen einfache kalte Speisen, Wein und Bier. Jeder Gast bediente sich nach Belieben. Am häufigsten kamen damals: Herr von Arnim-Kröchlendorff mit Gemahlin und Tochter, Blanckenburg, Graf Eberhard Stolberg mit Gemahlin, der junge Eisendecher14 und Herr von Dewitz-Milzow, ein Göttinger Corpsbruder des Hausherrn. Dieser pflegte gegen elf Uhr auf eine halbe oder ganze Stunde zu erscheinen, um eine satte Speise und ein Glas Bier oder auch dicke Milch zu nehmen. Thee oder Wein genoß er abends nie, um den ohnehin schwer zu findenden Schlaf nicht ganz zu verscheuchen. Die Unterhaltung pflegte er in heiterem Tone zu führen, Politik aber nur selten und flüchtig zu streifen. Ich war in den ersten Wintermonaten der einzige abends im Salon anwesende Beamte des Ministeriums, in jedem Augenblicke amtlicher Aufträge gewärtig.

An der kurzen Nordseite des Gesellschaftszimmers lag ein schmales Kabinett, dessen Länge der Breite des ersteren entsprach und welches immer offen stand, da die Thür aus den Angeln entfernt worden war. Von diesem Kabinett führten zur Linken wenige Stufen hinab in das Schulzimmer, wo die Knaben unter Leitung des Hauslehrers, Kandidaten Braune, zu arbeiten pflegten. Die Thüre dieses Zimmers stand ebenfalls gewöhnlich offen. Wenn nun Schlafenszeit für die Jugend herankam, pflegte die weiche Stimme der Hausfrau in das Kabinett hineinzuschallen: „Jüngchen! Zu Bett!“ Eine ältere Dame hat mich noch kürzlich hieran erinnert.

Auf der rechten Schmalseite des Kabinetts führte eine Thüre zu dem auf der Straßenseite des Hauses gelegenen Arbeitszimmer des Ministers. Wurde abends mein Klavierspiel verlangt, so pflegte Frau von Bismarck diese kleine Thüre leise zu öffnen und, wenn kein Besuch sichtbar war, halb offen stehen zu lassen, da der Minister sich damals nicht ungern durch Töne anregen ließ, während er arbeitete.

Am 23. November sagte er einmal nach Tische, zu seinem Schwager und zu mir gewendet: „Wir brauchten eigentlich zwei Garnituren Regierungsbeamte: eine konservative und eine liberale, von denen eine immer zur Disposition gestellt werden müßte, wenn ein Ministerwechsel eintritt. Die vielen liberalen Beamten können doch jetzt unmöglich mit Freudigkeit und Hingebung ihre Pflicht thun.“

Ich erlaubte mir meine abweichende Ansicht auszuführen, auf deren Inhalt es hier nicht ankommt. Dieses Gespräch erwähne ich nur, weil dessen frische Erinnerung mich einige Tage später zu einem unbesonnenen Schritte gedrängt hat.

9Band II S. 440.

10Das russische Wort „nitschewo“ bedeutet ungefähr: „Das ist mir absolut gleichgültig“.

11Verfasser der „Hellenen im Skythenlande“ (1855).

12Stenographischer Bericht von 1863, S. 243.

13Mit diesem Worte wird außer dem Kollegium der Staatsminister auch diejenige Centralbehörde bezeichnet, deren Geschäftsbereich die allen Staatsministern gemeinsamen Angelegenheiten umfaßt, nämlich Vorbereitung und Registrierung der Sitzungen, Sammlung schriftlicher Gutachten der Staatsminister und die an den Ministerpräsidenten persönlich gerichteten Gesuche.

14Der einzige Sohn des oldenburgischen Bundestagsgesandten von Eisendecher trat in die Marine ein, war von 1862 bis 1872 mit Unterbrechungen in Berlin beschäftigt und wurde fast wie ein Verwandter des Hauses angesehen.

Begegnungen mit Bismarck

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