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4.

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Die Portiersloge war mit einem von De Vivos Männern besetzt. Diesmal verzichtete Gabriele Santoro auf den Aufzug und nahm die Treppe. Als er den zweiten Stock erreichte, fiel ihm auf, dass der Boss das ganze Haus unter Bewachung gestellt hatte: Ein Weiterer seiner Leute saß auf der obersten Stufe des Treppenabsatzes und las La Gazzetta dello Sport; obwohl er infolge einer mysteriösen Krankheit in den letzten Monaten sichtlich abgemagert war, wurde er im Viertel noch immer ’o chiatto, der Dicke, genannt.

Der Maestro hob grüßend das Kinn und stieg stumm zu seiner Wohnung hinauf.

Als er die Tür öffnete, saß der Junge auf dem Stuhl im Eingang und wartete. Offenbar hatte er sich nicht von dort weggerührt.

„Jetz’ kann ich dir sagen, wie die Sache gelaufen is’“, verkündete er.

Und der Maestro hörte ihm zu.

Er und Amitranos Sohn Rosario hatten sich mit dem Motorroller in der Via Chiaia postiert und auf einen günstigen Moment gewartet, um ein deutsches Paar, das in der Bar saß, zu beklauen. Nach einer halben Stunde war eine alte Frau aus dem Friseursalon an der Ecke gekommen, der schon von Weitem anzusehen war, dass ihre Handtasche vor Geld platzte. Weil sie es leid waren, auf die Deutschen zu lauern, waren er und sein Kumpel ihr gefolgt und hatten sie noch ein paar Besorgungen machen lassen.

Als die Frau dann in eine abgeschiedene Seitenstraße eingebogen war, hatten sie beschlossen zu handeln. Mit einem Satz waren sie an ihrer Seite gewesen und Ciro hatte ihre Tasche gepackt und wie wild daran gerissen, doch die Alte hatte beim besten Willen nicht loslassen wollen und war gestürzt. Rosario war mit quietschenden Reifen durchgestartet, und als Ciro sich bang nach der Alten umgedreht hatte, hatte er festgestellt, dass jemand hinter ihnen her war: ein glatzköpfiger Typ am Steuer eines fetten, schwarzen BMW. Als er seinem eisigen Blick begegnete, wusste Ciro, dass er in Schwierigkeiten steckte, doch konnte er nicht ahnen, dass die Beklaute Alfonso De Vivos Mutter war, eine alte Hexe, die die kriminellen Machenschaften von halb Neapel verwaltete, und erst recht nicht, dass der Sturz sie ins Koma und auf die Intensivstation des Cardarelli-Krankenhauses befördern sollte.

Als Ciro am nächsten Morgen erwachte, hatte er den Glatzkopf mit Carmine reden sehen und sagen hören, Alfonso De Vivo warte darauf, dass er ihm seinen Sohn bringe.

„Ihm den Bengel bringen, und wieso?“, hatte der Vater gefragt.

„Donna Marianna liegt im Koma. Übler Schnitzer, den dein Knirps sich da geleistet hat, das geht so nicht durch, kapierst du doch, oder?“

Carmine hatte ergeben den Kopf gesenkt.

„Na gut, sag Alfonso, ich bring ihn bis heut’ Abend, der Junge will um Vergebung bitten.“

Als Gabriele Santoro sich Ciros Schilderung angehört hatte, waren seine Augen tränenfeucht. Verstohlen fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht, und der Junge blickte ihn mit einem Ausdruck an, den er bis dahin noch nicht bei ihm gesehen hatte.

Ciro versuchte seiner Miene abzulesen, auf welcher Seite er stand. Gelassen ließ sich der Maestro von ihm mustern, bis die Zweifel seines kleinen Gastes zerstreut waren, dann zog er sich die Jacke aus, streichelte ihm über die Wange und verzog sich ins Arbeitszimmer, um ein wenig Ruhe zu finden. Er setzte sich und versuchte, die entsetzlichen Bilder loszuwerden, die seine Gedanken bevölkerten. Keine Viertelstunde später klingelte es an der Tür. Beunruhigt steckte er den Kopf ins Wohnzimmer und sah, wie der Junge die Klappe zum Hängeboden öffnete und hinaufkletterte.

„Das ist eine Schülerin von mir, ich muss ihr Unterricht geben“, erklärte er und half dem Jungen, die Klappe zu schließen.

Ciro spähte durch den Spalt und sah ein langes, dürres, etwa achtzehnjähriges Mädchen in die Diele treten. Es wechselte ein paar Worte mit Gabriele Santoro, dann verschwanden sie im Arbeitszimmer. Wenig später war der helle Klang einer mehrfach angeschlagenen Note zu hören, und im nächsten Moment hatte ihn das monotone Leiern der Fingerübungen in den Schlaf gewiegt.

Nach einer Stunde tauchten der Maestro und seine Schülerin wieder auf. Ciro wurde von ihren Stimmen geweckt und drückte sein Auge an den Spalt.

Das Mädchen hielt Gabriele einen Umschlag hin und sagte: „Das ist für die Stunden diesen Monat.“ Sie gaben einander die Hand und das Mädchen verschwand.

Sekunden später öffnete sich die Luke und das ernste Gesicht seines Beschützers tauchte auf. Ausdruckslos blickten sie einander an, dann half der Maestro ihm hinunter. Kaum hatte Ciro wieder Boden unter den Füßen, fragte er nach dem Alter des Mädchens. „Die sieht aus wie ’n Besenstiel“, meinte er rotzig.

Der Maestro funkelte ihn eisig an und verschwand wieder im Arbeitszimmer, wo er, getreu einer unbewussten Angewohnheit, sogleich ans Fenster trat.

Im Hof wurde gerade ein seltsames Konklave abgehalten: Carmine Acerno redete mit zwei Männern in Maßanzügen. Ihre Haltung erinnerte an eine Beichte: Mit ehrerbietig gesenkten Köpfen traten sie abwechselnd vor, um seinem Geraune zu lauschen. Gebannt von der zärtlichen Grausamkeit dieser rituellen Geste, gewahrte Gabriele die stumpfe, animalische Ruhe, mit der sich Ciros Vater abwechselnd zu den beiden Typen beugte, ihnen über die Wange strich oder sie in stummer Bestürzung anstierte.

Auf einmal schrillte das Telefon, und der Maestro beschloss, es klingeln zu lassen. Nach dem fünften, hartnäckigen Läuten überlegte er es sich anders und griff zum Hörer.

„Gabriele, mein Lieber, störe ich? Ich bin’s.“ Es war die Stimme seines einzigen Freundes im Viertel, Antonio Balsamo, Chefarzt der Radiologie am Ascalesi-Krankenhaus und Konzertfanatiker.

„Ganz und gar nicht.“

„Gut. Ich wollte fragen, ob du nach dem Abendessen Lust auf eine kleine Partie Poker bei mir hast, die übliche Runde.“

Der Maestro hatte nicht die geringste Lust zu pokern, doch angesichts seiner gegenwärtigen Lage war es vermutlich angebracht, die Einladung anzunehmen. Er konnte sich nicht ewig verkriechen, das wäre verdächtig erschienen, und womöglich war das sogar eine gute Gelegenheit, um herauszufinden, was über Ciros Verschwinden in Umlauf war.

„Danke, Antonio, ich komme sehr gern“, haspelte er und legte auf.

Es war sechs Uhr nachmittags, eine dichte, schwarze Wolkenbank hing bleiern am Himmel und schien sich in Zeitlupe zu bewegen. Er musste etwas unternehmen, durfte keine weitere Zeit planlos verstreichen lassen.

Als er zu dem Jungen zurückkehrte, fand er ihn schlafend auf dem Sofa, das Buch von Kipling in der Hand. Er deckte ihn zu, setzte sich neben ihn und wartete, bis er aufwachte. Gegen acht Uhr schlug Ciro die Augen auf, blickte ihn verwundert an und fragte in dem ihm urvertrauten Dialekt:

„Was machst denn du hier?“

Gabriele beschloss, es ihm gleichzutun.

„Hab gewartet, dass du wach wirst.“

„Wieso? Hab ich gepennt?“

„Ja.“

Leicht verschämt sprang der Junge auf.

„Hast im Schlaf ganz schön rumgezappelt. Schlecht geträumt?“

Ciro funkelte ihn finster an.

„Ich hab gar nix geträumt, du bist derjenige, der die Flatter kriegt und ’nen Scheißdreck macht“, stieß der Junge wütend hervor und spuckte auf den Boden.

Ungerührt stand Gabriele Santoro auf, zog sein Taschentuch hervor und wischte die Spucke weg. Als er wieder zu sprechen anhob, verzichtete er auf die komplizenhafte Einvernehmlichkeit des Jargons.

„Wenn es dir bei mir nicht passt, dann such dir jemand anderen, der bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um dich zu verstecken, da draußen gibt es eine Menge Leute, die dich mit offenen Armen empfangen würden. Geh schon, na los, worauf wartest du?“

Ciro stierte ihn so grimmig an, als stünde er kurz vor dem Platzen.

„Glaubste etwa, ich hab Schiss, hier rauszugehen? Ich weiß, wie man einen abmurkst. Vor zwei Wochen hab ich zwei Scheißkerle verrecken sehn.“

Schweigend ließ der Maestro seinen dumpfen Zorn über sich ergehen.

„Du brauchst gar nicht so zu schreien, es ist sonnenklar, dass das nicht stimmt“, flüsterte er.

„Ach ja? Hätt’ste mal sehn sollen, wie der Mesa verreckt ist, die zwei Arschlöcher, die sie im Lager verbrannt haben, und Musella. Da war’n ich und mein Vater, der hat das gemacht, ich hab nur zugeguckt. In ’ner Garage in Borgo Sant’Antonio hat er die kaltgemacht, in die Birne geschossen hat er denen. Hier, mitten auf die Stirn. Paff-paff. Erst den einen und dann den anderen. Als der Erste hin war, hat der andere sich eingeschissen. Echt, Mann, und dann sag noch mal, ich verzapf Scheiß.“

„Halt den Mund“, stöhnte Gabriele, dann sagte er nichts mehr.

Erschüttert schloss er die Augen und musste aus unerfindlichen Gründen an die Geschichte denken, die ihm sein Vater zwei Tage zuvor am Telefon erzählt hatte.

„Deine Mutter hat nie mit mir tanzen wollen, sondern immer nur mit Fremden. Wie Marlon Brando in Der letzte Tango in Paris; sie meinte, es mache ihr nur mit Männern Spaß, deren Namen sie nicht kenne. Wir haben nur ein einziges Mal miteinander getanzt, vor zehn Jahren, in einem Restaurant in Lissabon, wo ein Alter Akkordeon spielte. Als er eine Milonga anstimmte, ist sie aufgestanden und hat mich zum Tanz aufgefordert. Wir fingen an, uns zu drehen, ohne uns um die Blicke der anderen Gäste zu scheren. So war deine Mutter, eigentlich hat sie immer alle manipuliert.“

Gabriele war es unbegreiflich, was den Vater plötzlich zu dieser Vertraulichkeit bewogen hatte, dabei hatten sie eigentlich gerade über etwas ganz anderes gesprochen und der Vater hatte sich in einem inzwischen zur Gewohnheit gewordenen Lamento beklagt, man könne nicht mehr ins Kino gehen – „Die Schauspieler von heute wissen nicht mit ihrer Stimme umzugehen, die nuscheln irgendwas Unverständliches in sich hinein und das Publikum beschwert sich nicht einmal.“ Es war nichts dabei, das Gesprächsthema zu wechseln, doch hatte diese Schilderung ihn erahnen lassen, dass etwas in seinem Vater in Auflösung begriffen war, die Ordnung der Dinge, das künstliche Band, das uns mit der Welt verknüpft, das prekäre Gleichgewicht zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren.

Während er Ciro betrachtete, schalt sich Gabriele Santoro dafür, hinter Carmines Allerweltsvisage nicht den Camorrista erkannt zu haben. Sein gelangweiltes Auftreten hatte ihn stets an einen Beamten denken lassen, an einen Buchhalter oder an einen Anwalt womöglich. Er erinnerte sich, ihn einmal im Gambrinus mit einer Frau gesehen zu haben. Die beiden hatten an einem Tisch gesessen und er hatte ihr anzüglich über die Wange gestreichelt. Die Frau war ebenso blutjung wie hässlich gewesen, mit schiefem Gesicht und ordinärem Auftreten. Irgendwann hatte der Mann bemerkt, dass sie beobachtet wurden, und die Frau hatte sich zu Gabriele umgedreht, war unvermittelt aufgesprungen und davongestürmt. Er und Acerno hatten einen feindseligen Blick gewechselt.

„Heute Abend essen wir zeitig, ich habe später noch etwas vor“, sagte der Maestro, als wäre er aus einer Trance erwacht, und verschwand in der Küche.

„Was willst du? Magst du Pasta alla Sorrentina mit Provolone und Tomatensauce?“

Ciro nickte, und er machte sich daran, die Tropea-Zwiebeln zu schneiden und eine einfache Tomatensauce nach dem Rezept seines sizilianischen Kollegen zuzubereiten, der Kontrabass-Professor war.

Sie aßen schweigend.

„Gehste dein Mädel ficken?“, fragte der Junge plötzlich, während der Maestro die Teller spülte.

Gabriele überlegte einen Moment. „Ja, sie wartet auf mich.“

Als Ciro ihn fragte, ob er den Fernseher anmachen dürfe, zeigte er ihm die Fernbedienung, überlegte es sich dann jedoch anders: Sollte er auf dem Weg hinaus jemandem aus dem Haus begegnen, würde der sich über den laufenden Fernseher in der leeren Wohnung wundern.

„Daran hab ich nicht gedacht“, flüsterte der Junge mit betretenem Lächeln.

Als der Maestro wenig später den Hof durchquerte, drehte er sich zu den Fenstern seiner Wohnung um und sah den Jungen beklommen hinter einem der Wohnzimmerrollläden stehen. Er zwinkerte ihm zu und setzte seinen Weg fort.

Ciros Versteck

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