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2.

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Die ganze Nacht hindurch saß Gabriele Santoro im Sessel seines Arbeitszimmers, wachte über den Jungen und trat hin und wieder ans Bett, um das Fieber zu kontrollieren oder ihm die Decke zurechtzuziehen. Mehrmals hörte er ihn im Schlaf stöhnen, und als die Temperatur abermals stieg, legte er ihm nasse Lappen auf die Stirn.

Weil es ihn beschäftigte, nicht zu wissen, was los war, machte er sich den schwachen Moment des Jungen zunutze und fragte ihn nach dem Grund seiner Flucht. Doch wieder verkroch sich Ciro in undurchdringliches Schweigen und blieb ein Rätsel. Resigniert wartete Gabriele Santoro ab, bis dem Jungen die Augen wieder zufielen, und schloss ebenfalls die Lider.

Gegen fünf Uhr glitt er endlich erschöpft in den Schlaf. Als er nach zwei Stunden erwachte – die Uhr zeigte zehn vor sieben –, trat er zu dem schlummernden Jungen, berührte ihn und stellte fest, dass er sich kühler anfühlte. Erleichtert ging er ins Bad, um sich zu waschen.

Bedächtig und – sofern möglich – mit noch größerer Pedanterie, als er sie sonst bei seiner Morgenhygiene an den Tag zu legen pflegte, begann er sein Gesicht einzuseifen. Als sämtliche zu rasierende Partien mit Schaum bedeckt waren, betrachtete er sich im Spiegel. Ihm wollte kein Vers einfallen, nicht einmal einer von Kavafis. Als wäre die Dichtung der Welt mit einem Mal verstummt. Er musste an das verstörende Flehen in den Augen des Jungen denken, an die Wucht seines unergründlichen Blickes. Was wollten diese Augen? Vor wem hatten sie Angst? Und warum hatte er sich darauf eingelassen, ihn bei sich aufzunehmen?

Er ließ den Rasierer über die Haut gleiten und empfand dabei eine Art wundersame Verlangsamung der Zeit, als wäre die Welt plötzlich stehen geblieben und die Angst des Jungen in ihrem Innehalten ebenso verschwunden wie sein Drang, sie zu verstehen. Dieses Wunder vermochte ihm sonst nur die Musik zu bescheren. Die in einem unendlich komplexen Augenblick gebündelte Zeit, der den Sinn der Ereignisse wandelte und eine Ahnung dessen aufscheinen ließ, was die Zukunft bringen mochte.

Als er die Rasur beendet hatte, wusch er sich das Gesicht und stellte fest, dass er blutete. Ein winziger Schnitt unter der Lippe, eine Lappalie.

Um am Ritual eines gewöhnlichen Morgens festzuhalten, ging Gabriele Santoro zuerst bei Marianos Kiosk vorbei und kaufte sich eine Zeitung. Während er das geschuldete Geld abzählte – sie hatten eine monatliche Vereinbarung und es war der 30. September –, kam ein Mann auf den Kioskbetreiber zu, flüsterte ihm etwas ins Ohr, nahm dessen Kopf in einer vermeintlich herzlichen, aber versteckt bedrohlichen Geste fest zwischen beide Hände und verschwand.

Als sie wieder allein waren, wechselten er und Mariano einen Blick, der für gewöhnlich keinerlei Erklärung bedurft hätte. Doch an diesem Morgen wollte der Maestro nichts ungeklärt lassen, und als er die leise Angst im Gesicht des Mannes sah, mit dem er seit zwanzig Jahren seinen Tag zu beginnen pflegte, fragte er ihn, ob etwas nicht in Ordnung sei. Der Kioskbetreiber antwortete nicht sofort. Er steckte das Geld weg, trat aus dem Büdchen auf den menschenleeren Platz hinaus, stellte sich schweigend vor ihn hin und blickte ihn an.

„Der Sohn von Carmine Acerno is’ verschwunden, Ciro“, raunte er dann wie ein Bauchredner. „Die dreh’n völlig durch, um ihn zu finden. Und dann gehen sie mir damit auf den Sack, als wär’ ich bei ihren Sauereien der Aufpasser.“

Gabriele Santoro beschränkte sich auf ein Nicken.

„Wie ist er denn verschwunden?“, fragte er gespielt beiläufig.

„Abgehauen“, lautete die lapidare wie rätselhafte Antwort.

Die vermeintlich neutrale Information ließ Gabrieles Puls ein wenig schneller gehen.

„Wieso?“

Eine gewagte Frage, wusste er doch, dass die Grundhaltung des Viertels ein Übermaß an Neugierde nicht billigte. Tatsächlich verzog Mariano das Gesicht zu einer ohnmächtig betrübten Miene und breitete die Arme aus.

Unterdessen hatte es heftig zu regnen begonnen. Hastig und ohne, dass es eines weiteren Wortes bedurfte, gingen die beiden auseinander. Mariano verkroch sich wieder in seinen Kiosk, und als könnte die vom Himmel niederstürzende Sintflut seine Unrast fortspülen, machte sich der Maestro im strömenden Regen auf den Weg, um einen Kaffee zu trinken.

Als das Mädchen hinter dem Tresen ihn durchweicht und sichtlich verloren hereinkommen sah, drückte sie ihm eine Rolle Küchenpapier in die Hand und forderte ihn mit einem Kopfnicken auf, sich notdürftig abzutrocknen. Gabriele Santoro lächelte dankbar, und um sie nicht zu enttäuschen, verdrückte er sich auf die Toilette.

Der Raum war klein und ungewöhnlich sauber. In dem winzigen runden Spiegel wirkte sein Gesicht so fehl am Platz wie ein vom Grund der Tiefsee geborgenes Wrack.

Er riss ein Stück Küchenpapier ab und betupfte seinen durchnässten Ärmel. Durch die Kabinenwand zur Damentoilette war eine heisere Frauenstimme zu hören, die jemandem von einem kürzlichen Vorfall berichtete.

„Die Ärmste liegt mit ’nem gebrochenen Oberschenkel und Schädelbruch im Cardarelli, ihr Zustand is’ kritisch. Der steht mit einem Fuß im Grab, der Ciro. Carmine muss ihn finden. Den Rosario, den Sohn von Amitrano, haben sie sich schon geschnappt.“

Dann, als hätte ihr Gegenüber sie zum Leise-Sein ermahnt, verfiel die Frau in einen Flüsterton, der zu einem unverständlichen Wispern verklang.

Begierig auf weitere Gesprächsfetzen, drückte der Maestro sein Ohr an die Kabinenwand, doch gleich darauf war die Klospülung zu hören, dann eine quietschende Türklinke und schließlich die sich entfernenden Schritte zweier Personen. Er wartete ein paar Sekunden, verließ dann ebenfalls das Bad und sah gerade noch, wie die beiden Frauen, von denen er eine als Ciros Mutter erkannte, durch die Eingangstür verschwanden. Er kehrte an den Tresen zurück und bestellte einen Espresso.

Als er die Bar verlassen hatte, begab sich Gabriele Santoro mit hypnotischer Langsamkeit zum Supermarkt, den er mit triefenden Kleidern betrat, womit er die entgeisterten Blicke sämtlicher Anwesender auf sich zog, vor allem der neugierigen Kassiererin, die es sich einfach nicht nehmen ließ, sich ständig in seinen Ernährungsplan einzumischen.

Tropfend steuerte er auf das Gebäckregal zu und wählte zwei unterschiedliche Kekssorten aus, Schokoladenplätzchen und Hagelzuckerkringel, dann setzte er seinen Einkauf fort, griff sich ein Glas Bio-Orangenmarmelade, eine Tüte Milch, Schmelzkäseecken, vier Steaks, eine kleine Packung Ricotta, Tomaten, zwei Mozzarellas, Obst, eine Tüte Chips, vier Dosen Cola und Brot.

„Haben Sie Gäste?“, fragte die Kassiererin gewohnt vorwitzig.

„Nein, ich kaufe nur ein paar Vorräte, in den nächsten Tagen muss ich meinen Unterricht vorbereiten und werde wohl kaum dazu kommen, aus dem Haus zu gehen“, erwiderte der Maestro gelassen.

„Ah“, sagte die Frau nur und zog die Lebensmittel über den Scanner. Bei den Käseecken hielt sie inne.

„Die sollten Sie besser dalassen, die sind ungesund, ich hab mal eine Doku darüber gesehen, was die da alles reintun, sogar alte Schuhabsätze tun die da rein …“

Der Maestro setzte ein verhaltenes Lächeln auf und gab ihr mit einer knappen Geste zu verstehen, sie einzulesen.

Als er wenig später seinen Hauseingang betrat, kam ihm Gaudenzi entgegen, ein netter Mann, der ebenfalls im Haus wohnte und im Postamt arbeitete. Gabriele grüßte ihn im Vorbeigehen, eilte mit baumelnden Einkaufstüten auf die geöffnete Fahrstuhltür zu und sah, dass bereits jemand im Aufzug stand: Carmine Acerno, Ciros Vater.

So nah war er ihm noch nie gekommen, bislang waren sie einander nur flüchtig auf der Straße begegnet. Der Mann war um die fünfzig und hatte ein rundes, glattes Gesicht, das in unergründlicher Stumpfheit versunken schien.

Wie üblich grüßten sie einander mit einem unmerklichen Nicken. Der Maestro schloss die Tür, drückte den Knopf seines Stockwerks – das vierte –, drehte sich hastig um, um dem Mann nicht den Rücken zuzuwenden, und hatte ihn so dicht vor der Nase, dass er seinen säuerlichen Dunst wahrnehmen konnte. Der Mann stierte ihn an, als wollte er seine Seele durchleuchten. Er sah aus, als hätte er ebenfalls die ganze Nacht kein Auge zugetan.

Um das spürbare Unbehagen zu überspielen und als wollte er die quälende Langsamkeit des Fahrstuhls messen, fing Gabriele Santoro an, mit der Hand metronomisch den Takt zu schlagen. Als er Carmines Blick nicht mehr standhalten konnte, sah er in den Spiegel und traf auf sein verschwitztes, müdes, verschrecktes Gesicht.

Mit einem Ruck hielt die Kabine auf dem Stockwerk, die Türen öffneten sich, und endlich konnte der Maestro mit rasendem Herzen aussteigen, doch als eingefleischter Perfektionist und fieberhaft darum bemüht, sich seine Verstörung nicht anmerken zu lassen, bedachte er seinen Mitfahrer mit einem letzten, förmlichen Nicken, ehe sich die Türen wieder schlossen.

Kaum war er in seiner Wohnung, stellte er die Tüten auf dem Boden ab und machte sich auf die Suche nach dem Jungen. Im Arbeitszimmer war er nicht. Vermutlich war er in der Küche. Doch nachdem er die gesamte Wohnung einschließlich des Hängebodens hektisch abgesucht hatte, musste er sich der unerfreulichen Tatsache stellen: Ciro war fort.

Ungläubig starrte er aus dem Fenster. Auf dem kleinen Platz stritten zwei Typen miteinander, Carmines übrige Kinder spielten Fußball, der Tabakladenbesitzer, das Hinkebein, stand vor der Ladentür und rauchte eine seiner täglichen fünf Zigaretten. Sonst war niemand zu sehen.

Niedergeschlagen und erleichtert zugleich ließ Gabriele Santoro sich in den Sessel seines Arbeitszimmers fallen, wo er bis elf Uhr sitzen blieb und seinen Gedanken nachhing. Er überlegte, ob der Junge wohl zu seinen Eltern zurückgekehrt und liebevoll von ihnen aufgenommen worden war. Nicht sonderlich überzeugt von dieser Vermutung und um die Nervosität loszuwerden, legte er in voller Lautstärke eine seiner Lieblingsplatten auf, die Sonate für Violine und Klavier in A-Dur von César Franck, gespielt von David Oistrach und Swjatoslaw Richter. Doch mitten im Allegretto gellte plötzlich der durchdringende Ton der Türklingel durch die Wohnung: einmal, zweimal, dreimal.

Er lief zum Spion, doch dort war niemand. Er wollte gerade kehrtmachen, als es wie wild an die Tür hämmerte. Hastig riss er die Tür auf und blickte in die eingefallenen Augen des Jungen, die ihn herausfordernd anstarrten. Er zerrte ihn in die Wohnung, spähte auf den Treppenabsatz hinaus, um sicherzugehen, dass niemand sie beobachtet hatte, und schloss die Tür.

„Bist du irre? Wo warst du?“, blaffte er mit mühsam unterdrückter Wut.

„Ich hab dich nicht gefunden und hab gedacht, du bist bei mein’ Papa.“

„Und wo hast du dich versteckt?“

„In der leeren Pförtnerwohnung, da bin ich immer mit Rosario.“

„Wer ist Rosario?“

„Mein Freund, Rosario Amitrano.“

Damit erschöpfte sich das Gespräch und wich einer stummen Feindseligkeit, die den ganzen Vormittag anhielt.

Gegen zwei Uhr kam der Junge zu ihm und verkündete, er habe Hunger, woraufhin der Maestro wortlos in der Küche verschwand, um ein Steak zu braten und Tomaten zu schneiden, und kurz darauf saßen sie noch immer wortlos bei Tisch und wechselten nur gelegentlich lange, fragende Blicke.

Als sie mit dem Essen fertig waren, fragte er Ciro abermals, wovor er davonlaufe. Und abermals blieb ihm der Junge eine Antwort schuldig.

„Also, deinen Freund, Amitranos Sohn, den haben sie schon geschnappt. Wenn du willst, dass ich dir helfe, solltest du mir besser sagen, was ihr ausgefressen habt.“

Bei dieser Nachricht erstarrte die Miene des Jungen zu einer steinernen Maske.

„Woher weißt du das?“, fragte er.

„Ich weiß es“, gab der Maestro lakonisch zurück. Ciro sprang auf, flitzte davon und warf sich aufs Bett.

Als er die nervöse Anspannung gegen vier Uhr nachmittags nicht mehr ertrug, beschloss Gabriele Santoro schweren Herzens, seinen Bruder Renato anzurufen, der Staatsanwalt war, und ihn um ein Treffen zu bitten, um mit ihm über die merkwürdige Misslichkeit eines Freundes zu sprechen. Der Jurist schwieg einen langen Augenblick und entgegnete dann, er habe über ein Jahr nichts von ihm gehört.

„Du meldest dich nach so langer Zeit, um mich um einen Rat für deinen Freund zu bitten? Vielleicht sollten wir erst einmal unsere eigenen Angelegenheiten klären, meinst du nicht, Gabriè?“

Der Maestro hatte mit dem Unmut des Bruders gerechnet, er war darauf eingestellt, ein weiteres Mal das sinnlose Ritual zu durchlaufen, mit dem sie ihren Zwist zelebrierten und Probleme aufrührten, für die es nie eine Lösung geben würde. Also verabredeten sie sich für den nächsten Tag in einer Trattoria unweit der Staatsanwaltschaft beim Centro Direzionale.

Gabriele Santoro verbrachte die Nacht mit der halbherzigen Lektüre einer Ravel-Biografie, doch die meiste Zeit betrachtete er den schlafenden Jungen, als könnte er so hinter das unlösbare Rätsel gelangen, das in seinen Zügen aufschimmerte.

Als sie am nächsten Morgen beim Frühstück saßen, stellte Ciro ihm aus heiterem Himmel eine Frage, die ihn zutiefst verstörte: „Was hast du mit mir vor?“

Statt zu antworten, behauptete er, darüber habe er noch nicht nachgedacht. In Wirklichkeit hatte er die ganze Zeit nichts anderes getan, doch die sich überschlagenden Ereignisse hatten ihm nicht die nötige innere Ruhe gelassen, einen Plan zu schmieden.

Als er die Wohnung verließ, verabschiedeten sie sich voneinander, als würden sie schon seit einer Ewigkeit zusammenwohnen. „Ich muss was erledigen“, sagte der Maestro nur zu dem Jungen, der beklommen nickte. Auf dem Weg zur Treppe fragte er sich, ob er ihn einschließen sollte. Ja, beschloss er, das sollte er, auch wenn er sich dabei wie ein Gefängniswärter vorkam.

Ciros Versteck

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