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3.

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Der Bruder war ein gut aussehender, nicht uneitler Mann. Gabriele betrat die Trattoria und blieb stehen, um ihn heimlich zu mustern und sich über das fragliche Thema noch einmal klarzuwerden, ehe er es damit aufnahm. Mit dem gemessenen Habitus eines Menschen, der sich stets im Zentrum der Aufmerksamkeit wähnt, schrieb der Staatsanwalt etwas in ein Notizbuch.

„Ciao, Renato“, sagte der Maestro verhalten. Langsam und mit kaum verhohlenem Unmut drehte sich der Angesprochene um.

„Du bist zwanzig Minuten zu spät, nicht ein einziges Mal geht es ohne deine Laxheit.“ Obwohl er der jüngere Bruder war, lag in seiner Stimme ein unüberhörbar paternalistischer Ton.

„Pünktlichkeit ist der Dieb der Zeit, pflegte Oscar Wilde zu sagen. Und es sind nur zehn Minuten. Deine Uhr geht ein wenig vor.“

„Na schön, Gabriè, lass gut sein. Schau lieber nach, was du essen willst, ich habe nämlich schon bestellt.“

Renato reichte ihm die Speisekarte, die der Maestro eingehend studierte, während er sich darüber klarzuwerden versuchte, wie er das Gespräch beginnen sollte.

„Ich glaube, ich nehme die Pasta mit Kartoffeln, und du?“

„Ich nehme gedämpften Graubarsch mit Bohnen.“

„Willst du Wein?“

„Du weißt, dass ich um diese Uhrzeit nicht trinke.“

„Ich nehme einen Viertelliter.“

Nachdem der Kellner die Bestellung aufgenommen hatte, stürzten sich die beiden Brüder in die Abgründe ihrer leidigen Familienangelegenheiten. Eine rechte Höllenfahrt. Sie führten das hinlänglich erprobte Theaterstück des Familienstreits auf, die improvisierte Dramaturgie eines Szenariums, das nie einen Schluss haben würde.

Renato spielte den Pflichtbewussten und schob dem Bruder die Rolle des verantwortungslosen, asozialen Egoisten zu. Teilnahmslos hörte Gabriele zu und wich den Vorwürfen und Anfeindungen mit eleganter Gleichgültigkeit aus, als säße er gelangweilt in einem Film, den er bereits kannte.

Als ihm das bleierne Schweigen nach der unerquicklichen Diskussion unerträglich wurde, kam der Staatsanwalt auf den eigentlichen Grund ihres Treffens zu sprechen:

„Was wollte denn dieser Freund, den du am Telefon erwähnt hast?“

Also begann der Maestro, sich seine Geschichte von der Seele zu reden, als hätte er nichts damit zu tun. Er berichtete von einem Typ, einem Kollegen, in dessen Wohnung eines Abends plötzlich ein zehnjähriger Junge gestanden und ihn um Hilfe gebeten habe. Der Junge wohnte im selben Mietshaus und wollte sich verstecken, weil er etwas Schlimmes ausgefressen hatte und fürchtete, dafür bestraft zu werden. Am meisten schreckte ihn die Aussicht, zum Vater zurückgebracht zu werden. Weil dem Freund der Verdacht gekommen sei, die Camorra hätte etwas damit zu tun, habe er ihn bei sich versteckt und versuche nun, einen Ausweg aus diesem Schlamassel zu finden. Aber was hätte er sonst tun sollen? Den Jungen zu den Eltern zurückbringen, vor denen er weggelaufen war? Oder hätte er ihn der Polizei übergeben sollen, die ihm gesagt hätte: Guter Mann, wir kümmern uns um Verbrechen, nicht um Vermutungen. Ganz zu schweigen davon, dass das zuständige Kommissariat bei De Vivo, dem Boss des Viertels, gelinde gesagt, ein Auge zudrückte. Also? Wie konnte man ihm helfen? Was sah das Gesetz in einem solchen Fall vor?

Nachdem er die Geschichte in einem Atemzug erzählt und seine Fragen gestellt hatte, hielt Gabriele Santoro erwartungsvoll inne.

Sein Bruder musterte ihn noch immer mit undeutbarer Miene und setzte schließlich seinen eisigen Robespierre-Blick auf, den der Maestro nur zu gut kannte.

„Ich glaube dir kein einziges Wort“, hob Renato zischend an, „und ebenso wenig glaube ich, dass diese Geschichte einem Freund von dir passiert ist, in Wahrheit geht es um dich, aber du hast nicht den Mumm, es zuzugeben, und das völlig zu Recht, denn die Angelegenheit könnte dir zum Verhängnis werden, mein lieber Gabriele, zum Ver-häng-nis.“

Der Staatsanwalt verstummte, ließ den Blick über den Tisch wandern, goss sich nervös einen Schluck Wein ein und leerte das Glas in einem Zug.

„Dass du leichtfertig bist, wusste ich schon immer“, fuhr er mit gepresster Stimme fort, „aber dass es so weit mit dir kommen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten. Du musst diesen Jungen unverzüglich zu seiner Familie zurückbringen, das ist das Einzige, was du tun kannst. Andernfalls riskierst du eine Anklage wegen Kindesentführung, dafür kannst du drei bis zwölf Jahre kriegen, das sage ich dir gleich. Und ich muss dir gewiss nicht erklären, was die Camorristi mit dir anstellen, sobald sie spitzkriegen, dass du den Jungen versteckst. Ist dir das klar?“

Gabriele Santoro ließ die drohende Frage an sich abperlen und sah Ciros Gesicht vor sich, in dem der Blick eines gehetzten Tieres lag.

Die ganze Sache war vollkommen wahnsinnig, in diesem Punkt war er mit seinem Bruder einig, doch die möglichen Konsequenzen ließen ihn völlig kalt.

„Das heißt, von Gesetzes wegen ist dieser Junge geliefert?“ Er rückte noch ein Stück an Renato heran und blickte ihm geradewegs in die kalten, strengen Augen. Die Frage war denkbar einfach und die einzige, die für ihn zählte.

Er konnte die auflodernde Wut seines Bruders spüren, und schon ging eine aufgebrachte Wortlawine über ihn nieder.

„Von welchem Gesetz redest du überhaupt, von welchem Scheißgesetz redest du, Gabriele, von dem Gesetz, das du dir ausgedacht hast? Als könntest du nach Lust und Laune darüber verfügen, als wäre es dazu gemacht, um es der Fantasie zu überlassen. Denn von nichts anderem reden wir hier, wir reden von einer Geschichte, die sich ein Kind mit allzu lebhafter Fantasie zurechtgesponnen hat und über die du nichts weißt. Nullum crimen sine lege, nulla poena sine judicio, in dubio pro reo, audiatur et altera pars. Sagt dir das gar nichts? Von welcher Rechtsprechung redest du?“

„Antigone, sagt dir der Name nichts, Renato?“ Verärgert, dass er sich zu einer Erwiderung hatte hinreißen lassen, biss sich der Maestro auf die Zunge.

„Na bitte. Antigone hat gerade noch gefehlt. Leute wie du müssen sie immer wieder hervorkramen, ihr könnt einfach nicht anders, ohne das Fräulein der schönen Seelen lohnt es sich nicht zu tanzen. Nun, ich muss dich enttäuschen, Gabriele, doch mein Gesetz ist das des engstirnigen Kreon. Sein Bemühen, das Urteil zu entpersönlichen und Ordnung in das Chaos zu bringen, erscheint mir nützlicher, konkreter und maßvoller als Antigones Reinheitsdurst. Das ist Gerechtigkeit, der bescheidene Versuch, Ordnung in das Chaos zu bringen, die Finsternis, die uns umgibt, mit dem matten Licht zu erhellen, über das wir verfügen, und nicht mit dem Licht des Absoluten. Das gehört in die Literatur.“

Sie verfielen in abgründiges, feindseliges Schweigen und Gabriele dachte wieder an Ciro, überlegte, was er wohl gerade machte, und fragte sich, ob er sich noch fürchtete. Ihm kamen Abraham und dessen Sohn Isaak in den Sinn und in einem wirren Gedankenstrudel landete er schließlich bei Jeremias und den Kinderspuren.

Schließlich sprang sein Bruder auf, um zu zahlen, und der Maestro versuchte gar nicht erst, ihn davon abzuhalten und halbe-halbe zu machen. Er wartete, bis er zurückkehrte, und sagte:

„Es tut mir leid, dass du so denkst.“

Wie zu erwarten, wollte Renato ihm nicht das letzte Wort überlassen, sondern nahm sogleich wieder Platz, ergriff seinen Arm und bedachte ihn in gefasstem Ton mit einer letzten Warnung:

„Hör mal, Gabriele, wir beide werden uns nie verstehen, du hast vor vielen Jahren deine unbegreiflichen Entscheidungen getroffen und zahlst mit deinem beschissenen Leben in einem beschissenen Viertel voller beschissener Menschen tagtäglich den Preis dafür. Das war dir lieber als deine eigene Geschichte, weil dir, wie du selbst gesagt hast, vor der Familie graust. Ich habe andere Entscheidungen getroffen und bin endlich an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt. Wenn nämlich alles so läuft, wie es soll, werde ich in einem Monat in den Obersten Gerichtsrat gewählt, und glaub mir, diesmal werde ich nicht zulassen, dass du mir wie schon so manches Mal dazwischenfunkst. Nein, das werde ich nicht zulassen. Also, ruf mich nicht an, schreib mir nicht, vergiss, dass es mich gibt, vergiss sogar, dass ich dein Bruder bin. Aber ich will dir noch etwas sagen. Hör gut zu, Gabriele, ich glaube, dass es in deiner Lage ein Irrsinn wäre, mit diesem Abenteuer weiterzumachen. Sollten dir die Polizei oder die Justiz auf die Schliche kommen, und ich hoffe inständig, das wird nicht passieren, wärst du in ernsten Schwierigkeiten, verstehst du?“

Renato schüttelte ein letztes Mal seinen Arm, stand auf und verließ das Lokal.

Der Maestro war sprachlos, er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Bruder so feiger Gedanken fähig wäre.

Als er das Restaurant verlassen hatte, streifte er eine Stunde lang ruhelos umher und fand sich schließlich unversehens vor dem Eingang einer Polizeiwache wieder. Er betrat die Halle, und ein albinotischer Polizist fragte ihn, wie er helfen könne. Er wünsche mit dem diensthabenden Beamten zu sprechen, nuschelte der Maestro zerfahren.

„Worum geht es?“, erkundigte sich der Polizist.

„Das ist vertraulich“, flüsterte Gabriele Santoro. Es sei nur der Vizekommissar im Haus, doch der habe gerade zu tun, entgegnete der Polizist und wies ihm das Wartezimmer.

Der enge, ringsum verglaste Raum war voller Menschen. Der Maestro nahm Platz, musterte die Gesichter seiner Leidensgenossen und versuchte, sich zum Zeitvertreib die Straftaten, Diebstähle und Gewalttaten auszumalen, von denen sie Meldung machen wollten.

Nach einer Weile befiel ihn ein eigenartiges Unbehagen, als entwüchse der Verbindung zwischen den anwesenden Gesichtern und seinen Mutmaßungen etwas zutiefst Verstörendes. Also beschloss er, sich in sich selbst zu verkriechen, und tauchte erst wieder auf, als aus dem Korridor schallendes Gelächter herüberdrang.

Ein Mann mit stumpfem Bulldoggengesicht und pockennarbiger Haut flachste mit zwei Typen, die Gabriele Santoro als De Vivos Männer erkannte.

Schließlich umarmten ihn die beiden, küssten ihn und gingen davon. Der albinotische Beamte nutzte die Gelegenheit, näherte sich dem hundegesichtigen Mann und murmelte ihm etwas zu. Aus der Art, wie der Mann sich umdrehte und zu ihm herübersah, schloss der Maestro, dass er der Vizekommissar sein musste. Ihre Blicke trafen sich kurz, dann schnippte der Mann seine Zigarette auf den Boden, trat sie zweimal mit dem Schuh aus und verkroch sich wieder in seinem Büro.

Der Albino betrat das Wartezimmer, flüsterte ihm salbungsvoll zu, er müsse sich noch eine Minute gedulden, und verschwand wieder.

Kurz darauf stand Gabriele Santoro auf und ging.

Ruhelos wanderte er durch die Straßen und verlor sich in düsteren, zermürbenden Gedankenschleifen. Irgendwann fand er sich erschöpft auf der Uferpromenade der Via Partenope wieder.

Es herrschte der übliche Rummel, Kellner versuchten, ausländische Touristen anzulocken, doch das Meer funkelte in warmem Licht, auf das eine gelegentliche schwarze Wolke ihren düsteren Schatten warf. Eine Weile stand er da und betrachtete das Treiben der Menschen in den Gassen des Borgo Marinaro, dann kam ihm in den Sinn, dass Ciro sich inzwischen bestimmt Sorgen machte. Ich sollte besser zurückgehen, sagte er sich. Immerhin hatte er nie jemanden gehabt, der daheim auf ihn wartete – ein völlig neues und keineswegs unangenehmes Gefühl.

Ciros Versteck

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