Читать книгу Der alte Mann und das Haus - Roland Exner - Страница 4
ОглавлениеDie Begegnung
Elke verrichtete ihre Arbeit so wie sonst immer, vielleicht etwas langsamer, weil sie ständig die ganze Umgebung beobachtete, auch nach Spuren suchte. Sie entdeckte aber nichts Verdächtiges.
Mittags kochte sie einen großen Topf pürierte Kartoffelsuppe, den konnte sie leicht aufwärmen, falls die Klübers nach ihrer Rückkehr noch etwas essen wollten. Als die Suppe fertig war, hatte sie eine Idee. Sie stieg die Treppe hoch und rief: "Herr Reuß, haben Sie keine Angst, ich bin allein im Haus, kommen Sie in die Küche, ich habe Suppe für Sie!" Auf den Dachboden wagte sie sich allerdings nicht, da war es an manchen Stellen so eng und so dunkel. Und in den Keller stieg sie auch lieber nicht hinab.
Nachdem sie das Suchen im Haus ohne Schaden überstanden hatte, ging sie in die alte Werkstatt, in die Scheune und in die Stallungen und rief nach dem alten Mann. Es rührte sich nichts. Sie ging in die Küche zurück und begann, die Suppe zu essen. Es vergingen etwa zehn Minuten, da hörte sie etwas vom oberen Stockwerk herabtapsen. Da ganz oben war er also gewesen! Sie legte den gerade mit Suppe gefüllten Löffel auf den Teller zurück, presste die Hände vor die Brust und saß regungslos auf dem Stuhl. Sie stand langsam auf, schaute sich hastig um, zog einen eisenbeschlagenen Stiel aus dem Papierkorb, es war der Griff eines ehemaligen, zusammenklappbaren Spatens - schlich bis an die geöffnete Küchentür. Das Knarren kam von ziemlich weit oben, er war nun schon mindestens eine Treppe tiefer, wahrscheinlich kam er aus einer der beiden Dachkammern. Nein, die waren ja mit dicken, alten Schlössern verriegelt. Die Klübers hatten die nie geöffnet… Es schien endlos lange zu dauern. Dann sah sie ihn. Beide schienen wie erstarrt und standen sich wie versteinerte Figuren gegenüber. Der Alte sah entsetzlich aus: Die weißen Haare zerzaust, Backen, Kinn und Hals voller weißer Bartstoppeln, die Augen gerötet. Er trug einen dunklen, stark verschmutzten Mantel, also keine Steppjacke, wie in der Suchmeldung angegeben - und in der linken Hand einen Leinenbeutel, in dem Bücher zu sein schienen.
"Kommen Sie, essen Sie eine warme Suppe!" rief Elke mit bebender Stimme. "Sie brauchen keine Angst zu haben."
"O danke, danke", stammelte der Alte leise und kam ächzend die Stufen hinab. Elke ließ den Spatenstiel fallen, ging dem Alten entgegen und stützte ihn unter dem Arm; er stank fürchterlich. "Danke, ich danke Ihnen", wiederholte er mit brüchiger Stimme. "Das ist mein Haus, verstehen Sie. Ich will nicht in dieser Klinik sterben, ich will hier sterben..."
"Sie sterben noch lange nicht", sagte Elke schnell, "essen Sie erst einmal, kommen Sie. Sie müssen ja halb verhungert sein.“
Sie führte ihn zum Tisch und gab ihm einen Teller Suppe.
Der Alte tat ihr leid, und er tat ihr noch mehr leid, weil sie sich vor ihm ekelte; dieser beißende Gestank, und nun bekleckerte er auch noch seinen Bart. Sie legte ein paar Servietten auf den Tisch, das verstand er Gott sei Dank: Er wischte sich den Bart ab und schob den nur halb geleerten Teller von sich. Elke war gekränkt. "Schmeckt die Suppe nicht?" fragte sie. Der Alte schien sich zu erschrecken. "Nein! Nein! Die schmeckt gut!“ Seine zuvor etwas zittrige Stimme klang nun fast normal, „Ich kann nicht mehr essen. Ich esse immer sehr wenig..."
Elke nickte höflich, glaubte ihm aber nicht so recht.
Sie beobachtete sich etwas im Spiegel, ja, sie wirkte ganz ruhig, obwohl sich ihre Gedanken in einer wilden Hetzjagd verhedderten. Was um Himmels Willen sollte sie jetzt mit diesem Menschen machen? Er wollte hier bleiben und sterben. Wie sollte das denn gehen? Wenn der Polizist nicht da gewesen wäre, würde sie den Alten nun ganz bestimmt für irre halten; nie hätte sie ihm geglaubt, dass dies einmal sein Haus gewesen war.
Sollte sie den Klübers alles erzählen? Das wäre wohl zu riskant. Klüber war in der NSDAP gewesen, und seit 1965 war er Stadtrat, und als solcher hatte er immer wieder betont, dass er stolz sei, deutscher Soldat gewesen zu sein. Elke war es immer peinlich, wenn er davon erzählte. Und die Polizisten vom benachbarten Staffelstein waren seine Freunde, der Chef der Polizeiinspektion war auch Stadtrat... O, nein, das arme alte graue Gespenst wäre verloren, wenn Klüber etwas erführe. Und dann kam ja noch hinzu, dass die Klübers in seinem ehemaligen Haus wohnten… Irgendetwas stimmte da nicht.
All dies dachte sie nicht in klarer Folge; die Gedanken brodelten in einem Gemisch aus gedachten Sätzen, Ahnungen und Ängsten, dann doch wieder vermischt mit der Frage, ob sie nicht doch verpflichtet sei, den Klübers alles zu erzählen, doch wenn dieser Gedanke aufblitzte, fuhr ihr zugleich der Schrecken in die Glieder. Im Grunde wurde ihr damit erst klar, wie sie von den Klübers dachte, obwohl sie eigentlich gut behandelt wurde, und auch über die Bezahlung und die Wohnung konnte sie nicht klagen.
Während also dieser Johann Reuß nun doch noch ein paar Löffel von der Suppe schlürfte, begann sie sich damit abzufinden, dass sie diesen Mann in diesem Haus verstecken musste, es war eigentlich Wahnsinn... Der nun so eindeutige Gedanke verstopfte ihre Kehle, einen zweiten Teller Suppe – wie sonst immer – mochte sie nun auch nicht... Gab es wirklich keine andere Möglichkeit? „Wo waren Sie denn in der Nacht?“ platzte sie heraus.
„In der einen Dachkammer…“ Seine Stimme war nun wieder ganz leise und zittrig. Sie fühlte sich seltsam klamm… als würden ihre Gliedmaßen kalt und steif werden. Die Kammern waren seit Jahrzehnten verschlossen… mit großen schweren Vorhängeschlössern…
Der Alte hatte seine Suppe nun doch ganz aufgegessen und wischte sich mit zittrigen Händen den Bart ab. Die roten, entzündeten Augen wässerten ständig, ein trauriger, müder Quell, der in unzähligen Runzeln versickerte.
"Danke", sagte er leise, "danke... ich hab' schon lange nicht so gut gegessen." Sie freute sich, dass er seinen Teller ausgelöffelt hatte, tätschelte seine großen, knöchernen Hände und forderte ihn auf mitzukommen.
"Ja, ja," stammelte er. "Wohin denn? Wohin denn?"
Er kam allein nur langsam die Treppe hoch; sie stützte ihn. „Ich will hier nur sterben“, stammelte er, „bringen Sie mich nicht in die Klinik zurück.“ Sie versprach, dass er bleiben könne.
„Wie sind Sie denn hier gestern unbemerkt hochgegangen?“ fragte sie. Er habe sich einfach langsam vorbeigeschlichen, erwiderte er; Sie waren alle in der Küche.“ Sie lachte etwas gequält… Vielleicht war er doch ein Gespenst?
Sie brachte ihn in ihr Zimmer; er bewegte sich sehr langsam und ziemlich wacklig, aber er konnte sich fast ohne Hilfe ausziehen und duschen. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie keine Angst mehr hatte. Es war einiges sehr rätselhaft, aber es war nicht mehr unheimlich. Nicht mehr ganz so unheimlich. Und sie ekelte sich nicht mehr, es schien alles ganz selbstverständlich oder notwendig zu sein. Sie zog ihm ein Nachthemd über, half ihm in ihren Bademantel und führte ihn zu ihrem Bett. Der Alte hatte bisher alles mitgemacht, was blieb ihm auch anderes übrig. Nun aber sträubte er sich zum ersten Male.
"Ich... ich… ich kann doch nicht in Ihr Bett!" stotterte er.
"Meinen Sie, ich lasse Sie hier auf dem Fußboden schlafen? Kommen Sie, keine Widerrede. Ich finde hier im Haus genug Decken für ein Nachtlager.“
„Da oben in der Kammer ist eine Pritsche“, sagte er. „Da will ich wieder hin… Ich will hier doch nur sterben.“
„Jetzt gehen Sie bitte in das Bett hier“, bestimmte sie. „In die Dachkammer gehen Sie nicht zurück, da ist es zu kalt!“
Der Alte murmelte einige unverständliche Worte, ließ sich aufs Bett sinken und schlief sofort ein. Sie lockerte den Gürtel seines Bademantels, rollte ihn etwas zur Seite, zog vorsichtig die Bettdecke unter ihm hervor und deckte ihn zu. Der Alte wurde wach, blinzelte durch die tiefen Runzeln, stammelte noch einmal danke ; Sekunden später schien er wieder zu schlafen. Wahrscheinlich verstellt er sich und schläft noch gar nicht, dachte Elke. Oder doch, er schlief, sein Gesicht sah aus wie eine Totenmaske, der Mund halboffen, die Backenknochen überdeutlich unter der dünnen, gespannten Haut, und dann die Blässe. Sie starrte ihn an, nur wenn sie genau hinsah, bemerkte sie die fast unmerklichen Atemzüge. Er war immer noch so etwas wie ein Gespenst; sie sah ihn, er war hier in ihrem Zimmer, in ihrem Bett, aber sie konnte es eigentlich nicht glauben. Und was würde erst sein, wenn die Klübers das alles wüssten!
Sie raffte die verdreckten Kleidungsstücke zusammen, brachte sie in den Keller und stopfte sie in die Waschmaschine. In der Wohnung der Klübers klaute sie einfach etwas Wäsche, das war sehr kühn, aber, so dachte sie, notwendig. Sie hatte eigentlich nur Zugang zur Küche, Bad und Wohnzimmer, wusste aber, wo der Schlüssel fürs Schlafzimmer versteckt war. Sie achtete darauf, keinerlei Spuren zu hinterlassen, weil dann das Risiko nicht allzu groß war. Die beiden stritten sich oft, wer was vom anderen verlegt hatte; auch Elke wurde hin und wieder beschuldigt. Bisher hatte man meist alles irgendwann wieder gefunden, das würde auch diesmal so sein, wenn vielleicht auch etwas später als sonst.
Dann ging sie ganz nach oben.
Am Ende der Treppe war eine Tür, dahinter Dämmerlicht, ein Korridor mit einem winzigen Dachfenster, auf der rechten Seite die zwei Dachkammern; sie knipste das Licht an… In dem Schloss, das die Tür zur ersten Dachkammer versperrte, steckte ein Schlüssel - und das Schloss war geöffnet…
Also wenigstens war der Alte nicht als Geist durch die verschlossene Tür gegangen…
Sie war erstaunt, wie groß die Kammer war, eigentlich schon – infolge der Gaubenkonstruktion - ein kleines, lichtdurchflutetes Zimmer, etwa vier Meter lang, drei Meter breit, ein kleiner Tisch, ein Stuhl, ein geflochtener Schaukelstuhl, trotz Spinnweben und Staub als Prachtstück zu erkennen. Wahrscheinlich war er damals hier in der Werkstatt gefertigt worden… ein schöner alter Bauernschrank, eine Pritsche, daneben ein Nachttisch, etwas Geschirr, eine große Schüssel und ein großer Krug, darüber ein Spiegel, alles scheinbar uralt und verstaubt. Auf dem Boden dicker Staub, in dem der Alte Spuren hinterlassen hatte.
Er hatte die Pritsche tatsächlich benutzt. Hinter der Pritsche lag eine völlig verstaubte Decke; er hatte sie offenbar von der Pritsche entfernt und saubere, gut erhaltene Decken aus dem Schrank genommen. Sie legte die Decken sorgfältig zusammen und stapelte sie wieder in den Schrank.
Sie verriegelte die Tür, versperrte den Riegel mit dem Schloss und steckte den Schlüssel ein.
Als sie in ihre Wohnung zurückkam, saß der alte Mann auf dem Bett und atmete heftig mit schweren röchelnden Atemzügen. „Um Gottes willen, was ist denn passiert?“ rief Elke.
Es war gar nichts passiert, außer, dass der Alte plötzlich glaubte, Elke sei weggegangen, um die Polizei zu rufen, und nun musste sie wieder einige Male erklären, dass sie das nicht tun würde und dass er da bleiben könne. „Ich hab die Dachkammer wieder verschlossen“, sagte sie. „Wenn es draußen wärmer wird, kann ich Sie da gut verstecken. Aber woher hatten Sie denn den Schlüssel?“ Er lächelte. „Mein altes Versteck, ein kleiner Hohlraum in den Dielen…“
Elke sah dem Alten in die wässrigen Augen, nahm mit ihrer Rechten seine Hand, die Linke legte sie auf seine Schulter. „Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte sie sanft, „Sie sind hier zu Hause, ich helfe Ihnen, dass Sie hier zu Hause sein können.“
Seine Hand zuckte und wackelte heftig, sie umarmte ihn kurz und wandte sie sich ab, weil ihr ein paar Tränen aus den Augen kullerten.
Dann tat sie einfach, was notwendig war. Schneeschippen, abwaschen, und zwischendrin immer wieder nachschauen, was der Alte machte. Er schlief, und als die Abenddämmerung begann, schlief er immer noch. Aber sehr unruhig. Er drehte sich von einer Seite auf die andere, gleichzeitig sah es so aus, würde er festgehalten werden – und als würde er schreien, aber er röchelte nur, dies allerdings ganz entsetzlich. Elke versuchte ihn zu wecken, was aber nicht gleich gelang. Sie schüttelte seine Schultern, er schien sich zu wehren, öffnete hin und wieder die Augen, aber er wurde nicht wach. Erst als sie seinen Namen in sein Ohr trompetete und ihn mit strenger Stimme aufforderte, wach zu werden, hatte sie Erfolg. Er rang nun allerdings so entsetzlich nach Luft, dass sie glaubte, sie habe eine Herzattacke bei ihm ausgelöst. Nach einigen Minuten hatte er sich aber beruhigt; er sah sie nur noch maßlos erstaunt an. "Sophie?" ächzte er, "wo kommst du denn her?" Seine Blicke jagten durchs Zimmer. "Und wie komm' ich hierher?"
War er vielleicht doch verrückt? "Ich bin keine Sophie!" erwiderte sie hastig. "Ich bin Elke Meusel! Ich bin die Haushälterin bei Familie Klüber. Gestern abend habe ich mit der Taschenlampe in die alte Werkstatt geleuchtet und Sie plötzlich gesehen. Ich hab' mich wahnsinnig erschrocken…“
Sie hielt inne, als müsse sie den Schrecken noch einmal verdauen.
Der Alte starrte sie noch immer an. "Sie sehen aber aus wie Sophie. Meine Güte, Sie sehen aus wie Sophie!" "Ihre Fantasie geht mit Ihnen durch", sagte Elke. "Ich bin keine Sophie, sondern Elke Meusel, verstehen Sie?"
Er schien etwas sagen zu wollen, aber sie sprudelte weiter – dass die Klübers am frühen Morgen nach Nürnberg gefahren seien, die Meldung im Radio, dann der Polizist. Wie sie im Hause nach ihm gerufen habe, dann sei er die Treppe herunter gekommen. Ob er sich nun erinnere, fragte sie eindringlich.
Der Alte stützte sich mit großer Mühe auf die Ellenbogen. "Ich bin zu Hause", stammelte er, "ich bin zu Hause."
Seine Stimme war leise und brüchig. "Das Zimmer... die Möbel... Ich bin zu Hause… Und du hast dich auch nicht verändert, du siehst genauso aus wie damals!"
"Aber du siehst nicht aus wie damals!" schrie Elke, um fast im selben Moment ihre Hände vor den Mund zu schlagen.
Er richtete sich ächzend auf. "Ich träume doch wohl", sagte er, "das ist doch wohl ein böser Traum, die quälen mich mit diesen Spritzen... und diesen Elektroschocks…“
„Elektroschocks...“ flüsterte sie. „Das machen die heute noch?“ „Das weiß ich nicht“, erwiderte er, „bei mir ist es lange her...“ Seine tief liegenden Augen glühten, sie brannten auf Elkes Haut, und sie bekam wieder Angst. Sie stand unwillkürlich auf und wich ein paar Schritte zurück… Er meinte wohl, hier stimme etwas nicht, und die Schuldige sei sie, Elke, die, wie er anscheinend glaubte, seine Sophie war.
"Sie träumen nicht", sagte sie gefasst, "versuchen Sie sich doch einfach zu erinnern. Sie waren in der Klinik, und von dort sind Sie abgehauen, das war sicher nicht ganz einfach, hierher zu kommen, und Sie haben sicherlich entsetzlich gehungert und gefroren… Sie müssen sich hier in dem Haus sehr gut auskennen, Sie sind unbemerkt in eine der Dachkammern eingedrungen und haben dort übernachtet. Unglaublich, was Sie da alles geschafft haben, und das haben Sie alles nicht geträumt. Wie haben Sie es überhaupt von Bayreuth aus hierher geschafft, und das im Winter!"
Er sagte nur: „Man hat mir etwas geholfen... hinten im LKW, mit dem Müll. Dann ein Stück mit dem Zug... nachts... in einem Laderaum...“
Elke bemerkte erleichtert, dass die Augen des Alten nicht mehr so unheimlich glühten und er ganz matt dreinschaute. Unten im Haus klingelte das Telefon. "Einen Moment", sagte sie hastig, "das sind bestimmt die Klübers“. Sie eilte zur Tür, schaute noch einmal zurück. Der Alte hob einen Arm, als wolle er etwas sagen, was ihm aber offensichtlich nicht gelang. O Gott, er sah elendig aus, den Mund halb offen, wie ein erstickter Hilfeschrei, der aus dem weißen Bartgestrüpp nicht herauskam. "Keine Angst", tröstete sie, auch ihre eigene Angst war nun ganz verschwunden.
"Ich sage niemandem, dass Sie hier sind, auch den Klübers nicht." Sie rannte die Treppen hinab und riss den Telefonhörer von der Gabel. Es war tatsächlich Karl Klüber; er kündigte die Rückkehr erst weit nach Mitternacht an. Sie solle bitte das Frühstück erst für neun Uhr vorbereiten. Ob etwas Besonders passiert sei? Sie erwiderte, etwas zu hastig, nein, nein, nichts sei passiert, es sei alles in bester Ordnung. Er bestellte noch einen Gruß von seiner Frau und legte auf.
... Etwas Besonderes passiert... sie hielt die Hand auf ihr Herz, weil es gar zu arg pochte. Die Klübers hatten bestimmt von der Suchmeldung im Radio gehört... Plötzlich fiel ihr der Polizist ein, den hätte sie erwähnen müssen! Einen Moment dachte sie daran, in Nürnberg anzurufen, aber das wäre wohl auch verdächtig. Jetzt würde alles, was sie dazu sagte, nur mehr schlafende Hunde wecken. Das Beste war wohl, dem Klüber nach seiner Rückkehr beiläufig von dem Polizisten zu erzählen. Der konnte ja auch nach dem Anruf vorbei gekommen sein.
Die Standuhr in der Klüberschen Wohnstube schlug Fünf, draußen war es schon dunkel. Elke stieg langsam die Treppen hoch. Nun hatte sie wieder Angst, als wäre der Alte ihr in harmloser Verkleidung erschienen … und nun vielleicht hinter der Tür lauern... Aber er lag noch immer im Bett; schnarchte und schlief offenbar sehr tief.
Sie setzte sich in die Ecke, wo sie sonst immer Bücher las, und überlegte. Sie würde ihn einfach pflegen so gut und so lange es ging, das musste einfach klappen, denn die Klübers kamen nie in ihre Wohnung. Oder schnüffelten sie doch mal rein, wenn sie nicht zu Hause war? Sie wusste nicht, ob das Ehepaar noch Schlüssel für diese Wohnung hatte... Aber sie kamen sicher nicht… nicht gleich auf die Idee, dass dieser Johann Reuß bei ihr in der Wohnung war. Nein, auf diesen Gedanken würde keiner so schnell kommen, sie selber glaubte es ja kaum. Aber wie lange würde sie das Versteckspiel durchhalten? Ein paar Wochen? Monate?
Oder gar Jahre? Was sollte sie tun, wenn der Alte erkrankte? Ihn etwa sterben lassen? Ihn an die Nervenklinik ausliefern?
Jetzt kam erst einmal eine Nacht mit diesem Greis, dann der nächste Tag. Und wenn die Klübers doch herumschüffelten? Ah, so ein kleines Sicherheitsschloss für ihre Wohnung, das war sicher eine gute Idee, und wenn die Klübers das merkten, konnte sie das ja mit diesem "grauen Mann" in der Scheune begründen, mit der Angst vor einem ungebetenen Gast. Als sie ihr Nachtlager bereiten wollte, fiel ihr ein, dass sie ein paar dieser Decken aus der Dachkammer holen könnte, und plötzlich hatte sie die Idee, auch den Schaukelstuhl in ihre Wohnung zu stellen. Sie zögerte, sie hatte Angst, noch einmal in diese Dachkammer zu gehen, und die Treppen waren schmal und steil, aber schließlich wagte sie es doch.
Der Wecker klingelte um halbsechs. Elke drehte sich auf die andere Seite, dabei merkte sie, dass sie nicht in ihrem Bett lag. Ach ja, der Alte nebenan... Aber hatte sie nicht trotzdem diese Nacht in ihrem Bett... Meine Güte, hatte sie das geträumt? Ein alter Mann war zu ihr ins Bett gestiegen...Der Alte... der alte Reuß war es gewesen... Sie war vor Schrecken und ganz verschwitzt in die Höhe gesprungen, hatte geschaut, ob die Tür zum Nachbarzimmer noch verschlossen war und hatte sich wieder in die Decken gerollt. Was hatte so ein Traum zu bedeuten? Sie kam nicht dahinter. Das konnte jedenfalls nichts mit ihren Ängsten zu tun haben. Nein, dass dieser alte Mann… Aber wenn er sich in den Wahn steigerte, sie sei seine Sophie? Sie sprang erschrocken hoch von ihrem Deckenlager; sie musste irgendetwas tun. Zuerst schaute sie aus dem Fenster. Es hatte kaum geschneit, aber doch so viel, dass die frischen Autospuren zu sehen waren. Die Klübers waren also im Haus.
Sie hastete zur Tür, zögerte... aber was blieb ihr weiter übrig als diese Tür zu öffnen! Der Alte saß regungslos auf dem Bett. Fast hätte sie geschrien, sie kniff die Lippen zusammen, knipste schnell das Licht an. Jetzt sah er in dem weißen Hemd wenigstens menschlich aus. Also, der saß wirklich dort und war kein Gespenst. Tränen liefen über sein Gesicht, sie quollen aus dem entzündeten, müden Augenquell. "Guten Morgen, Herr Reuß", sagte sie leise, aber in einem fröhlich klingenden Ton, obwohl auch ihr ganz anders zumute war (aber etwas erleichtert war sie doch). "Was ist denn los, warum weinen Sie denn?"
"Ich konnte es nicht halten", sagte er mit zittriger Stimme. Sie hielt den Zeigefinger auf die Lippen und zeigte mit wippendem Finger nach unten, so etwa in Richtung der schlafenden Klübers. Er hielt die Finger der rechten Hand vor den Mund und schwieg. "Ich hab' noch geschlafen, da ist es passiert…“ „Ist doch nicht schlimm“, sagte sie. "Das kriegen wir alles hin..."
Er wischte sich die letzten Tränen vom Gesicht, zog sich, auf Elke stützend, hoch, ächzte, schien aber nicht mehr ganz so unglücklich. "Sie wären auch eine gute Krankenschwester geworden", sagte er. Elke lachte. "Ich glaub´s auch. Und wenn ich nachher die Klübers wiedersehe, werd' ich auch noch ganz schnell die Schauspielerei lernen müssen!"
Der Alte wollte nicht wieder ins Bett; sie half ihm beim Waschen und Anziehen, brühte Kaffeewasser auf und setzte sich neben ihn, um ihm etwas beim Essen zu helfen. Er sah nun viel besser aus als am Tage zuvor, wenn auch der weiße, wild wachsende Stoppelbart und die geröteten Augen noch den verwahrlosten Flüchtling verrieten. Seine Hände zitterten, wenn er ein Brot oder die Tasse in die Hand nahm, und als etwas Kaffee auf den Tisch schwappte, wurde er wieder sehr verlegen. "Ich bin alt", sagte er, "ich bereite Ihnen große Schwierigkeiten. Erst passiert das mit dem Bett, und jetzt ist auch die Tischdecke dreckig." Und wieder sickerten Tränen durch die runzlige Haut. Seine Lippen bebten. "Wär' ich doch bald tot!" flehte er.
Elke war der Fleck auf der Tischdecke egal, sie hatte mit dem Alten etwas mehr reden wollen als am Tage zuvor, aber nun fühlte sie sich wieder völlig hilflos. "Machen Sie sich nicht dauernd irgendwelche Vorwürfe", erwiderte sie, "die Decke hat doch sowieso schon Flecken, und das Bett beziehe ich auch ganz schnell, das kommt alles bei den Klübers in die Waschmaschine, das sind alles Kleinigkeiten."
Sie ertappte sich bei dem Gedanken, was sie denn tun solle, wenn er noch allzu lange leben würde? Wie konnte sie so etwas denken? Aber sie dachte es doch, und um diese Gedanken zu verjagen, versuchte sie sich abzulenken; sie wedelte um ihn herum, versuchte, ihm jeden Handgriff abzunehmen, machte zwischendurch das Bett, wobei sie immer ein wenig redete, lauter kleine Banalitäten, auf die er kaum antwortete. "Sie können in meinen Büchern und den Zeitschriften lesen... Und wenn ich nicht da bin, können Sie sich auf dem kleinen Kocher da Kaffee kochen und sich was zu Essen nehmen... Haben Sie denn noch Verwandte?"
"Nein, habe ich nicht", erwiderte der Alte schließlich. "Aber ich weiß nicht, wo ich sonst hin soll. Ich will hier sterben, aber ich fürchte, ich mach' Ihnen soviel Unannehmlichkeiten."
"Es ist richtig so, dass Sie hier sind!" erwiderte Elke mit fester Stimme. "Irgendwie schaukeln wir das schon, Sie werden gar nicht mehr sterben wollen!"
Der Alte lächelte. „Leben aber auch nicht, kleines Fräulein, und erst recht nicht in so einer Klinik..."
"Sagen Sie bitte nie mehr kleines Fräulein zu mir! Und Sie müssen auch nicht in diese Klinik zurück, wenn ich sagen würde, ich pflege Sie..."
Der Alte zuckte zusammen, die Tasse, die er gerade zum Mund führen wollte, wackelte in der zitternden Hand derart, dass wieder etwas Kaffee überschwappte. "Sagen Sie niemandem etwas!" flehte er. "Sagen Sie niemandem etwas!"
Elke kicherte, was war sie doch für eine gute Schauspielerin: "Keine Bange! Aber jetzt muss ich erst einmal zu den Hühnern und den Ziegen runter!"
Für den Stall brauchte sie am Morgen eine halbe Stunde. Als sie wieder das Haus betrat, roch es ganz fein, aber doch deutlich nach Tabakqualm. Sie hastete nach oben. Der Alte saß in dem Schaukelstuhl und rauchte Pfeife. Sie blieb regungslos in der Tür stehen. „O!“ rief sie – und wusste nicht weiter. Der Alte blies einen Ring in die Luft. „Das ist ja toll!“ sagte sie verblüfft. Er fasst dies als Kompliment auf, und er wiederholte das Kunststück, diesmal mit zwei Ringen. "Es freut mich, dass Sie sich wohl fühlen", sagte sie schnippisch. "Aber woher haben Sie denn die Pfeife und den Tabak?"
Er machte nur "Hm" und blies wieder einen Ring in die Luft, fing dann aber an zu husten. „Es erinnert mich an bessere Zeiten“, krächzte er.
Elke seufzte. "Ich muss Sie jetzt leider an schlechtere Zeiten erinnern", sagte sie. „Man riecht den Rauch im ganzen Haus, und die Klübers rauchen nicht.“ Der Alte schien in sich zusammenzusinken, und als er anfangen wollte, den Tabak aus der Pfeife zu entfernen, rief sie, er solle das Pfeifchen nach Herzenslust genießen, es rieche sowieso, sie wisse schon, was sie den Klübers erzählen werde. In Zukunft müsse er aber auf der Toilette bei geöffnetem Fenster rauchen. Sie streichelte ihm über die Schulter. „Es geht nicht anders“, sagte sie.
Ihr Arbeitsraum am Morgen war vor allem die Küche der Klübers. Sie stellte die Heizung an und bereitete das Frühstück vor. An diesem Morgen war allerdings alles anders: sie spielte ein Theaterstück, zuerst in ihrem Zimmer, nun war die Küche die Bühne. Es gab freilich keinen Text, den sie auswendig lernen konnte, und keinen Souffleur, die Rollen mussten frei gespielt werden. Sie dachte wieder an die Pfeife und den Qualm. Wenn der Alte solche Utensilien dabei hatte, war seine Flucht offenbar gut geplant gewesen.
Bis zur ersten Begegnung mit den Klübers war es noch ein paar Stunden hin. Elke versorgte die Tiere, und da es wieder heftig zu schneien begann, fegte sie nochmals den Hof, wohl wissend, dass die Klübers die Arbeitsgeräusche auch im Schlafe wahrnahmen. Die beiden tauchten erst gegen zehn Uhr in der Küche auf und Elke glaubte sofort zu erkennen, dass auch ihre beiden Gegenspieler ihre Morgenrolle anders auffassten als sonst. Er trug nicht, wie sonst, eine saloppe Hose und Pulli oder Flanellhemd, sondern, als erwartete er Besuch, dunkle Hose mit Bügelfalte und ein weißes Hemd, fehlte nur noch Binder oder Cordel. Und die Ehefrau hatte sich offensichtlich in Nürnberg von einem teuren Friseur aufdonnern lassen, sie hatte plötzlich blonde Haare, durch eine neue Dauerwelle weit mehr als sonst aufgeplustert, eine goldene Halskette und Armband, und das schlimmste: die Schminke. Roter Lippenstift – allzu stark aufgetragen. Vorher haben Sie viel besser ausgesehen, lag Elke auf der Zunge.
"Wir machen erst einmal ein kleines Sektfrühstück!" erklärte Klüber fröhlich, "unser Sohn ist Abteilungsleiter geworden!"
"Das ist ja toll!" schauspielerte Elke, "da gratuliere ich ganz herzlich!"
Karl Klüber schenkte drei Gläser ein, und sie stießen an. "Wir haben gestern natürlich ausgiebig gefeiert", sagte Klüber, und er erzählte von seinem Sohn, der in einem großen Kaufhaus nun Karriere mache, und schnell waren sie beim zweiten Glas. Fast hätte Elke vergessen, dass versteckte Rollen gespielt wurden. Ob der Sohn nun tatsächlich Abteilungsleiter geworden war oder nicht, der Sekt hatte sicher den Zweck, ihre Zunge zu lockern. Sie musste auf der Hut sein! Das dritte Glas lehnte sie ab, sie vertrage nur sehr wenig Alkohol... und dann kam auch schon, wie nebenbei, erneut die Frage, ob am Tage zuvor irgendetwas Besonderes passiert sei? Elke schüttelte den Kopf und erzählte schnell einen Tagesablauf, wie er, ohne die Begegnung mit dem Alten, hätte sein können, diesmal allerdings mit dem Polizisten, an den sie, wie sie beiläufig erwähnte, gestern bei dem Anruf des Herrn Klüber gar nicht gedacht hatte. Später, nach dem Anruf, sei noch einmal einer in Zivil gekommen. Ein Polizist in Zivil, sie habe sich den Ausweis zeigen lassen, der habe mit seiner Zigarre einfach alles verqualmt… Jetzt musste sie aufpassen, dumm waren die Klübers nicht. "Was haben die denn alles gesagt?" wollte Klüber wissen, und er schien auf die Antwort zu lauern.
Elke erzählte, was der Polizist erzählt hatte: dass also der aus der Anstalt geflohene Reuß hier vor 40 Jahren gewohnt hatte. Sie verschwieg aber, dass der Polizist auch erwähnt hatte, Reuß sei Eigentümer des Hofes gewesen. „So, so", wisperte Klüber, "der hat hier gewohnt? Vor 50 Jahren? Das ist ja unglaublich... Und Sie haben nicht gesagt, dass Sie den Reuß gesehen haben?"
Elke riss ihre Augen auf und starrte Klüber so blöd wie möglich an. "Wieso soll ich den gesehen haben?" Jetzt meldete sich Helene Klüber in ihrem übelsten Keifton zu Wort: "Na, stellen Sie doch nicht so an, Ihr graues Gespenst am Abend vorher, das kann dann doch nur dieser Reuß gewesen sein!"
Elke schlug ihre Hände vors Gesicht, als wäre sie nun völlig überrascht und entsetzt. "Sie meinen, ich hätte da wirklich einen richtigen Mann gesehen?" rief sie. "Aber gestern meinten Sie doch, ich hätte mich getäuscht! Und wir haben doch alles abgesucht!"
Sie schaute die beiden Herrschaften mit ihren größtmöglichen, runden, braunen Augen an und spürte, dass sie gewonnen hatte. Jetzt hatte sie sich endgültig als das kleine Dummerchen etabliert, das den geschmeichelten Eheleuten alles glaubte. Helene Klüber tätschelte Elkes Hände und schaute dabei wie eine Mutter, die ihr Töchterchen tröstete. "Ja, wir haben auch erst gedacht, Sie hätten Gespenster gesehen, aber jetzt ist uns klar, dass Sie den Reuß gesehen haben!" sagte sie milde.
Karl Klüber neigte sich in vertraulicher Haltung über die Ecke des Tisches zu Elke hin, als wolle er ihr ein Geheimnis anvertrauen. "Ich glaube jetzt, dass Sie ein sehr gutes Wahrnehmungsvermögen haben. Ein verdammt gutes Wahrnehmungsvermögen! Der Reuß war wirklich hier, und er ist immer noch hier, jedenfalls hier in der Gegend, das spüre ich, gefangen haben sie ihn jedenfalls noch nicht, ich habe gerade vorhin die Polizei angerufen, aber dieser Geisteskranke hat tatsächlich auch etwas von einem Gespenst." Klüber hob die Hand wie zu einer Warnung, und er verdrehte die Augen. "Passen Sie auf!" sagte er mit scharfem Tonfall. Elke zuckte zusammen. "Sagen Sie uns sofort, wenn Sie etwas bemerken. Schreien Sie aus Leibeskräften, wenn er plötzlich irgendwo auftaucht!"
Elke hatte nun wirklich Angst, wenn auch eher vor ihrem Gegenüber; sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, und dann sagte sie, einem Geistesblitz folgend: "Und wenn ich erschrecke, wenn Sie plötzlich irgendwo vor mir stehen, wenn ich dann laut schreie?" Nun schaute Klüber, mit halb geöffnetem Mund, blöd daher und schielte zu seiner Frau hinüber, die ihre Nase nun spitz in die Höhe hielt. "Keine Bange", ließ sie vernehmen, "ich bin immer in seiner Nähe."
Klüber lachte laut und schlug Elke auf die Schulter – viel zu kumpelhaft, wie sie fand. Sie stand schnell auf, erklärte, sie wolle nun gleich einkaufen, das Wetter sei gut, der Schnee ziemlich weggetaut...
„Und der andere Polizist, der in Zivil, was wollte der?“ Sie war schon in der Tür, drehte sich wie beiläufig um und sah Klüber direkt in die Augen. „Der fragte nur, ob ich was Auffälliges gesehen hätte… Ich war etwas wütend, wegen dem Qualm, den der hier mit seiner Zigarre ins Haus blies, aber ich hatte ja nichts Auffälliges bemerkt, an die Gestalt im Schuppen dachte ich in dem Moment gar nicht, aber…“, sie zögerte einen Moment, „… aber Sie können ja die Polizei anrufen und sie darüber informieren!“