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Claudia, eine Geschichte aus dem ganz normalen Leben
ОглавлениеBBC Nachrichten am 05. März. 1999
„Meine Damen und Herren, die Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency (englische Arzneimittelbehörde) meldet heute, dass die Firma Toxthera, ein in Luxemburg ansässiger, weltweit tätiger Pharmakonzern, das Präparat Sarcospouse vom europäischen Markt zurückgezogen hat. Es diente der Therapie hohen Blutdrucks. Ursache hierfür seien schädliche Auswirkungen auf die Nieren sowie das Herzkreislaufsystem. Wie die Firma berichtete, wurden aus Australien und den USA insgesamt 950 Fälle von schwerwiegenden Nebenwirkungen sowie 82 Todesfälle im Zusammenhang mit Sarcospouse gemeldet. Das Präparat war erst 18 Monate zuvor in England und anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft zugelassen und in die Therapie eingeführt worden.“
*
Was war geschehen? Wie geht so etwas? Ein Beispiel aus den normalen Leben
Claudia Schäfer, Mutter von 2 Kindern, machte sich, nachdem sie Jan in die Schule und Mirke in den Kindergarten gebracht hatte, auf dem Weg zu ihrem Arzt Dr. Schneider. Nach der Geburt von Mirke hatte sich die Fremdsprachenkorrespondentin entschieden, die nächsten 5 Jahre für ihre Kinder da zu sein. Ihr Mann, Claus, Ingenieur und Motorspezialist, hatte sich über die Jahre bei seinem Arbeitgeber ein gutes Ansehen erworben, seine Stelle war sicher. Mit der Entscheidung für die Kinder da zu sein, ist Claudia zufrieden. Immer wieder erhielt sie Auftragsarbeiten, die sie erledigte, wenn die Kinder im Bett waren. Ein hübscher kleiner Nebenverdienst, für die schönen Seiten des Lebens.
Zu der Entscheidung, in den nächsten Jahren für die Kinder da zu sein, hatte auch beigetragen, dass es in der letzten Schwangerschaft mit ihrer Tochter Mirke zu Komplikationen gekommen war. Das hatte Auswirkungen auf Claudias Nieren und den Blutdruck, und zwar dauerhaft, wie sich herausstellte. Claus und Claudia waren in einer Kleinstadt in der Nähe von Salzgitter aufgewachsen. Sie kannten Umgebung lange und gut, so auch ihren Arzt.
In der Praxis angekommen, wurde Claudia auch sogleich ins Labor gebeten. Blut und Urin, das Übliche. Anschließend ging Claudia zum Tresen, um sich einen Besprechungstermin geben zu lassen.
Direkt vor ihr war eine gut aussehende, chic gekleidete Frau an der Reihe. Beiläufig hörte Claudia das Gespräch mit. „Brauchen sie noch Muster, ich habe ihnen auch noch einige Kugelschreiber mitgebracht“, sagte die Frau. Ach ja dachte Claudia, die liebe Pharmaindustrie. Dann sagte jene wortgewandte Frau noch etwas, was Claudia eigentlich erst später wirklich bewusst wurde.
„Wie läuft das denn mit der Anwendungsbeobachtung (Studie mit neu zugelassenen Arzneimitteln an Patienten in der täglichen Praxis. Diese Form der Studien werden meist zu Marketingzwecken missbraucht), haben sie noch genug Kontrollbögen und Broschüren? Sonst gehe ich noch schnell zum Wagen und hole welche.“ „Welche Anwendungsbeobachtung meinen sie“, fragte die Arzthelferin. „Die zu dem Blutdruckmittel Noxtox“, sagte die Vertreterin, deutlich leiser als zuvor. Die Arzthelferin sagte, dass sie den Arzt fragen werde, und wollte gehen. „Ach“, sagte sie, in dem sie sich zurückwandte, „geben sie mir doch auch gleich den Unterschriftsblock mit, wegen der Muster.“ Damit ausgestattet ging sie zum Arzt. Nach kurzer Zeit kam sie zurück, drückte einen Stempel auf den Block und sagte: „ Herr Doktor lässt sie herzlich grüßen, er braucht noch neue Bögen und Broschüren, hat aber heute leider keine Zeit für ein Gespräch. Mit der Anwendungsbeobachtung läuft alles gut, er ist zufrieden.
Das Gespräch war beendet und die Vertreterin verließ die Praxis. Claudia fiel der vertraute Umgang der beiden miteinander auf. Zugleich erinnerte sie sich, dass sie noch wegen der Schuhe von Mirke zum Orthopädietechniker musste. Sie holte sich den Termin und verließ die Praxis. Im Herausgehen kam ihr die Vertreterin mit einem Papierstapel und Broschüren entgegen. Claudia dachte bei sich, als sie auf die Broschüren blickte, die hast du schon irgendwo gesehen.
Es war am Abend des gleichen Tages. Nachdem die Kinder im Bett waren, fragte Claudia ihren Mann: „Du Claus, ich war beim Arzt und da war eine Situation, die ich mir gar nicht erklären kann.“ Claudia erzählte Claus von dem Gespräch der Vertreterin. Claus hörte aufmerksam zu. Er interessierte sich dafür, wie es seiner Frau ging, die Komplikationen während der Schwangerschaft mit Mirke waren schwerwiegend gewesen.
„Weißt du, die sagte da etwas von Anwendungsbeobachtung und nannte den Namen Noxtox.“ „Ja, von Anwendungsbeobachtungen habe ich letztens in der Tageszeitung gelesen. Ist Noxtox nicht das Mittel, dass du erst vor 3 Wochen neu verschrieben bekommen hast?“, fragte Claus. „Deswegen ja“, antwortete Claudia. „Das gibt mir zu denken. Den Artikel in der Tageszeitung habe ich auch gelesen. Was da drin stand, klang gar nicht vertrauenserweckend.“
„Weißt du was, das klären wir“, sagte Claus. „Ich habe morgen wegen der neuen Montagehalle ein Treffen mit unserem Betriebsarzt. Es geht um den Arbeitsschutz. Den kenne ich seit mehreren Jahren, das ist ein ganz gewissenhafter Mensch. Er hat vorher in Hannover in einer Arztpraxis gearbeitet. Das erklärt der mir bestimmt.“ Damit war das Thema für diesen Abend beendet.
*
Gespräch mit dem Betriebsarzt
Am Nachmittag des nächsten Tages traf Claus den Betriebsarzt Dr. Holten. Der Betriebsarzt sagte Claus, dass er besonders auf die Partikelfilter im Bereich der Zuluft für die Mitarbeiter achten muss.
Anschließend sprach Claus den Arzt auf sein Gespräch mit Claudia an. Dieser hörte aufmerksam zu. „Wissen sie“, sagte Dr. Holten, „das geht nicht mal so eben nebenbei, geben sie mir doch ihre private Rufnummer, ich rufe sie heute Abend an. Vielleicht ist dann auch ihre Frau zu Hause und wir können gemeinsam sprechen.“
Kluger Kopf dachte Claus, der hat gemerkt, was Sache ist. Der Betriebsarzt hat das gerne gemacht, weil er ohne die Ingenieure im Betrieb chancenlos ist. Geben und nehmen, wie im ganz normalen Leben.
Dr. Holten rief abends an und Claudia berichtete über ihre Erlebnisse. „Ich hatte vorher zur Behandlung meines Blutdrucks ein zuzahlungsfreies Arzneimittel eingenommen und damit kam ich gut zurecht. Der Nephrologe im Krankenhaus hatte mich darauf eingestellt. Der Blutdruck war gut und die Nierenwerte wurden langsam auch besser. Ich war zufrieden. An einem Tag vor 3 Wochen, als ich im Labor war, bat mich der Arzt in sein Sprechzimmer und sprach mich auf mein Blutdruckmedikament an. Ich fragte warum. Er sagte, dass er ein Arzneimittel gefunden hat, von dem er glaubt, dass es für mich besser sei. Er nahm eine Broschüre aus einem Ständer, der in seinem Regal stand. Anschließend wies mich auf eine Reihe von Punkten hin, die belegen sollten, dass dieses Präparat besser ist. Es soll vor allem die Nieren besser schützen.
Ich müsste aber die Differenz zum Festbetrag selbst tragen. Ich fragte, wie hoch diese sei. Er erläuterte mir das. Die Differenz betrage ca. 18,- € pro Monat. Vorher musste ich wie gesagt nie etwas zuzahlen.
Ich sagte ihm, dass ich das erst mit meinem Mann besprechen wolle. Der Arzt gab mir dann ein Muster und die Broschüre. Eigenartig erschien mir, dass das alles offenbar vorbereitet war. Wieso dachte ich, legt dir ein Arzt eine Broschüre des Arzneimittelherstellers vor, die begründen soll, dass das besser für mich ist. Wenn der Arzt das - wie er sagte - selbst herausgefunden hat, warum kann er es dann nicht mit eigenen Worten erklären. Das war mir suspekt. Da es aber finanziell kein Problem war und ich schon Bekanntschaft mit der Dialyse und dem Shaldon Katheter(1) gemacht hatte, dachten wir beide, dass es gut investiertes Geld sei.
(1) Shaldon Katheter zur Durchführung von Notfalldialysen
Allerdings waren anschließend die Blutdruckwerte nicht so, wie ich das gewohnt war. Auch schlafe ich schlechter und manchmal habe ich Herzrasen und Rückenschmerzen, was ich vorher nie hatte.“
Dr. Holten unterbrach Claudia. „Wo genau haben sie die Rückenschmerzen?“ „Im unteren Bereich“, antwortete Claudia. „Im Bereich der Lendenwirbel?“, hakte Dr. Holten nach. „Ja das stimmt. Warum fragen sie?“, wollte Claudia wissen. „Nur so, nichts Schlimmes, erzählen sie bitte weiter.“
„Als ich meinen Hausarzt auf das Herzrasen ansprach, sagte er, dass er davon weiß, das sei kein großes Problem, das könne unter dem Präparat auftreten. Dafür würde er mir ein zusätzliches Präparat verschreiben, dann würde das verschwinden. Zusätzlich sollte ich die Dosis von diesem Noxtox um eine halbe Tablette steigern, damit ich die vorherigen Blutdruckwerte wieder erreiche. Ich habe das abgelehnt.
Was ich an Arzneimitteln einnehme, muss auch wieder aus dem Körper raus. So hat es mir der Nephrologe (Facharzt für Nieren und Hochdruckerkrankungen) damals erklärt. Er hat mir geraten, in meiner Situation vorsichtig mit der Einnahme von Medikamenten zu sein. Das muss mein Hausarzt doch wissen?! Er hat doch einen Entlassungsbrief des Nephrologen bekommen. Das mit der Vorsicht bei der Einnahme von Medikamenten hat der Nephrologe bei jeder Visite wiederholt, eigentlich konnte ich es schon nicht mehr hören.
Die Broschüre, die mir heute bei der Vertreterin auffiel, habe ich wieder gefunden. Es war dieselbe, die ich von dem Arzt bekommen hatte. Bedeutet das etwa, dass diese Umstellung auf das neue Medikament aufgrund der Anwendungsbeobachtung vorgenommen wurde?
Ganz ehrlich: Ich kann nicht verstehen, dass der Arzt sagt, dass er mit der Anwendungsbeobachtung zufrieden ist, weil ich es nicht bin. Ich will mein ursprüngliches Präparat wieder haben. Das alles widerspricht sich und ich will das nicht“, sagte Claudia zum Abschluss heftig.
Dr. Holten schwieg eine Weile. „Wissen sie“, sagte er in ruhigem Ton, „was ihr Nephrologe ihnen damals gesagt hat, ist vollkommen richtig. Sie tun gut daran, seinen Rat zu befolgen. Es ist gut, dass er es ihnen so eindrücklich klar gemacht hat. Es ist besonders wichtig!
Zu den Anwendungsbeobachtungen: Ich habe als Arzt auch einmal vor der Entscheidung gestanden, neue Arzneimittel im Rahmen einer Anwendungsbeobachtung einzusetzen. Ich war damals als junger Arzt in einer Praxis angestellt. Unser Chef hatte das mit einem Pharmaunternehmen vereinbart und wir sollten das umsetzen. Ich habe das verweigert, weil ich das für unethisch hielt.
Anwendungsbeobachtungen sind Untersuchungen mit neu und vor kurzem erst zugelassen Arzneimitteln am Patienten. Die Schwierigkeit liegt in folgenden wesentlichen Punkten:
1 Das Wissen über Nebenwirkungen neuer Arzneimittel ist noch sehr unvollständig. Dies sind vor allem Nebenwirkungen, die erst nach längerer Einnahmezeit bei einem Patienten eintreten. Eine Reihe von Arzneimitteln, die vor Jahren mit großen Versprechungen eingeführt wurden, mussten wieder vom Markt genommen werden. Es stellte sich heraus, dass schwerwiegende Nebenwirkungen, die erst später bekannt wurden, bei der Markteinführung des Arzneimittels bewusst verschwiegen worden waren,
2 Diese Anwendungsbeobachtungen finden nicht unter kontrollierten, wissenschaftlichen Bedingungen statt. Es ist jedem Arzt überlassen, wie er das handhabt, es wird ihm nicht vorgeschrieben, was er zu prüfen hat. Die Ergebnisse, die von dem Arzt dokumentiert werden, verschwinden im Nirgendwo.
3 Wenn Nebenwirkungen bei Anwendungsbeobachtungen auftreten, dann werden diese in aller Regel nicht den Aufsichtsbehörden gemeldet.
4 Die Patienten werden nicht darüber informiert, dass die Einstellung oder Umstellung im Rahmen einer Anwendungsbeobachtung geschieht. Gegen auftretende Nebenwirkungen sind die Patienten auch nicht versichert. Diese Nebenwirkungen werden behandelt, als ob sich ein Patient ganz normal in Behandlung befindet, mit teilweise dramatischen Rechtsfolgen für den Patienten. Das alles halte ich für einen gravierenden Gesetzesverstoß. Es ist auch Politikern bekannt, aber keiner tut etwas dagegen. Das Ganze ist Lobbyismus pur.
5 Für die Um- und Neueinstellung eines Patienten auf dieses Medikament erhält der Arzt Geld. Das sollte auch ich bekommen. Aber das habe ich damals abgelehnt und tue es heute genau so. Geld für die Verordnung eines Medikamentes zu erhalten, löst einen Interessenkonflikt aus, den ich im Zweifelsfall keinem Patienten erklären kann.
6 Die Arzneimitteltherapie wird durch diese Anwendungsbeobachtungen immer teurer. Die neuen Arzneimittel gelangen über die geänderten Verschreibungsgewohnheiten der beteiligten Ärzte in die Standardtherapie. Das ist das eigentliche Ziel dieser Anwendungsbeobachtungen.
Ich habe an der Medizinischen Hochschule in Hannover studiert und längere Zeit in der Abteilung für klinische Pharmakologie gearbeitet. In dieser Abteilung kümmert man sich um die Wirkungen und Nebenwirkungen von Arzneimitteln. Die Aufgabe besteht darin, den Einsatz von Arzneimitteln sicherer zu machen. Diese Anwendungsbeobachtungen haben unseren Chef damals sehr erregt. Auf einer Besprechung hat er einmal gesagt, dass sie geeignet sind, die Arbeit, die diese Abteilung über Jahre gemacht hat, zunichtezumachen.“
„Und warum“, wollte Claudia wissen. „Wenn ich als Arzt ein neues Medikament aussuche, dann habe ich ganz bestimmte Vorstellungen davon, wie es wirken soll und welche Nebenwirkungen es nicht haben darf. Dann mache ich mich auf die Suche, solange bis ich gefunden habe, was ich will. Das ist wie bei einem Auto. Ich will eines mit bestimmten Eigenschaften und genau das kaufe ich dann.
Wenn aber die Zuwendung von Geld den Ausschlag darüber gibt, ob ein Arzneimittel eingesetzt wird, dann spielen diese Fragen keine Rolle mehr. Es wird genommen, was das meiste Geld bringt. Wirkungen und Nebenwirkungen werden nicht mehr hinterfragt. Die Pharmaindustrie nutzt das in jeder Weise aus.
Wichtig war uns in der Behandlung vor allem Beständigkeit. Wenn ich mit einem Medikament erfolgreich die Krankheit behandeln kann und der Zustand des Patienten stabil ist, also sich die Werte im Normalbereich befinden und das Medikament im Großen und Ganzen gut vertragen wird, dann gibt es keinen Grund, ein Arzneimittel zu wechseln. Das ist wie im ganz normalen Leben. Wie waren ihre Blutdruckwerte bei dem alten Präparat, Frau Schäfer?“
„120 zu 85“, antwortete Claudia. „Wurde der Nephrologe bei der Umstellung konsultiert?“ „Nein.“ „Hatten sie Nebenwirkungen unter dem alten Präparat?“ „Ja, manchmal hatte ich einen trockenen Mund und ich habe mehr geschwitzt als zuvor. Gegen das eine hilft ein Glas Wasser und gegen das andere die Dusche“, antwortete Claudia.
Dr. Holten lächelte in sich hinein. Er bewunderte die Entschlossenheit von Claudia. „Wenn ich als Arzt die Verantwortung für ihre Behandlung tragen würde“, sagte er, „dann würde auch ich immer die Augen nach möglichen Verbesserungen offen halten. Das ist völlig in Ordnung, hier ist ihr Hausarzt nicht zu kritisieren. Diese Verbesserung muss aber über mehrere Jahre weg erwiesen sein, besonders in ihrer Situation. Mit neuen Arzneimitteln muss man da extrem vorsichtig sein.
Wo haben sie entbunden?“, fragte Dr. Holten. „In Braunschweig“, antwortete Claudia. „Wem sind damals die Probleme mit den Nieren aufgefallen „Dem Gynäkologen.“ „Was hat der getan?“ „Er hat mich noch am gleichen Tag in die Klinik eingewiesen.“ „Nach Braunschweig?“, wollte Dr. Holten wissen. „Nein, zunächst nach Salzgitter. Es war der behandelnde Arzt im Krankenhaus, der mich nach Braunschweig überwies.“ „Dann war das keine Kleinigkeit oder?“ „Nein“, sagte Claudia. „Man hat mir erst einmal einen Shaldon Katheter gelegt. Wenn sie das zum ersten Mal erleben, dann wird ihnen wirklich angst und bange. Anschließend hat man eine Hämofiltration (besondere Form der Notfalldialyse oder Notfallblutreinigung) durchgeführt. “
Dr. Holten merkte, dass Claudia wirklich erregt war und wollte sie zunächst erst einmal beruhigen. „Wissen sie, Frau Schäfer, nach all dem, was sie durchgemacht haben, bleibt eine positive Nachricht: Unter dem zuvor angewandten Arzneimittel hatte sich ihr Zustand verbessert, sowohl der Blutdruck als auch die Nierenwerte. Trotzdem rate ich ihnen, lassen sie sich bei dem behandelnden Nephrologen schnell einen Termin geben und fahren sie mit ihrem Mann dort hin. Vorher lassen sie sich aber in der Praxis ihres Hausarztes eine Kopie der Krankenakte erstellen, insbesondere die Laborwerte sind wichtig. Können sie beide das kurzfristig regeln?“ „Das werden wir“, sagte Claus und nahm Claudia in den Arm. „Das ist für mich besonders wichtig! Wir haben beide gemerkt, dass Claudias Blutdruck besonders dann steigt, wenn sie Angst hat oder sich aufregt. Ich habe ohnehin noch Überstunden und werde dafür einen Tag freinehmen.“
„Eine Frage habe ich noch. Waren sie bei Dr. Wert in Behandlung?“ „Ja, kennen sie ihn?“ „Ja, unter uns Ärzten hat er einen guten Ruf. Manchmal wird er als kauzig empfunden, weil er gegenüber seinen Patienten recht autoritär auftritt. Aber er ist erstaunlich effektiv und erreicht viel für seine Patienten.“
Damit war das Gespräch beendet. Dr. Holten bat beide, ihn weiter zu informieren und sagte ihnen, dass er gerne bereit sei, weiter zu helfen. „Toller Arzt“, sagte Claudia. „Der hat so eine ruhige Stimme. Ich fühle mich jetzt selbst ruhiger, weil wir wissen, wie wir vorgehen können. Gut, dass du ihn angesprochen hast“, sagte Claudia und nahm ihren Mann fest in ihre Arme.
*
Claudia und ihr Nephrologe
Am nächsten Morgen ging Claudia in die Praxis und verlangte am Tresen Kopien ihrer Patientenakte und der Laborwerte. Die Arzthelferin schaute Claudia verwundert an und fragte nach dem Grund. „Der Nephrologe aus Braunschweig hat angerufen und mich an den Termin zur Nachuntersuchung erinnert. Er bat mich, die Unterlagen mitzubringen. Ach ja und die Überweisung brauche ich natürlich auch.“ Ist zwar gelogen, dachte Claudia, aber mir egal. Die Arzthelferin frage beim Arzt nach.
Der Arzt kam sogleich aus dem Behandlungszimmer und erkundigte sich nach dem Befinden von Claudia. „Nichts Besonderes, das ist reine Routine“, antwortete sie. „Bekomme ich die Kopien und die Überweisung, ich habe nicht viel Zeit?“ „Sie können sie heute Nachmittag abholen“, antwortete der Arzt. „Gut ich bin um 15:00 Uhr hier“, sagte Claudia und ging. Resolute Person dachte der Arzt und erteilte entsprechende Anweisungen an seine Helferin.
Zu Hause angekommen, rief Claudia sofort bei dem Nephrologen an. „Haben sie irgendwelche Beschwerden, Frau Schäfer“, wollte die Sekretärin von Dr. Wert wissen. Sie konnte sich noch lebhaft an die junge Mutter erinnern. „Ja mein Blutdruck ist nicht mehr so stabil wie vorher, ich habe manchmal Herzrasen und Rückenschmerzen.“ „Dann kommen sie sofort, gleich morgen, wir haben zwar keine Termine mehr frei, aber ich pack sie dazwischen. Wann können sie da sein?“ „Um 10:00“, fragte Claudia. „Das geht, aber es kann etwas dauern.“ „Haben sie vor kurzem Laborwerte erstellen lassen?“ „Ja, die bringe ich morgen mit“, antwortete Claudia.
Mit den Unterlagen aus der Praxis fuhren Claus und Claudia am nächsten Morgen nach Braunschweig. Sie wurden schon erwartet. Viele der Angestellten hatten beide noch in Erinnerung. Mutter und Kind zu retten, das war nicht einfach und man war damals stolz, es geschafft zu haben. Claudia hatte diese Zeit selbst in guter Erinnerung, sie wurde herzlich begrüßt.
Dr. Wert, der Nephrologe, kam in sein Sprechzimmer. Er nahm die Hände beider in die seinen und schaute insbesondere Claudia prüfend an. Dr. Wert war deutlich über 50, etwas beleibt mit grauen, dünnen Haaren. Seine Hände waren sehr groß. In der Klinik war er für seine autoritäre, aber gleichzeitig etwas väterliche Art bekannt. Sein Steckenpferd war die Hygiene und dafür war er bei seinem Personal gefürchtet. Immerhin: Auf seiner Station wurden die wenigsten Antibiotika in der Klinik verbraucht und darauf war Dr. Wert stolz. Selbst Vater von 4 Kindern, konnte er seinerzeit gut nachvollziehen, was in Claudia und Claus damals vorging. Beide mochten ihn, weil er ihnen manchen guten Rat gegeben und sich auch immer Zeit für beide genommen hatte.
„Wie geht es Mirke“, fragte Dr. Wert. „Gut“, sagte Claudia fast überschwänglich und holte 2 Fotos aus ihrer Tasche und gab sie Dr. Wert. Zu Mirke hatte sie ein besonderes Verhältnis. Eben das einer Mutter, die wusste, dass es nicht selbstverständlich war, dass Mirke gesund zur Welt gekommen war. „Sieht ja prächtig aus“, sagte Dr. Wert, „wenn man bedenkt, wie klein sie bei der Geburt war. Na ein bisschen pummelig ist sie aber doch. Was soll’s, das kriegen wir schon zusammen hin.“
„Was führt sie zu mir“, wollte Dr. Wert wissen. Claudia erzählte ihm, was sie auch Dr. Holten erzählt hatte. „Sie haben mir eindrücklich gesagt, ich solle mit Medikamenten vorsichtig sein.“ „Und sie sind eine sehr aufmerksame Patientin“, stellte Dr. Wert fest. „Das habe ich leider nicht so oft. Darf ich ihre Unterlagen sehen?“ Claudia gab sie ihm. Dr. Wert schaute sie aufmerksam an. „Das ist aber nur der letzte Laborbericht“, sagte er deutlich verärgert und schaute über seine Brille. Er bat seine Sekretärin zu sich. „Rufen sie umgehend den Hausarzt von Frau Schäfer an und sagen sie ihm, ich brauche sofort die Laborwerte der letzten beiden Jahre, er soll sie aufs Fax legen.“ Au weia, dachte die Sekretärin, als sie wegging, das riecht nach dicker Luft.
Dr. Wert fing an, Claudia eingehend zu untersuchen. 15 Minuten später waren die Werte da.
„Also der Blutdruck liegt jetzt bei 165 zu 108. Wie war er durchschnittlich, bevor sie das Präparat gewechselt haben?“, fragte Dr. Wert. „125 zu 85“, antwortete Claudia. „Welches Präparat wurde ihnen verschrieben?“ “Noxtox“, antwortete Claudia. Dr. Wert schaute Claudia eigenartig an. „Ihre Creatinin Werte (zeigen die Funktion der Nieren an) waren unter der Therapie mit dem Präparat, auf das ich sie eingestellt hatte, langsam, aber stetig, besser geworden. Das hat gut ausgesehen, ich habe auch nicht anders erwartet. Warum in aller Welt wurde denn das Präparat gewechselt. Ich verstehe das nicht.“ „Wir haben den Eindruck, dass das mit einer Anwendungsbeobachtung zu tun hatte“, sagte Claus. Dr. Wert schaute Claus erstaunt über die Brille hinweg an. „Bitte was? Wieso kommen sie darauf“, fragte Dr. Wert. Claudia schilderte das Erlebnis mit der Vertreterin.
Als Claudia fertig war, schwieg Dr. Wert noch einen Moment und sagte dann: „Frau Schäfer, es ist gut, dass sie gekommen sind. Ihre Nierenwerte haben sich wieder verschlechtert. Sie sind auf dem Niveau wie kurz nach der Geburt. Keine Angst, eine Dialyse ist nicht erforderlich, das haben wir damals nur wegen dem Ungeborenen gemacht. Aber ich möchte sie gerne auf die alte Medikation umstellen. Dazu möchte ich sie aber 3 – 5 Tage unter Beobachtung halten. Haben sie keine Angst, das bekommen wir wieder hin.
Haben sie Wäsche dabei?“ „Nein, aber die holt mein Mann.“ „Dann bleiben sie bei uns?“ Claudia und Claus nickten beide. Dr. Wert rief auf der Station an und fragte nach der Stationsschwester. „Bitte holen sie Frau Schäfer aus meinem Zimmer ab, sie wird einige Tage bei uns bleiben.“ Dr. Wert wandte sich Claudia zu. „Es ist nicht erforderlich, dass sie die ganze Zeit im Bett bleiben. Gehen sie ruhig. Ich will von ihnen jeden Tag meine vier leeren Wasserflaschen sehen, einverstanden?“ Claudia nickte lächelnd, das kannte sie ja schon aus der Zeit vor und nach der Geburt. Die Flaschen hatten immer am Morgen auf dem Fensterbrett zu stehen, da war Dr. Wert wirklich eisern. Bei der Visite räumte er sie dann immer selber ab, um die Kontrolle zu haben.
„Die Schwester hat ihre Medikamente bereits fertiggemacht. Wann haben sie die letzte Tablette von Noxtox eingenommen?“ „Vor 2 Tagen“, sagte Claudia. „Nun, Frau Schäfer, dann aber schnell auf die Station! Eine gute Nacht, wir sehen uns morgen.“ Dr. Wert gab ihr die Hand und legte die andere auf ihre Schulter. „Kopf hoch, das wird wieder, Frau Schäfer. Es ist schön, dass sie sich damals meine Worte gut gemerkt haben. Das und ihre Beobachtungsgabe hat sie vor Schlimmen bewahrt.“ Er reichte Claus die Hand. „Machen sie sich keine Sorgen, wir kümmern uns um ihre Frau. Und rasen sie nicht, ihre Frau ist in guten Händen. Wenn es später wird, ist das nicht schlimm. Wir sagen dem Pförtner bescheid. Ach ja und grüßen sie ihren Betriebsarzt von mir. Er hat ihnen beiden wirklich gut geraten.“
Beide verließen das Sprechzimmer. Dr. Wert bat seine Sekretärin zu sich. „Sagen sie bitte in der Radiologie bescheid. Verdacht auf akute Nephropathie (Nierenfunktionsstörung). Ich will eine Dopplersonografie, Szintigrafie und eine Kernspinaufnahme der Nieren. Weisen sie noch einmal darauf hin, dass Frau Schäfer eine Allergie gegen jodhaltige Kontrastmittel hat. Außerdem will ich den Hausarzt von Frau Schäfer so schnell wie möglich sprechen.“
*
Dr. Wert und der Hausarzt von Claudia
Eine Stunde später: Dr. Wert stand an seinem Röntgenschirm und betrachtete Aufnahmen, als das Telefon klingelte. „Wert.“ „Der Hausarzt von Frau Schäfer ist dran“, sagte die Sekretärin und legte auf. „Herr Kollege, guten Tag“, sagte Dr. Wert. „Ihre Patientin Frau Claudia Schäfer ist bei uns. Warum wollen sie wissen? Ihre Nierenfunktionswerte haben sich deutlich verschlechtert und das Niveau wie kurz nach der Geburt erreicht. Wäre das noch 3 Wochen so weiter gegangen, dann hätten wir wirklich ein ernsthaftes Problem. Nun sagen sie mal, was hat sie eigentlich geritten, das Präparat zu wechseln, obwohl die Werte der Patientin stabil waren und sich auch die Nierenfunktionswerte gebessert hatten?“ „Ich habe Nachricht bekommen, dass Noxtox besser ist“, antwortete Claudias Arzt. „Und von wem, wenn ich mal ganz vertrauensvoll fragen darf, hochgeschätzter Herr Kollege?“ „Von dem Hersteller des Präparates“, war die Antwort.
Dr. Wert fiel es schwer, die Fassung zu bewahren. „Und das, obwohl sowohl die US-amerikanische- und die europäische Arzneimittelbehörde vor den Nieren schädigenden Nebenwirkungen von Noxtox warnen und die US-amerikanische Arzneimittelbehörde das Präparat erst gar nicht zugelassen hat?!“, sagte Dr. Wert aufgebracht. „Nein, ist das wirklich so“, fragte Claudias Hausarzt, ohne dass sich seine Stimme merkbar veränderte. „Herr Kollege, studieren sie gelegentlich auch unabhängige Veröffentlichungen über Arzneimittel oder beziehen sie ihr Wissen ausschließlich von Pharmakonzernen“, fragte Dr. Wert. „Ich habe extra vor der Umstellung eine Fortbildung über Blutdrucktherapie absolviert, das kann ich nachweisen“, sagte Claudias Arzt.
„Wer war Veranstalter der Fortbildung?“ „Die Ärztekammer.“ „Haben sie die Einladung noch?“ „Die steht im Internet.“ Dr. Wert schaute auf die Fortbildungsliste der Ärztekammer und fand schließlich die genannte Fortbildung. Das Thema lautete: Verbesserung der Nierenfunktion unter der Anwendung neuer Blutdruckmittel. „Haben sie geschaut, wer die Veranstaltung finanziell unterstützt hat, Herr Kollege?“ „Nein, aber es hat ein Kardiologe aus Bremen gesprochen.“
„Also hier steht, dass das Unternehmen, das die Fortbildungskosten übernommen hat, der Hersteller von Noxtox ist. Es ist die Firma Toxthera und von dem Kardiologen weiß ich, dass er auf der Rednerliste der Firma Toxthera steht. Der war gekauft. Den kenne ich von Kongressen, er singt immer das Hohelied auf neue Präparate der Industrie. Er ist ein Mietmaul.
Hinzu kommt, dass die Stellungnahme der US-amerikanischen Zulassungsbehörde wegen der Nieren schädigenden Wirkung von Noxtox schon vor 6 Monaten in der Ärztezeitung stand. Dann geht dieses Unternehmen hin und behauptet in Deutschland immer noch, dass Noxtox die Nieren schützt. Das ist ein Fall für die Staatsanwaltschaft! Das gefährdet Menschenleben.
Aber ich bin noch nicht fertig. Vor mir liegt der Entlassungsbrief von Frau Schäfer, den ich damals an sie geschrieben habe. In diesem habe ich aufgrund der Schwere der Erkrankung darauf hingewiesen, dass ich über jede Umstellung im Vorfeld informiert werden will. Warum haben sie das nicht getan?“ „Man muss doch auch neuen Erkenntnissen in der Medizin Geltung verschaffen“, sagte Claudias Arzt in einem süffisanten Ton.
„Geschätzter Herr Kollege“, erwiderte Dr. Wert, „mein damaliger Chef hat vor vielen Jahren immer zu uns gesagt: „Da wäre ich ja ein dummer Arzt, wenn ich alles glauben würde, was ein Pharmavertreter mir sagt.“ Ich empfehle ihnen, das einmal zu überdenken. Bezogen auf Frau Schäfer, werde ich dafür Sorge tragen, dass die richtigen Konsequenzen gezogen werden. Abschließend noch eine Frage: Der Mann von Frau Schäfer äußerte den Verdacht, dass die Umstellung auf Noxtox im Rahmen einer Anwendungsbeobachtung erfolgt ist. Stimmt das etwa?“ „Dazu werde ich mich nicht äußern“, sagte Claudias Arzt.
„Nun hören sie mal genau zu, Herr Kollege. Frau Schäfer hat die Pharmareferentin der Fa. Toxthera beim letzten Besuch in ihrer Praxis vorgestern gesehen. Am Tresen stehend, Frau Schäfer hat direkt hinter ihr gestanden, fragte diese nach der Anwendungsbeobachtung zu Noxtox und die Bögen und Broschüren hat sie in die Praxis gebracht. Auch das hat Frau Schäfer gesehen. Es war dieselbe Broschüre, die sie anlässlich der Umstellung auf Noxtox von ihnen persönlich erhalten hat. Die liegt gerade vor mir auf meinem Tisch. Können wir jetzt das Versteckspiel einstellen oder muss ich mich bei der Kassenärztlichen Vereinigung darüber erkundigen?“ Claudias Arzt schluckte schwer. „Wir haben hier in mühevoller Tag- und Nachtarbeit Mutter und Kind das Leben erhalten und sie setzen das auf’s Spiel wegen des Honorars für eine Anwendungsbeobachtung?
An dem Spiel verdienen nur der durchführende Arzt, also sie durch die Honorare und das Pharmaunternehmen durch den Umsatz. Mit den Nebenwirkungen muss Frau Schäfer sich abmühen und den Krankenhausaufenthalt von einer Woche muss die Krankenkasse von Frau Schäfer bezahlen. Da hört sich doch wirklich alles auf.
Nochmals: Noxtox schädigt die Nieren von betroffenen und empfindlichen Patienten schwer“, sagte Dr. Wert in deutlicher Erregung. „Es löst eine Nephropathie (Funktionsstörung der Nieren) bis hin zur Schrumpfniere (krankhafte Verkleinerung der Nieren, mit der Gefahr des vollständigen Nierenversagens) aus. Außerdem wird eine Schädigung der Leber in der Fachpresse diskutiert. Das war auch bei allen Vorläufern aus dieser Wirkstoffgruppe bekannt, und zwar seit Jahren. Ob das bei Frau Schäfer eingetreten ist, muss sich noch herausstellen, das kann ich noch nicht sicher sagen. Aber wenn dem so ist, und der Zustand fortgeschritten ist, dann haben sie in absehbarer Zeit eine dialysepflichtige Patientin! Ich muss ihnen nicht sagen, was das für Frau Schäfer und diese kleine Familie bedeuten würde!? Das hier hat ein Nachspiel, dafür werde ich sorgen. Haben sie noch mehr Patienten auf Noxtox eingestellt?“ Der Arzt von Claudia antwortete nicht. „Nun gut, Herr Kollege, was immer da ist, sie wissen, was sie zu tun haben. Ich hoffe für sie, dass ich hier keinen weiteren Fall zu Gesicht bekomme.“
Dr. Wert legte den Hörer auf die Gabel, er kochte innerlich.
*
Dr. Wert und Dr. Holten
Er rief seine Sekretärin zu sich. „Rufen Sie doch mal beim betriebsärztlichen Dienst von VW an und fragen Sie nach Dr. Holten, ich möchte ihn gerne sprechen.“ 10 Minuten später verband die Sekretärin beide Ärzte.
„Wert hier, guten Tag Herr Kollege.“ „Oh Herr Wert, wie komme ich denn zu dieser Ehre?“ „Frau Schäfer war hier und ich wollte mich bei ihnen bedanken, es war wichtig, dass sie sie zu uns geschickt haben.“ „Ja die Rückenschmerzen ließen mich bei der Vorgeschichte sofort an die Nieren denken. Ich habe mich gefragt, warum ihr Hausarzt nicht daran gedacht hatte, sie hatte ihm ja wohl auch davon berichtet.“ „Der hat seine Anwendungsbeobachtung im Kopf und wie er mit seinen Patienten Geld macht, sonst nichts!“ Dr. Holten merkte, wie erregt sein Kollege war. „Dabei hatte Frau Schäfer damals ein vollständiges Nierenversagen erlitten“, ergänzte Dr. Wert.
„Dieses unheilige Spiel mit den Anwendungsbeobachtungen greift immer weiter um sich“, sagte Dr. Holten. „Aber was kann ich für sie tun, sie rufen doch sicher nicht nur bei mir an, um sich wegen eines Gespräches zu bedanken.“ „Stimmt Herr Kollege. Ich denke darüber nach, was ich dagegen tun kann. Wenn das mit dem Noxtox so weiter geht, dann können wir uns hier bald vor Arbeit nicht mehr retten. Ich suche Kontakt zu Ärzten, die langjährige Erfahrung im Umgang mit solchen Problemen haben.“
„In meiner Zeit in der Medizinischen Hochschule habe ich seinerzeit den Vorsitzenden der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Prof. Schwanitz, kennengelernt“, antwortete Dr. Holten. „Er ist Pharmakologe und Psychiater. Er hat sich immer gegen die Machenschaften der Industrie gewandt und ist sehr erfahren. Vielleicht sprechen Sie erst einmal mit ihm. Auch gibt es einen Verein unabhängiger Ärzte und Ärztinnen namens Mezis. Die finden Sie im Internet. Googlen Sie einfach.“ „Haben Sie die Telefonnummer von dem Kollegen?“ „Ja ich schicke Ihnen die Adressdaten per Mail. Ich werde ihn anrufen und ihm Ihren Anruf ankündigen.“
„Dann stehen Sie immer noch mit ihm in Kontakt?“ „Natürlich, die Kreise in der Pharmakologie sind klein, man kennt sich gut. Außerdem ist die Pharmakologie für mich als Arbeitsmediziner sehr wertvoll, weil ich gelernt habe, die chronische Wirkung von Giften besser einzuschätzen.“ „Warum haben Sie den Schwenk in die Arbeitsmedizin eigentlich gemacht“, wollte Dr. Wert wissen. „Mich hat es immer mehr interessiert, gesundheitlich Risiken zu erkennen und Krankheiten zu vermeiden, als sie zu behandeln.“ „Da ist was Wahres dran. Viele der Patienten, die ich behandle, müsste ich eigentlich nicht behandeln, wenn sie richtig therapiert worden wären, Stichwort Diabetes.“ „Ja das ist wahr“, antwortete Dr. Holten. Beide Ärzte beendeten das Gespräch.
*
Claudia im Krankenhaus
Am nächsten Morgen. Dr. Wert kam zur Visite. „Na, die 2 Flaschen sind aber nur genehmigt, weil sie erst gestern Mittag zu uns gekommen sind. Morgen will ich meine vier leeren Flaschen sehen“, scherzte er. Claudia lächelte, während Dr. Wert seine Flaschen abräumte.
„Warum sind sie da eigentlich so streng damit", fragte Claudia. „Ich tue das nicht für mich“, antwortete Dr. Wert, „sondern für meine Patienten. Viel zu trinken ist für Patienten mit Nierenerkrankungen sehr wichtig. Viel trinken fällt nicht immer leicht, aber wenn ich es kontrolliere, fällt es vielen leichter.
So, aber nun zu ihnen, Frau Schäfer. Ich möchte, dass sie heute in die Röntgenabteilung gehen, die Kollegen werden dort mehrere Untersuchungen, unter anderem auch eine Kernspinaufnahme, anfertigen. Ich will sehen, ob sich da irgendetwas verändert hat und achten sie bitte auf die Ohrenstöpsel, das Ding ist fürchterlich laut. Ich habe vor 2 Wochen in der Röhre gelegen“, sagte er und lächelte verschmitzt.
„Wie das geht, wissen sie ja schon. Schwester Meike, haben wir irgendwelche Entzündungswerte?“ „Nein die Blutsenkung war normal, aber die Laborwerte kommen noch.“ „Wenn die da sind, sofort zu mir“, sagte Dr. Wert. „Hat ihr Mann das gestern mit der Wäsche, - - ach ja sie haben ja keine Krankenhauskleidung an. Er kümmert sich sehr um sie.“ „Ja, das stimmt wirklich Herr Doktor“, antwortete Claudia.
„Frau Schäfer, haben sie schon mal eine Ernährungsberatung genossen?“, Dr. Wert sah Claudia über die Brille an? „Nein“, antwortete sie. „Dann bereiten sie sich mal darauf vor. Fragen sie die Krankenkasse, ob sie das übernimmt, ich werde ihnen eine schriftliche Empfehlung geben. Wenn nicht, machen sie es trotzdem, es wird ihren Mann nicht ärmer machen, aber dafür sie gesünder. Sie haben zugenommen und darüber bin ich nicht glücklich. Wenn sie in den nächsten Jahren im gleichen Maße zunehmen, wie in den beiden Letzten …“, Dr. Wert schaute Claudia sehr direkt über die Brille an. Claudia errötete. „Die Schwangerschaften, Herr Doktor.“ „Keine Ausrede Frau Schäfer, das wird nicht akzeptiert. Sonst wird da möglicherweise eine Zuckerkrankheit draus. Sie sind jetzt 34 Jahre. Jetzt können wir noch etwas tun. Später geht das nicht mehr. Ich will sie nicht als Diabetikerin in der Dialyse sehen!“, sagte Dr. Wert und setzte sich auf die Kante von Claudias Bett.
„Treibt ihr Mann Sport?“ „Ja er läuft, aber immer so schnell.“ „Dann sagen sie ihm einen Gruß von mir, er soll langsamer laufen und sie mitnehmen. Ach ich werde mit ihm darüber sprechen, ich meine natürlich mit ihnen beiden. Heute wird schon einmal eine Ernährungsberaterin aus dem Haus zu ihnen kommen und mit ihnen über ihre Ernährung sprechen. Das heißt, sie wird erst einmal sehen, wie sie sich ernähren und in den nächsten Tagen setzen wir das fort, damit sie eine Vorstellung bekommen, wie so etwas geht. Davon werden auch ihr Mann und ihre Kinder profitieren. Wie geht es ihnen nach der Umstellung der Medikamente?“ „Gut, aber noch nicht anders“, antwortete Claudia. „Schwester Meike, verstärktes Blutdruckmessen und die Werte zu mir. Frau Schäfer, soweit für heute, nichts für ungut, sie kennen ja meinen Stil“, sagte Dr. Wert, lachte lauthals, gab Claudia herzlich die Hand und verließ das Zimmer.
Es war Nachmittag geworden und Dr. Wert rief seine Sekretärin und fragte nach den Werten von Claudia. Die kam auch gleich und hatte die Laborwerte von Claudia und die Bilder aus der Radiologie. Gott sei Dank, nichts wirklich Besorgniserregendes dachte er und legte sich die Unterlagen für die Visite am nächsten Morgen zurecht. Wenn ich zu Hause bin, schaue ich noch mal bei der FDA (Arzneimittelzulassungsbehörde in den USA) rein. Mal sehen, ob es was Neues gibt. So und jetzt ab nach Hause.
Morgens zur Visite. Dr. Wert kommt gut gelaunt ins Zimmer und bleibt mit großen Augen vor Claudias Bett stehen. Er zeigt zum Fenster. „Das sind nur drei Flaschen, Frau Schäfer“, sagte er mit deutlich erhobener Stimme. „Ach ja die Vierte steht auf dem Nachtisch. Na da haben sie ja noch mal Glück gehabt. Wie geht es ihnen?“ „Besser“, sagte Claudia. „Der Blutdruck ist jetzt 130 zu 95.“ „Schön, das kommt also so langsam wieder. Wie war es gestern in der Röhrendisco?“, Claudia lachte „Nicht ganz so schlimm, Herr Doktor, der Deejay hat sich zurückgehalten“, antwortete sie. Alle lachten.
„Ich habe mir das angesehen. Da sind sie noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Dieses Noxtox greift das Nierengewebe an, glücklicherweise hat es aber bei ihnen noch nicht die gefürchteten Veränderungen gegeben. Sie sind rechtzeitig zu uns gekommen. Eigentlich kann man das erst durch eine Biopsie wirklich absichern, aber die Nierenwerte bessern sich leicht und ich will sie da im Moment nicht durchschicken. Das heißt aber auch, dass für die nächsten 6 Monate die Nierenwerte wöchentlich kontrolliert werden müssen. Ich will das persönlich sehen!“ „Werde ich machen lassen“, antwortete Claudia erleichtert.
„So, es geht also aufwärts, das ist schön, wir sehen uns morgen, tschüss.“ Dr. Wert verschwand so schnell, wie er gekommen war. Schwester Meike stand noch im Zimmer und wollte den Blutdruck messen. „So, jetzt lassen wir es ruhig angehen, der Wirbelwind ist weg“, sagte sie und lächelte Claudia an. „Ich stelle mir das nicht einfach vor, unter ihm zu arbeiten“, sagte Claudia. „Stimmt schon, aber er erreicht auch was für seine Patienten. Ich habe in anderen Abteilungen gearbeitet, aber hier gefällt es mir immer noch am besten“, sagte Schwester Heike. „So, 125 zu 90 und das nach so einer Donnervisite, das ist doch was. Geht doch“, sagte Schwester Meike lächelte und verließ das Zimmer.
*
Entlassungsgespräch
Es war Freitag, die Woche war schnell vergangen. .Claudia und Claus saßen im Wartezimmer. Dr. Wert kam von seiner Station und holte beide in sein Büro. „So, Frau Schäfer, die Werte sind besser, insbesondere der Blutdruck ist wieder fast normal. Die Funktionswerte der Nieren erholen sich langsam. Aber immerhin, sie erholen sich. Ich kann sie nach Hause lassen. Vorher müssen wir aber noch einige Sachen zusammen besprechen.
Was ihr Hausarzt über Noxtox nicht wusste, ist, dass es Nieren schädigend ist. Es führt zu einer entzündlichen Veränderung des Nierengewebes, was ein vollständiges Nierenversagen zur Folge haben kann. Dabei hat es schon einmal ein sehr ähnliches Präparat namens Sarcospouse gegeben, das von Toxthera verkauft wurde und in 1999 vom Markt genommen wurde. Es hatte ähnlich verheerende Wirkungen.
Zusätzlich belastet Noxtox die Leber, was wir auch an der Verschlechterung ihrer Leberwerte gesehen haben. Aber keine Angst, auch das bessert sich gerade wieder. Es war sehr gut Frau Schäfer, dass sie eine Steigerung der Dosis abgelehnt haben. Das hat sie vor schwerem Schaden bewahrt.
Lassen sie mich das mit ähnlichen Arzneimitteln aus einer Molekülgruppe etwas plastischer erklären. Sie kennen das von ihren Motoren, Herr Schäfer. Es gibt unterschiedliche Benzinsorten, die diese Motoren antreiben. Grundsätzlich machen alle dasselbe. Aber nicht jedes Benzin ist für jeden Motor geeignet.
So ähnlich ist es mit Molekülgruppen oder Arzneimittelgruppen. Wenn ich eine Gruppe herausnehme, dann haben die einzelnen Substanzen ähnliche, aber nicht dieselben Wirkungen. Von der Arzneimittelgruppe, zu der Noxtox gehört, war seit vielen Jahren bekannt, dass sie zwar den Blutdruck senkt, aber die Nieren und die Leber zum Teil schwer schädigen kann. Deshalb galten diese Wirkstoffe viele Jahre als nicht einsetzbar.
Die Fa. Toxthera hat sich diese Gruppe nochmals vorgenommen, daraus ein Arzneimittel entwickelt und in den Verkehr gebracht. Dabei hat sie mit großem Tohuwabohu behauptet, dass es endlich aus dieser Substanzgruppe ein Medikament gibt, das den Blutdruck senkt und die Nieren schützt. Eine völlig paradoxe Behauptung, die im Übrigen nicht stimmt. Wenn man Diesel in einen Benzinmotor gibt, dann geht der Motor davon kaputt, da spielt es keine Rolle, ob ich normalen Dieselkraftstoff nehme oder Biodiesel.“ „Das stimmt allerdings“, sagte Claus. Interessant ist auch, das Noxtox in anderen Ländern wegen des hohen Risikos nicht zugelassen wurde. Das gilt für die USA, Australien, Schweiz und Kanada. Das ist in Fachkreisen intensiv diskutiert worden und auch die medizinische Fachpresse hat ausführlich darüber berichtet. Aus meiner Sicht ist es absehbar, dass Noxtox vom Markt genommen wird. Wie viele Patienten bis dahin noch leiden werden, das ist die Frage, die nicht zu beantworten ist.
Wir Nephrologen haben immer davor gewarnt und ich habe den Einsatz dieses Mittels in unserem Krankenhaus untersagen lassen. Es ist von der Arzneimittelkommission dieses Krankenhauses von der Liste der hier zugelassenen Arzneimittel gestrichen worden. Die Fa. Toxthera hat hier einen riesigen Zirkus deswegen veranstaltet. Man hat mir mit allem Möglichen gedroht, aber ich habe mich durchgesetzt.
Ein grundlegendes Problem in Deutschland ist, dass 80 % der deutschen Ärzte die englische Sprache nicht ausreichend beherrschen, um mit englischsprachigen Dokumenten und Studien etwas anfangen zu können (Punkt 9 Lit. Verz.). Die meisten Studien werden aber ausschließlich in Englisch veröffentlicht. Das heißt aber auch, dass diese Ärzte darauf angewiesen sind, sich von der pharmazeutischen Industrie wissenschaftliche Arbeiten und Studien, vorlegen und interpretieren zu lassen. Das sind aber sehr oft Studien, die von den Herstellern selber durchgeführt werden. Für mich ist das keine Wissenschaft, sondern Marketing oder besser Betrug. Dass diese Studien im Sinne der von den Unternehmen verkauften Präparate geschönt sind, ist eine erwiesene Tatsache. Eigentlich habe ich schon darauf gewartet, die ersten Patienten mit Noxtox früher zu sehen. Ich habe von einem Kollegen gehört, dass die Firma Toxthera bundesweit die Ärzte durch Anwendungsbeobachtungen dazu drängt, dieses aus meiner Sicht sehr gefährliche Präparat einzusetzen.
Diese Anwendungsbeobachtungen und da stimme ich Dr. Holten eindeutig zu, dienen nicht dem Zweck der Beobachtung von Arzneimitteln, sondern nur dem Zweck, den Ärzten, die diese Anwendungsbeobachtungen durchführen, Geld zukommen zu lassen. Im Klartext: Die Ärzte verdienen Geld damit, neue, Präparate in den Markt zu drücken. Der Fall von Noxtox ist ein Beispiel dafür, dass diese Anwendungsbeobachtungen ein besonders teuflisches Spiel sind.
Es gibt viele Ärzte, die Anwendungsbeobachtungen ablehnen. Ein gewisser Teil der Ärzte aber macht sie doch, sehr zu unserem Bedauern. Wir halten das für korruptives Verhalten. Aber der Gesetzgeber bekommt es nicht geregelt, das zu verbieten. Die Macht der Lobbyisten.“ „Das hat Dr. Holten auch so gesagt, stimmt doch oder“, Claudia schaute Claus an, der nickte zustimmend.
Frau Schäfer, als mir meine Sekretärin von dem Herzrasen und den Rückenschmerzen berichtete, wollte ich sie eigentlich sofort mit einem Krankenwagen in die Klinik holen lassen. Diese Rückenschmerzen kommen nämlich bei ihrer Vorgeschichte meistens von den Nieren. Deswegen hat auch Dr. Holten danach gefragt, wo genau sie die Rückenschmerzen haben.
„Wir im Haus und insbesondere in unserer Abteilung haben damals alle mit ihnen gefiebert“, sagte Dr. Wert und schaute beide an. „Es hat fast keinen Tag gegeben, an dem nicht jemand danach fragte, wann es mit Mirke soweit war. Sie erinnern sich, wir haben Medikamente zur Reifung der Lungen gegeben, damit wir Mirke auch durchbringen, falls wir sie früher holen mussten. Zum Glück haben wir einen sehr fähigen Kinderarzt im Haus. Sie waren damals sehr tapfer! Das mit der Dialyse war eine große Belastung für sie. Dass das auch für ihren Mann und ihren Sohn sehr schwer war, ist uns nicht entgangen.
Wir haben es gemeinsam geschafft. Aber nicht, um all das den wirtschaftlichen Interessen eines völlig fehlgeleiteten Pharmaunternehmens zu opfern!“, sagte Dr. Wert mit großem Nachdruck in seiner Stimme. „Diese Sache wird ein Nachspiel haben. Der Hersteller behauptet, dass das Präparat besonders die Nieren schützt. Das Gegenteil ist der Fall! Das ist Rechtsbruch und genauso werden wir damit umgehen. Weil diese Behauptung insbesondere weniger erfahrene Ärzte dazu verleitet, das Präparat unkritisch einzusetzen. Das geschieht dann auch noch, wie in ihrem Fall, bei einer Patientin, die schon einmal ein vollständiges Nierenversagen erlitten hat.
Mittlerweile ist die Fa. Toxthera in den USA wegen kriminellen und betrügerischen Marketings in anderen Fällen zu 1.8 Mrd. US-$ Strafe verurteilt worden. Dabei ist das noch nicht einmal ein Einzelfall. In den USA werden Pharmahersteller, die ihr Marketing in betrügerischer Absicht betreiben, hart bestraft, aber deutsche Politiker hofieren diese Unternehmen regelrecht. Obwohl diese Unternehmen in Deutschland genau dasselbe tun, weswegen sie in den USA bestraft wurden.
Das, was sie hier tun, ist auch nach deutschem und europäischem Recht in gleicher Weise strafbar, wie in den USA. Wenn eine einzelne Person so etwas mit Vorsatz bei einem Menschen anrichten würde, dann würde sie mindestens wegen schwerer Körperverletzung bestraft. Aber Unternehmen kann man nun mal nicht geschlossen ins Gefängnis schicken. Wenn sie in Deutschland etwas dagegen tun wollen, dann laufen sie gegen Wände.“
Claudia und Claus waren fassungslos. „Menschen erwarten Heilung und werden krankgemacht, ist es das, was sie uns sagen wollen“, fragte Claudia erregt. „Ja, Frau Schäfer, genau das! Das gilt nicht generell, es trifft nicht die Mehrheit der Ärzte, aber es gibt solche Fälle und sie häufen sich stark. Wissen sie, was Rote-Handbriefe sind?“ Claudia und Claus sahen sich an. „Nein, davon haben wir noch nichts gehört.“
„Das sind die für uns Ärzte die wichtigsten Nebenwirkungsmeldungen. Wenn die herausgegeben werden, dann ist das die höchste Alarmstufe für Ärzte und Krankenhäuser. In der Regel sind eine Mehrzahl von Menschen gestorben, bevor sie veröffentlicht werden“, sagte Dr. Wert. „Die Zahl dieser Rote-Handbriefe ist in den letzten Jahren dramatisch angestiegen. Die Nebenwirkungsmeldungen nehmen linear mit der Verbreitung dieser Anwendungsbeobachtungen zu.“ Dr. Wert zeigte beiden die folgende Grafik. „Beachten sie bitte die obere Kurve“, sagte er.
„Wenn ihre Motoren, Herr Schäfer, eine derartige Leistungskurve aufweisen würden.“ „Wären wir froh“, beendete Claus den Satz. „Wie können wir uns und unsere Kinder davor schützen“, fragte Claudia. „Wir wissen nicht, welche Ärzte sich an diesem Spiel beteiligen!“
„Nun, Frau Schäfer, sie kennen jetzt 2 Ärzte, die sich daran nicht beteiligen. Ist das nicht ein Anfang?“ „Ja“, sagte Claudia, „das stimmt.“ „Es gibt noch mehr davon Frau Schäfer“, beendete Dr. Wert seinen Satz.
„Außerdem wissen wir nicht, wann eine solche Anwendungsbeobachtung durchgeführt wird“, erregte sich Claudia weiter. „Mein Hausarzt hat mir nichts davon gesagt.“ Sie war schwer zu beruhigen.
Dr. Wert beugte sich über den Schreibtisch und schaute Claudia intensiv an. „Genau das ist rechtswidrig. Wenn ein Patient über die Gründe des Einsatzes eines Präparates nicht vollständig informiert wird und dazu gehören auch Anwendungsbeobachtungen, ist die Therapie strafbar, auch wenn ein Arzt sie durchführt“, sagte Dr. Wert. „Das steht in der Deklaration von Helsinki und ist Bestandteil des Völkerrechts!“
„Ihr Hausarzt hat einen weiteren schwerwiegenden Fehler gemacht. Er hat sich ausschließlich von dem Hersteller über das Präparat informieren lassen, unabhängige Quellen hat er nicht bemüht. Das ist nicht nur gefährlich, das ist fahrlässig. Wie will er denn seine Patienten über Risiken eines Arzneimittels aufklären, wenn alles, was er weiß, vom Hersteller des Präparates stammt und das nur ein Lügengespinst ist?!“, erregte sich Dr. Wert.
„Ich will diesen Fall öffentlich machen, Frau Schäfer, das aber setzt ihre Einwilligung voraus. Wäre sie damit einverstanden?“, fragte Dr. Wert. Claudia und Claus stimmten der Veröffentlichung zu.
„Nun noch zur weiteren Therapie. Haben sie ein Blutdruckmessgerät zu Hause?“ „Nein, wir haben das immer in der Praxis machen lassen.“ „Dann gehen sie in ein gutes Sanitätshaus und kaufen sie sich bitte eines und vor allem nicht das billigste Gerät. Das sollte automatisch funktionieren. Frau Schäfer, ich möchte, dass sie morgens und abends messen und das aufschreiben und mir beim nächsten Mal mitbringen. Wenn die Werte steigen, melden sie sich bitte umgehend bei mir. Gegebenenfalls müssen wir dann eine 24-Stunden-Blutdruck-Messung machen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass sie auch mit freiverkäuflichen Arzneimitteln sehr vorsichtig sein müssen, Frau Schäfer. Das sind genauso Arzneimittel, wie alle anderen auch. Viele von ihnen waren zuvor rezeptpflichtig. Sie sind nur aus Kostengründen von kurzsichtigen Politikern aus der Rezeptpflicht genommen worden, damit sie von den Krankenkassen nicht mehr erstattet werden müssen. Legen sie sich ein kleines Oktavheft an und notieren sie dort bitte alle Arzneimittel, die sie einnehmen, auch Salben, alles“, sagte Dr. Wert in seiner bekannt eindrücklichen Art. „Wenn sie Zweifel haben, rufen sie mich an. Haben sie Beschwerden, die sich mit freiverkäuflichen Arzneimitteln behandeln?“ „Nein“, antwortete Claudia.
„So, und sie, Herr Schäfer, geben gut Acht auf ihre Frau. Ach ja, das mit dem Sport wollte ich ja noch ansprechen. Frau Schäfer, was hat die Waage heute Mittag gesagt?“ „84 kg“, sagte Claudia. „Na ein Kilo weniger, das ist gut so.
„Schön. Herr Schäfer, ihre Frau muss abnehmen. Können sie ihre Frau beim Laufen mitnehmen?“ Claus zögerte zunächst. „Ja, Herr Schäfer, sie werden langsamer laufen müssen“, sagte Dr. Wert und der Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Sehen sie, Herr Schäfer, regelmäßiger Sport ist sehr gut für den Blutdruck ihrer Frau. Wenn wir die Arzneimittel mit dem Sport kombinieren, dann können wir die Dosis des blutdrucksenkenden Arzneimittels unter Umständen sogar senken. Also, Herr Schäfer?!“ „Selbstverständlich, Herr Doktor, machen wir. Zur Not laufe ich noch eine zusätzliche Runde.“ Claus lachte Dr. Wert an. „Essen sie beide gerne Ananas?“ Beide schauten sich erst an und nickten. „Jeden Tag eine Scheibe frische Ananas, das hilft beim Abnehmen gut“, sagte Dr. Wert.
„Ich möchte, dass sie beide verstehen, warum ich das mache. Oft wird das Verständnis von Therapie auf die Gabe von Medikamenten reduziert. Therapie ist aber viel mehr. Wir können durch bessere Lebensführung viel mehr für uns erreichen, als das mit Medikamenten möglich ist. Außerdem ist das Kind meist in den Brunnen gefallen, wenn die benötigt werden. Manchmal habe ich Schwierigkeiten, Patienten davon zu überzeugen. Bei ihnen beiden fällt mir das leicht, denn sie hören zu.“ „Und wann nehmen sie ab“, fragte Claudia Dr. Wert ganz verschmitzt. Alle lachten.
Haben sie sich über ihren künftigen Arzt schon Gedanken gemacht?“, wollte Dr. Wert wissen. „Ja“, sagte Claus. „In der Nähe gibt es 2 Internisten, über die wir nachgedacht haben.“ „Gut. Lassen sie mich wissen, zu welchem Ergebnis sie gekommen sind, ich werde ihnen dann Hilfestellung geben. Den Arztbrief gebe ich ihnen jetzt schon mit.
Von einer erneuten Schwangerschaft, in der jetzigen Situation, möchte ich abraten!“ Claudia und Claus nickten zustimmend.
Ich möchte ihre Laborwerte wöchentlich erfahren. Lassen sie sich den Laborbericht kopieren, sie können mir den dann per Fax oder Mail schicken.“ Claudia und Claus nickten. „So, Herr Schäfer, dann noch ein Auftrag von mir an sie“, sagte Dr. Wert und grinste hintersinnig. Claus schaute Dr. Wert gespannt an. „Das mit den Wasserflaschen übernehmen sie ab sofort für mich! Einverstanden?“ Alle lachten und nickten. Das Gespräch war beendet. Dr. Wert verabschiedete beide herzlich.
Claus und Claudia verließen die Klinik und fuhren gemeinsam in ein italienisches Restaurant, das beide sehr mochten.
*
Zurück ins Leben
Beim Essen sagte Claudia: „Von einem neuen Arzneimittel hat mein Hausarzt nie gesprochen. Er hat nur gesagt, dass es besser sei. Wenn er von einem neuen Arzneimittel gesprochen hätte, dann wäre ich skeptisch geworden. Erinnerst du dich, dass wir vor einigen Wochen einen Beitrag im Fernsehen gesehen haben, in der es um die Arzneimittelindustrie ging?“ „War das die über diese Arzneimittelkommission in Berlin?“ „Ja genau, ich weiß zwar nicht mehr den ganzen Namen, aber da war ein Professor, der hat gesagt, dass es ein Irrglaube ist, dass neu zugelassene Arzneimittel grundsätzlich sicher sind. Ich fand das eine sehr starke Aussage.“ „Stimmt“, sagte Claus, „darüber haben wir auch in der Firma gesprochen. Der Beitrag hatte auch was mit Pharmakartell zu tun. Lass uns doch mal im Internet danach suchen, vielleicht finden wir den Beitrag dort und können den noch einmal ansehen.“
Auf dem Weg nach Hause schwiegen beide. Sie mussten das Gespräch erst verarbeiten. Beiden erschien schwer vorstellbar, was sie da gehört hatten. Zuerst holten sie die Kinder von den Eltern ab. Zu Hause haben sie sich dann erst mal viel Zeit für die Kinder genommen. Es war ein schöner gemeinsamer Abend.
*
Familie Wert
Am gleichen Abend im Heim der Familie Wert. Dr. Wert war nach dem Gespräch mit Claudia und Claus gleich nach Hause gefahren. Zu Hause angekommen begrüßte er seine Frau Eva nur kurz und ging in sein Arbeitszimmer.
Eva Wert, Mutter von 5 Kindern, war Dipl. Sozialpädagogin. Sie hatte sich bereits in ihrem Studium wissenschaftlich mit den Folgen der alternden Gesellschaft befasst und hierüber auch ihre Doktorarbeit geschrieben. Nach Abschluss ihrer universitären Tätigkeit hatte sie in der Stadtverwaltung in Kassel im Bereich der Altenpflege gearbeitet und mehrere Altenheime beaufsichtigt.
Ihren Mann Viktor hatte sie auf sehr ungewöhnliche Weise kennengelernt. Beide hatten zur gleichen Zeit die Documenta in Kassel besucht. Nachdem diese am späten Nachmittag geschlossen wurde, trafen sich beide auf dem Parkplatz, als sie versuchten, das Gelände zu verlassen. Ihr Zusammentreffen verursachte einen kapitalen Blechschaden an beiden Autos, weil er während des Fahrens telefonierte und sie die Vorfahrt missachtete.
Als beide ihre Fahrzeuge verließen und versuchten, zu verstehen, was da eigentlich geschehen war, hatte Victor das Gefühl nicht nur sein folgenschwerstes, sondern auch das beste Telefonat seines Lebens geführt zu haben.
Nachdem er sich überzeugt hatte, dass es Eva gut ging und beide nach dem ersten Schreck erst einmal gelacht hatten, beschlossen sie die Fahrzeuge sich selber zu überlassen und gemeinsam essen zu gehen. Dazu bot sich in der nahe gelegenen Fußgängerzone viel Gelegenheit.
Eva war erst einmal gespannt zu erfahren, was das für ein Mann ist, der offensichtlich wenig Wert auf die „Unversehrtheit seines Blechkleides“ legte. Victor sagte später, dass er seine Augen kaum vor seiner späteren Frau lassen konnte. Es folgte eine Beziehung, die nach 8 Monaten vor dem Altar einer Kirche in Südfrankreich endete. Das Ganze war vor 32 Jahren geschehen und war der Anfang einer glücklichen Ehe.
Beide waren aus Überzeugung Eltern von 5 Kindern. Nach den Zwillingen Herbert und Anne waren noch 2 Mädchen, Michaela und Christine, zur Welt gekommen. Victor und Herbert konnten sich der „weiblichen Übermacht“ oft nicht erwehren. Das aber wurde durch die Geburt von Peter, den Eva als spät Gebärende im Alter von 46 Jahren zur Welt brachte, gemildert. Der Nachzögling war mittlerweile 11 Jahre alt und Viktor hatte gerade ihn sehr in sein Herz geschlossen.
Eva selber war frühzeitig wieder in Ihren Beruf zurückgekehrt. Eine Tagesmutter aus der Nachbarschaft machte ihr das möglich. Heute ist Eva Leiterin von 2 Altenheimen. Da Erkrankungen hier oftmals eine wichtige Rolle spielen, war Viktor für sie auch hier mit seinen medizinischen Kenntnissen der ideale Lebenspartner. Nicht selten konnten Probleme von Heimbewohnern im Gespräch zwischen den Eheleuten geklärt werden.
Eva war nicht entgangen, dass Viktor ganz offensichtlich über einem Problem brütete. Sie ließ ihn gewähren, weil sie wusste, dass er in solchen Situationen nur schwer ansprechbar war.
Um 21:30 aber war Zeit für ein festes Ritual zwischen beiden Eheleuten. Eva kam mit 2 Gläsern Rotwein in das Arbeitszimmer von Viktor und stellte eines auf seinen Schreibtisch. „Hast du Zeit“, fragte Eva. „Sicher doch“, war seine Antwort.“ Eva setzte sich auf eine Liege und trank genüsslich von ihrem Wein.
„Was bedrückt dich“, fragte sie. „Ach wieder so ein Fall medizinischer Unmöglichkeiten, der am Ende nur zulasten der betroffenen Patienten geht. Erinnerst du dich noch, dass wir vor ca. 1½ Jahren eine junge Mutter auf der Station hatten? Sie hatte in der Schwangerschaft Probleme mit den Nieren bekommen.“ „Ja darüber hatte wir ausführlich gesprochen. War da nicht auch ein Abbruch der Schwangerschaft im Gespräch?“ „Völlig richtig“, antwortete Viktor. „Ich habe diese Frau bewundert, wie sie sich für das Leben des Ungeborenen eingesetzt hatte. Ihr Mann wollte aus Angst um seine Frau den Schwangerschaftsabbruch. Der wäre auch ethisch gerechtfertigt gewesen. Aber sie hat das abgelehnt, trotz der großen Gefahren für sich selber.
Es hat mich an unsere Zeit mit Peter erinnert. Sie wollte das Kind unbedingt haben. Das war ein richtig harter Kampf.“ „Und wie geht es den beiden heute“, wollte Eva wissen. „Sie war wieder bei mir. Nach dem Ende der Schwangerschaft hatte ich sie endgültig auf Medikamente eingestellt und das sah auch alles ganz ordentlich aus. Vor einer Woche kam sie mit Nieren- und Blutdruckwerten zurück, die denen während der Schwangerschaft sehr ähnlich waren.“ „Hast du schon den Grund herausgefunden“, wollte Eva wissen.
„Halt dich fest Eva, da hat ein Allgemeinmediziner ein sogenanntes neues Blutdruckmittel ausprobiert und sich dafür noch von der Industrie bezahlen lassen. Zwar behauptet der Hersteller, dass das Mittel, neben seiner blutdrucksenkenden Wirkung, die Nieren schützt. Aber das ist alles nur dummes Marketinggeschwätz. Das Gegenteil ist der Fall, das Zeug schädigt die Nieren schwer, das ist bekannt und dokumentiert. Die lügen die Ärzte dreist an, und sie finden auch noch andere Ärzte, die dieses Lügengespinst auf Fortbildungen unter ihre Kollegen bringen. Frei nach dem Motto, ‚der Arzt dein freundlicher Pharmavertreter’. Es ist nicht zu fassen! Das eigentlich Schlimme ist, dass dieses Vorgehen noch durch die Gesetzgebung gedeckt ist. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Gesetze in diesem Land mehr für die Industrie als für die betroffenen Menschen geschrieben werden.“
„Mit der Bezahlung für die Umstellung, meinst Du da etwa diese Anwendungsbeobachtungen?“ „Genau die. Wenn die Frau nicht misstrauisch geworden wäre und der Mann der Frau nicht seinen Betriebsarzt angesprochen hätte, wäre die Frau wahrscheinlich als eine Dialysepatientin geendet oder es wäre noch Schlimmeres passiert.“ „Spricht für den Mann?“ „Völlig richtig.“ „Du hast ihr also helfen können?“ „Ja, ich habe sie eine Woche lang in der Klinik behalten und sie auf die Medikamente eingestellt, die ich ihr ursprünglich verordnet hatte.“
„Schön, aber die Sache lässt dich nicht los, warum?“ „Es ist eine hochgefährliche Situation. Der Arzneimittelhersteller wird wegen des Präparates von allen Seiten angegriffen. Das Unternehmen versucht jetzt auch noch, über den verstärkten Einsatz von diesen Anwendungsbeobachtungen hier in Deutschland trotzdem das Arzneimittel zu vermarkten. Ich warte eigentlich jeden Tag auf die nächsten Fälle! Da sind Patienten unterwegs, die deutlich älter sind und deren Nieren deutlich stärker vorgeschädigt sind als die dieser Patientin. Da sind sogar Todesfälle absolut möglich!“
„Und du denkst jetzt darüber nach, was man dagegen tun kann?“ „Ja, natürlich, ich lass doch die Menschen nicht sehenden Auges in ihr Verderben laufen.“
Eva stand auf und nahm ihren Mann in den Arm. Viktor war Arzt mit Leib und Seele. Nicht selten hatte die Familie dahinter zurückstehen müssen. Sie erinnerte sich an manche Situation, als ihre Kinder sich beschwerten, dass ihr Vater so oft im Krankenhaus und so selten zu Hause war. Claudia war ein solcher Fall. Als sie sich für das Kind entschieden hatte, hatte Viktor alles in Bewegung gesetzt, um das zu ermöglichen. Sie verstand seine Sorgen, auch als Mutter.
Die Schwangerschaft mit ihrem Sohn Peter war auch für Eva nicht ohne Komplikationen geblieben. Es war das Risiko der spät Gebärenden, dass immer wieder diskutiert wurde. Alle möglichen diagnostischen Maßnahmen sollten ergriffen werden. Aber sie hatte sich dagegen gewehrt. Insbesondere gegen die Punktion des Fruchtwassers. Die Ultraschalluntersuchungen des Ungeborenen hatten nichts Anormales ergeben und sie fühlte sich während der Schwangerschaft gut. Das Risiko einer Infektion oder Fruchtabganges (Fehlgeburt) war ihr damals viel zu hoch gewesen, als dass sie dies zugelassen hätte. Und wenn es eine Behinderung ergeben hätte, hätte die Diagnostik daran auch nichts geändert. Die Abtreibung eines Kindes, nur weil es behindert ist, wäre weder für sie noch für Viktor jemals infrage gekommen.
Das Gefühl hatte die erfahrene Mutter nicht getäuscht. Peter war auf ganz normalem Weg, gesund zur Welt gekommen.
„Was hast du vor“, wollte Eva wissen. „Ich habe ein Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft kennengelernt und werde ihn am Freitag in Berlin treffen. Kommst du mit, wir könnten das Wochenende in Berlin was zusammen machen?“ „Warte mal, ich schau mal eben in meinen Kalender.“ „Brauchst Du nicht, ich streiche die Termine gerne für dich!“ „Bengel, trau dich“, lachte Eva.
Sie kam mit dem Kalender zurück. „Es ist nur eine Besprechung, die ich verschieben kann. Meine Überstunden muss ich ohnehin abbauen und die neue Ausstellung im Deutschen Museum will ich gerne sehen. Ist geritzt.“
*
Dr. Wert bei Prof. Schwanitz
Es war Freitagmorgen. Viktor und Eva Wert waren schon am Abend zuvor nach Berlin gefahren. Viktor stand vor einem Hochhaus und suchte das Namenschild von Prof. Dr. Michael Schwanitz. Kurz später wurde er herzlich begrüßt und in das Büro gebeten. Prof. Schwanitz hatte viele Jahre an einer bekannten Berliner Universität gearbeitet und gelehrt. Da er nach seiner Emeritierung (Entlassung aus einem akademischen Amt aus Altersgründen) das Arbeiten nicht lassen konnte, hatte er sich in Berlin ein kleines Büro eingerichtet, von dem aus er seine wissenschaftliche Arbeit weiter betrieb.
Hierzu gehören regelmäßig Veröffentlichungen in der Fachpresse zu Arzneimitteln, deren Wirkungen und deren unerwünschten Wirkungen (Nebenwirkungen). Mit dem Begriff der Nebenwirkungen steht Prof. Schwanitz auf Kriegsfuß. Immer wieder betont er: „Wenn eine Wirkung eines Arzneimittels für die Therapie nicht hilfreich ist, dann ist das keine Nebensache, es schadet möglicherweise dem Patienten. Also ist es keine Nebenwirkung, sondern eine unerwünschte Wirkung!“
Ansonsten war Viktor von der Bescheidenheit dieses Mannes beeindruckt. „Was führt sie zu mir Herr Wert?“ „Ich habe immer mehr mit den Auswirkungen von sogenannten Anwendungsbeobachtungen zu kämpfen. Ich gehe davon aus, dass sie derartige Vorgänge kennen.“ „Aus leidvoller Erfahrung“, erwiderte Prof. Schwanitz. „Einerseits sehe ich dies in meinem klinischen Alltag immer mehr, andererseits berichten mir Kollegen, die der Pharmaindustrie kritisch gegenüberstehen, zunehmend, dass dies für sie zum Problem wird“, berichtete Dr. Wert.
„Überwiegend kommt diese Kritik von fachärztlichen Kollegen. Sie berichten immer wieder, dass diese Anwendungsbeobachtungen dazu missbraucht werden, um ungeeignete Präparate in die Verordnung zu pressen. Ich will hier gar nicht von den dadurch steigenden Kosten in der Arzneimittelversorgung sprechen. Ich bin viel mehr besorgt, dass sich die Gründe für den Einsatz von Präparaten verschieben. Der finanzielle Anreiz wird für die Ärzte zunehmend zum Verordnungskriterium. Das Wohl der Patienten tritt immer mehr in den Hintergrund. Die Präparate werden nicht mehr geprüft. Das ist vor allem bei der Behandlung von Patienten problematisch, die mit steigendem Alter an mehreren Erkrankungen gleichzeitig leiden.“
„Ihre Einwendungen verstehe ich gut“, sagte Prof. Schwanitz. „In der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft sehen wir das genau so kritisch. Natürlich, wenn Anwendungsbeobachtungen klar definierte Ziele verfolgen würden, also z. B. die Auswirkungen eines neuen Arzneimittels auf bestimmte Organe und Organsysteme untersucht werden würden. Wenn die Prüfungen wissenschaftlich begleitet und die Ergebnisse dokumentiert und veröffentlicht würden, dann wäre da ein Nutzen zu sehen. Die Arzneimittelhersteller wollen das aber nicht. Sie wissen, dass alle unerwünschten Wirkungen sofort bekannt werden würden. Dies würde sie in der Vermarktung stören. Im Klartext, wenn es solche Auflagen geben würde, dann gäbe es keine Anwendungsbeobachtungen mehr.“
„Ja, ja die Vermarktung“, wandte Dr. Wert ein, „ist es nicht eigenartig, dass die Therapie von Bedürftigen, begrifflich zur vermarktbaren Masse mutiert? Ich habe Medizin anders gelernt und verstehe sie auch anders“, sagte Dr. Wert. „Völlig meine Überzeugung Herr Kollege. Wir sprechen aber ein Problem an, dass sich in den letzten beiden Dekaden entwickelt hat und ein gesellschaftliches Problem ist. Mit der zunehmenden Deregulierung und dem Glauben, die Wirtschaft regele schon alles alleine, hat sich die Überzeugung ausgebreitet, dass was nicht vermarktbar ist, auch nichts wert ist.
Das trifft auch auf das Gesundheitswesen zu. Ich habe in den letzten Wochen Kontakt zu einem ehemaligen Manager aus der Pharmaindustrie bekommen. Dieser hat sich aus ethischen Gründen von der Industrie abgewandt und kennt die Vermarktungsstrategien aus eigener Erfahrung genau. Er sagte mir im persönlichen Gespräch, dass man nie nur einen einzelnen Vorgang bewerten darf, sondern diesen im Zusammenhang mit anderen Vermarktungsstrategien sehen muss. Er nannte das zutreffend das „System Pharma“. Aber kommen wir doch zu ihrem eigentlichen Anliegen zurück. Welche Beobachtungen haben sie gemacht“, wollte Prof. Schwanitz wissen.
„Ich möchte das an einem Beispiel erläutern. In den letzten Wochen kam eine Patientin zu mir, die ich schon einmal behandelt hatte. Im Laufe ihrer Schwangerschaft entwickelte sie Nieren und Blutdruckprobleme, die über die Schwangerschaft hinaus blieben.“ Dr. Wert schilderte den Vorgang von Claudia in allen Einzelheiten.
„Schauen wir uns doch einfach die möglichen Konsequenzen für die Patientin und ihre Familie an:“
1 Die Patientin litt unter den Nebenwirkungen: schlechter Schlaf, Herzrasen, Rückenschmerzen und vor allem unter der Nieren schädigenden Wirkung von Noxtox.
2 Sie musste völlig unnötigerweise eine Reihe von Untersuchungen über sich ergehen lassen. Bei der Szintigrafie wurden ihr radioaktive Substanzen injiziert, um die Funktion der Nieren zu prüfen.
3 Sie musste ihre Arbeit unterbrechen. Claudias Eltern mussten sich um die Kinder kümmern.
4 Der Mann der Patientin hat eine Woche noch nicht normal arbeiten können. Von den Sorgen, die sich alle Beteiligten nach der Vorgeschichte der Patientin gemacht haben, wollen wir erst gar nicht reden.
Was wäre eingetreten, wenn die bekannten Nebenwirkungen eingetreten wären?
1 Die Patientin hätte ihre Nierenfunktion dauerhaft eingebüßt.
2 Die Nieren hätten möglicherweise operativ entfernt werden müssen.
3 Sie wäre dauerhaft dialysepflichtig geworden. Das heißt:Zunächst Peritonealdialyse (Bauchfelldialyse, über einen, in die Bauchdecke implantierten, Katheter). Da dies oft nur über einen bestimmten Zeitraum möglich ist, folgt dann die Standarddialyse.Operatives Anlegen eines Shunts (siehe Glossar) mit all den bekannten Komplikationen, an einem Arm für die Durchführung der Standarddialyse.3-mal pro Woche mindestens 5 Stunden lang Blutwäsche, die auch nicht ohne Folgen für den jungen Körper der Patientin geblieben wären.Dialysepatienten erreichen in der Regel nicht das Alter eines normal gesunden Menschen.Die Patientin wäre vielleicht nach vielen Jahren der Wartezeit eine Spenderniere transplantiert worden, was ein weiterer schwerwiegender Eingriff ist.Damit diese Spenderniere nicht abgestoßen wird, müsste sie lebenslang sehr teure Medikamente einnehmen, die sehr heftige Nebenwirkungen haben, und, und, und
Der Mann hätte den Körper seiner Frau danach wohl kaum wieder erkannt.
Das Leben dieser jungen Familie würde sich, bei einem derart dramatischen Verlauf, für immer ändern. Von den Kosten, die die Dialyse und Operationen verursachen würden, mal ganz abgesehen, die würden über die Jahre mehrere Millionen kosten!
Meine Befürchtung ist, dass wir aufgrund des massenhaften Einsatzes dieses Noxtox in kurzer Zeit sehr viele ähnliche Nebenwirkungsfälle sehen werden. Die Mediziner, die es heute einsetzen, kennen das alte Präparat Sarcospouse nicht. Sie glauben den geschönten Darstellungen des Herstellers und wissen nicht, was sie anrichten.“
Beide Mediziner schwiegen eine ganze Weile.
„Wissen sie Herr Schwanitz, was mich so sehr verärgert“, fragte Dr. Wert. „Die bereits weltweit veröffentlichten Meldungen über die unerwünschten Wirkungen von Noxtox“, fragte Prof. Schwanitz. „Genau das ist es. Man braucht nur regelmäßig in der Internetseite der FDA nachzuschauen und hat schnell einen Überblick über gemeldete Gefahren. Auch wenn man sich den Youtube-Kanal der FDA anschaut, geht das sehr schnell. Für Noxtox gibt es einen ausführlichen Bericht der US Amerikanischen Zulassungsbehörde, der mir vorliegt. Da dem so ist, wie kann es der Fa. Toxthera überhaupt gestattet werden, den Kollegen in Deutschland zu sagen, dass das Präparat den Blutdruck effektiv senkt und die Nieren schützt?“ Dr. Wert schaute Prof. Schwanitz besorgt an.
„Nach Recht und Gesetz ist das nicht zulässig. Diese Bedenken müssen von dem Unternehmen auch in Deutschland gemeldet werden“, antwortet Prof. Schwanitz. „Tatsache ist aber auch, dass es unverhältnismäßig lange dauert, bis die Europäische Arzneimittelbehörde www.ema.eu und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte www.bfarm.de eingreifen und ein solches Vorgehen verbieten. Hinzu kommt, dass die Arzneimittelhersteller in Europa nicht verpflichtet sind, alle ihnen vorliegenden Studien im Zulassungsverfahren vorzulegen. Auch später, wenn das Arzneimittel vermarktet wird, geschieht das nicht. Es gibt Vorwürfe von Kollegen, die nachgewiesen haben, dass insbesondere in der europäischen Arzneimittelbehörde zu viele Vertreter der Pharmaindustrie an den Entscheidungen über die Zulassung von Arzneimitteln beteiligt sind. Das heißt, dass diese Mitarbeiter der Industrie oder von ihr beauftragte Gutachter in der Zulassungsbehörde arbeiten. Einer meiner Kollegen berichtete darüber im Fernsehen. Darüber gibt es auch schriftliche Berichte in den Medien.
Das führt zu einer Situation, die die objektive Bewertung der Arzneimittel sehr schwierig macht. Es ist, als ob ein Fahrzeughersteller ein neues Fahrzeug ohne vollständige Dokumentation zulassen will und dann auch noch die eigenen Prüfer zum TÜV schickt. Das ist bei Fahrzeugen nicht möglich, im Arzneimittelrecht aber eben doch, sehr zu unserem Bedauern. Wir klagen bei den zuständigen Politikern ständig über diese Zustände, aber es ist, als ob sie gegen Windmühlen anlaufen.
Kommen wir aber zu ihrem Fall zurück. Sie haben gerade die Folgen für die Patientin, ihre Familie und die Versichertengemeinschaft aufgezählt. Das ist sehr wichtig. Können sie dies bitte schriftlich zusammenfassen und mit den ihnen vorliegenden Unterlagen an mich schicken? Ich werde das dann in unserem Team besprechen.
Ich arbeite mit einer der großen Krankenversicherungen zusammen. Dort gibt es auch ein Arzneimittelinstitut. Wenn ihre Patientin zustimmt, würde ich die Unterlagen dort einmal vorlegen und darum bitten, ob die Rechtsabteilung dieser Versicherung dazu eine Stellungnahme erarbeiten kann. Bitte fragen sie ihre Patientin, ob sie dem zustimmt. Mit dieser Bewertung könnte ich dann an den GKV-Spitzenverband (Dachverband aller gesetzlichen Krankenkassen) herantreten, die in direktem Kontakt mit dem Bundesgesundheitsministerium stehen. Ziel wäre es, den Verband zu veranlassen, die Unterlagen im Gesundheitsministerium oder im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages vorzustellen.“
„Was halten Sie vom Patientenbeauftragten des Deutschen Bundestages?“, wollte Dr. Wert wissen. „Da bin ich eher zurückhaltend“, antwortete Prof. Schwanitz. „Der jetzige Beauftragte steht der Bundesregierung zu nahe, als das von dieser Seite wirklich etwas erwartet werden kann. Auch ist er kein Arzt, sondern Jurist. Es ist wesentlich, in einer solchen Situation auch die Oppositionsparteien mit einzubinden. Deswegen halte ich den Weg über den Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages für den Besten. Da sitzen wenigstens einige Mediziner. Die können, wenn ihnen die Unterlagen vorliegen, eine Anfrage an das Bundesgesundheitsministerium stellen. In der Regel muss diese direkt vom Minister beantwortet werden.
Wenn wir diesen Weg gehen, dann müssen sich alle im Klaren sein, dass jeder Schritt abgestimmt wird. Wir dürfen keine Fehler machen. Die Bedingung ist, dass der Vorgang zentral über mein Büro läuft. Sind sie damit einverstanden“, fragte Prof. Schwanitz. „Selbstverständlich Herr Kollege“, antwortete Dr. Wert.
„Abschließend möchte ich ihnen ein Gespräch mit Herrn Wichert nahelegen. Es ist der besagte Pharmamanager, der sich aus ethischen Gründen aus der Industrie zurückgezogen hat. Ich kenne ihn aus einer Reihe von persönlichen Gesprächen. Er ist vertrauenswürdig und kann uns sicher noch den einen oder anderen Hinweis geben, der nützlich ist. Herr Wichert ist auch auf der politischen Seite aktiv. Wir haben in 4 Wochen eine Sitzung der niedersächsischen Gruppe von Mezis. Er wird dort sein. Das Treffen wird in Hannover stattfinden. Darf ich ihnen eine Einladung zukommen lassen?“ „Gerne, ich denke, das kann ich einrichten.“ Das Gespräch war beendet, beide Ärzte verabschiedeten sich.
Dr. Wert rief seine Frau an. „Bist du noch im Museum?“ „Ja, es ist schön hier, kommst du auch?“, fragte sie. „Ja ich lass das Auto hier stehen und komme mit dem Taxi. Eva Wert wartete am Eingang, als ihr Mann eintraf. Beide machten gemeinsam noch einen Rundgang und verbrachten ein schönes gemeinsames Wochenende in Berlin.
*
Claus und Claudia mit ihren Eltern
Im Heim von Claudia und Claus. Beide hatten ihre Eltern zum Wochenende eingeladen, um sich Zeit zu nehmen, das, was in den letzten Wochen geschehen ist, zu besprechen. Hans und Hildegard Schäfer, die Eltern von Claus kamen aus Hamburg. Sie hatten sich um Claudia Sorgen gemacht und waren froh, sie wieder zu sehen, es ging ihr augenscheinlich besser. Dr. Hans Schäfer war sehr erfolgreich als Rechtsanwalt tätig. In den letzten Jahren hatte er seine Kanzlei deutlich erweitert und 4 weitere Rechtsanwälte aufgenommen. Es war sein Wunsch, sich nach und nach zurückzuziehen und die Kanzlei an einen seiner Partner zu übergeben.
Er war auf Unternehmensrecht spezialisiert und hat sich in den letzten Jahren vor allem mit den besonders schwerwiegenden Fällen befasst. Seine Frau Hildegard war nach der Geburt der Kinder im Haus geblieben. Da die Einkünfte ihres Mannes auskömmlich waren, hat sie sich lieber im Sozialbereich ehrenamtlich betätigt.
Andreas und Carmen Warberg, die Eltern von Claudia, kamen aus Salzgitter. Andreas Warberg war Kfz- Meister und im Ruhestand. Seinen Schwiegersohn mochte er besonders gerne, warum? Nun die Frage beantwortet sich wahrscheinlich von selbst. In seinen jungen Jahren war er Rallyes gefahren, einer der Gründe, warum er Kfz- Meister wurde. Das Fachsimpeln mit Claus war fester Bestandteil der regelmäßigen Treffen. Claus hatte von dem umfangreichen praktischen Wissen seines Schwiegervaters nicht selten profitiert.
Seine Frau Carmen hatte Andreas in Spanien kennengelernt und gleich nach Deutschland mitgenommen. Die gebürtige Madrilenin hatte ihr eigenes Verständnis von Familie nach Deutschland exportiert. Wenn jemand wissen wollte, wer Herrin im Hause Warberg war, brauchte er auf die Antwort nicht lange zu warten. Wie vielen Spaniern ging ihr die Familie über alles. Carmen war wegen ihrer herzlichen Art bei Jan und Mirke besonders beliebt.
Es war Samstagabend, die Kinder wollten nicht ins Bett. Nach der 3. Geschichte ließen sie sich dann doch überzeugen. Die Erwachsenen saßen im Wohnzimmer.
Hans Schäfer stellte die Frage, die irgendwann kommen musste. „Nun erzähl mal Claudia. Was war da eigentlich los? Dein Arzt hat dich auf ein neues Medikament umgestellt. Das ist doch eigentlich nichts wirklich Ungewöhnliches, warum hat das bei dir derartige Komplikationen hervorgerufen?“ Carmen nickte und schaute Claudia gespannt an.
„Die Wahl des Medikamentes war grundsätzlich falsch“, erklärte Claudia. Sie schilderte den Eltern, was in den vergangenen Wochen geschehen war.
„Heißt das, dass deine Nierenwerte jetzt noch schlechter sind, als in der Zeit, in der du mit Mirke im Krankenhaus gelegen hast“, wollte Hildegard wissen. „Nein, die Werte waren aber so schlecht, wie in der Zeit, nachdem ich mit Mirke aus dem Krankenhaus entlassen wurde.“ „Ist es sicher, dass das so bleibt? Könnte es sein, dass sich die Werte wieder verschlechtern“, hakte Hildegard nach. „Das kann derzeit niemand sagen, auch der Nephrologe nicht. Derzeit werden jede Woche die Nierenwerte neu bestimmt. Wenn sie sich verschlechtern, muss ich wieder ins Krankenhaus. Im Moment bessern sie sich langsam aber stetig wieder.“
„Mit der Umstellung des Blutdruckmittels Geld verdient, wie geht denn so was?“, wollte Claudias Vater wissen. „Das nennt sich Anwendungsbeobachtung“, antwortete Claus. „Und das läuft wie ab?“ Der Vater von Claus war ziemlich erregt.
„Ein Vertreter des Herstellers geht zu dem Arzt und fragt ihn, ob er ein neues Arzneimittel bei seinen Patienten ausprobieren möchte. Der Arzt, der dem zustimmt, verordnet das Präparat ganz normal per Rezept und füllt für den Arzneimittelhersteller einen Fragebogen aus. Dafür bekommt er Geld.“
„Wird denn der Patient deswegen befragt?“, wollte der Vater von Claus wissen. „Nein Vater, das ist ja das Problem.“ „Das ist kein Problem Claus, das ist eindeutiger Rechtsbruch!“, erwiderte Hans Schäfer.
„Warum“, wollte Carmen wissen. „Das mag vielleicht nicht so ausdrücklich in den Gesetzen stehen“, erläuterte Hans Schäfer, „aber es gibt Grundsatzurteile des Bundesgerichtshofs. Die legen fest, dass ein Patient, insbesondere bei dem Einsatz neuer Arzneimittel oder einer neuen Therapie, detailliert über Vor- und Nachteile und über alle Gründe des Einsatzes objektiv und vollständig informiert werden muss. Der Bundesgerichtshof spricht hier vom Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Der Patient soll in der Lage sein, die Vor- und Nachteile der Therapie zu kennen, bevor er seine Einwilligung für die Therapie gibt. Das kennt Ihr doch auch von Operationen.“ „Stimmt, das war bei meiner Operation auch so“, sagte Hildegard. "Der Arzt sprach mit mir alle Vor- und Nachteile der Operation durch und ich musste das unterschreiben. Sonst hätte die Operation nicht stattgefunden.“
„Genauso ist es mit jeder Therapie“, erläuterte der Vater von Claus. „Rechtlich ist eine Therapie ein Eingriff in den Körper und somit eine Körperverletzung. Nur indem der Arzt den Patienten umfassend informiert, befreit er sich von dem Tatbestand der Körperverletzung. Wenn er das nicht tut, macht er sich strafbar wie jeder andere auch.“ „Woher weißt du das so genau?“, wollte Claudia wissen. „Weil ich mir das vor Mutters Operation angesehen habe. Ich wollte sicher sein, dass da alles mit rechten Dingen zugeht.“
„Das ist doch unerhöht“, bei Claudias Mutter trat in der Erregung der spanische Dialekt deutlicher zutage. „Dann musst du zu dem Arzt und ihm die Meinung sagen, immediatamente!“ „Das bringt nichts Mutter“, sagte Claus. „Das endet nur in Streitereien, der Arzt wird nie zugeben, einen Fehler gemacht zu haben.“ „Hört, hört- du hättest doch Rechtsanwalt werden sollen“, Hans schaute seinen Sohn an und kniff ein Auge zu. „Dem widerspreche ich entschieden, setz’ ja dem Jungen keine Flausen in den Kopf“, erregte sich Andreas. Alle lachten.
„Ach ihr beide Sankhähne,“ Carmen schaute beide nacheinander an und wandte sich an Claudia. „Aber das wirst du doch nicht so lassen, oder?“ „Nein Mutter das werden wir nicht tun“, antwortete Claus. „Gehst du imme noch zu der Arzt?“ „Nein Mutter ich gehe jetzt zu einer Internistin, die mir der Nephrologe empfohlen hat.“ „Das ist doch Schindluderei, muy diabólico!“, Carmen war fassungslos.
„Es ist ja noch einmal gut gegangen“, Andreas versuchte Carmen zu beruhigen. „Ella es mi hija, das kann doch nicht sein!“, Carmen traten die Tränen in die Augen. „Ella es nuestra hija, no es así permanecer, mach dir keine Sorgen Carmen, es wird so nicht bleiben.“ Hans, der fließend Spanisch spricht, legte seine Hand auf Carmens Schulter.
„Wenn ihr beide nichts dagegen habt, werde ich mir den Fall ansehen und wir entscheiden gemeinsam, wie wir dagegen vorgehen.“ „Ich wollte dich ohnehin darum bitten, das kann nicht unwidersprochen bleiben“, sagte Claus. „Ich habe eine Vollmacht mitgebracht, ich brauche dann nur die Namen und Adressen aller beteiligten Ärzte.“
*
Claudias Schwiegervater spricht mit Dr. Wert.
Montags morgens in dem Sekretariat von Dr. Wert, das Telefon klingelt, die Sekretärin hebt ab. „Kanzlei Dr. Schäfer und Partner aus Hamburg. Herr Dr. Schäfer möchte Herrn Dr. Wert sprechen.“ „Das ist derzeit leider nicht möglich, Dr. Wert ist in Behandlung“, antwortete die Sekretärin. „Können wir einen Termin vereinbaren?“, antwortete die Sekretärin. „Gerne können Sie mir einen Vorschlag machen?“ „Herr Dr. Wert könnte am späten Nachmittag gegen 17:30.“ „Das passt gut, ich werde den Termin eintragen.“ „Darf ich fragen, in welcher Angelegenheit Dr. Schäfer Herrn Wert sprechen möchte?“ „Es geht um eine Mandantin von Dr. Schäfer, Frau Claudia Schäfer“, war die Antwort. „Frau Claudia Schäfer, unsere Patientin?“ „Ja Herr Dr. Schäfer ist ihr Schwiegervater. Ich werde ihnen die unterschriebene Vollmacht zufaxen.“ „Vielen Dank, ich werde Herrn Wert informieren.“
Nachmittags pünktlich um 17:30 stellte die Sekretärin das Gespräch durch. „Dr. Schäfer ist am Apparat.“ „Danke, …Wert.“ „Schäfer hier, Herr Wert einen schönen guten Tag. Hat sie die Vollmacht und die Entbindung von der Schweigepflicht von Frau und Herrn Schäfer per Fax erreicht?“ „Ja, die ist eingetroffen, ich freue mich über ihren Anruf, was kann ich für sie tun?“
„Meine Schwiegertochter berichtete mir am Wochenende von dem Vorfall mit ihrem Hausarzt. Ich erwäge rechtliche Schritte gegen diesen Arzt. Da ich aus den mir vorliegenden Informationen, insbesondere in Bezug auf die Anwendungsbeobachtung, ein unparteiliches Vorgehen des Arztes im Sinne meiner Schwiegertochter nicht erkennen kann. Hierzu benötige ich weitere Details, bevor ich mich an den Herrn wende. Sind sie in der Lage mir ihre Einschätzung mitzuteilen?“ „Ihre Schwiegertochter hat innerhalb der Schwangerschaft ein akutes Nierenversagen erlitten und es war ein harter Kampf, Mutter und Kind das Leben zu erhalten.“
„Nun Herr Wert, Anwendungsbeobachtungen sind, wenn ich das richtig verstanden habe, nicht per Gesetz untersagt. Ich nehme hier Bezug auf § 67 des Arzneimittelgesetzes.“ „Das stimmt. Wie aber wollen sie in dem Fall vorgehen, Herr Schäfer.“ „Zunächst geht es mir um die Sorgfaltspflicht des Arztes gegenüber meiner Schwiegertochter. Wenn ich nachweisen könnte, dass der Arzt sich nicht vollständig und aus unabhängigen Quellen über das Präparat informiert und mit der Anwendungsbeobachtung eigene wirtschaftliche Ziele verfolgt hat, dann ergibt sich hier ein Ansatz aus bestimmten Grundsatzurteilen des Bundesgerichtshofes.
Ein weiterer Ansatz ist das neue Patientenrechtegesetz. Hier gilt es erst einmal zu beurteilen, ob durch die Handlungen des Arztes eine schwerwiegende Nebenwirkung eingetreten ist oder nicht. Wie ist ihre Einschätzung?“
„Zunächst zu der Objektivität der Information, die dem Handeln des Arztes zugrunde lag. Er hat mir bestätigt, dass er an einer Fortbildung zu diesem Thema teilgenommen hat. Diese Fortbildung wurde aber von dem Hersteller des Präparates Noxtox, das er Ihrer Schwiegertochter verordnet hat, ausgetragen und war somit nicht objektiv.“ „Hätte der Arzt das erkennen können?“ „Aus meiner Sicht ja. Der Hersteller Toxthera war als Sponsor der Fortbildung ausdrücklich benannt. Also mir ist dies sofort aufgefallen. Aus meiner Erfahrung ist es oft so, dass Ärzte für die Durchführung einer Anwendungsbeobachtung gewonnen werden und anschließend zu solchen Quasifortbildungen eingeladen werden. Damit verfolgt man das Ziel, die Ärzte endgültig auf das Präparat einzuschwören.“
„Kennen sie weitere Hinweise, die dem Arzt hätten signalisieren können, dass von dem Arzneimittel für meine Schwiegertochter Gefahren ausgehen?“ „Da gibt es mehrere. Zunächst wurde über die schwerwiegenden Nebenwirkungen von Noxtox in den USA berichtet. Das hat in den USA und Deutschland für sehr viel Aufsehen gesorgt. In der Ärztezeitung wurde darüber geschrieben, dass Noxtox in den USA nicht zu gelassen wurde, aber in Europa. Das wurde in vielen Fachzeitschriften intensiv diskutiert.
In einem anderen Zusammenhang ist die Fa. Toxthera zu Strafzahlungen von 1.8 Mrd. $ verurteilt worden.“ „Wurde die Strafe von dem Unternehmen akzeptiert und gezahlt?“ „Eindeutig ja.“ „Das ist sehr wichtig“, sagte Claudias Schwiegervater. „Haben Sie darüber Unterlagen oder ist das dokumentiert?“ „Ich kann Ihnen Links zum US amerikanischen Justizministerium schicken, in denen Sie das finden.“
„Erstaunlich. Nun gehe ich einmal davon aus, dass nicht jeder Arzt wie sie über Arzneimittel in anderen Ländern recherchiert. Wie könnte sich ein Arzt in Deutschland über derartige Vorgänge informieren?“ „Dieser Vorgang ist nur wenige Wochen später in Deutschland in der einschlägigen Fachpresse berichtet und diskutiert worden.“ „Dieser Hausarzt hätte also jederzeit diese Informationen in der deutschen Fachpresse nachlesen können?“ „Unbedingt, das wurde über 8 - 14 Tage intensiv berichtet.“ „Was könnte ihren Kollegen trotz dieser Situation bewogen haben…?“ „Darüber könnte ich nur Mutmaßungen anstellen. Das will ich nicht, Herr Schäfer!“
„Das verstehe ich Herr Wert. Abschließende Frage: Wie beurteilen Sie die Nebenwirkungen, die meine Schwiegertochter erlitten hat?“ „Eindeutig als schwerwiegend, was ja auch dadurch dokumentiert ist, dass ich Frau Schäfer sofort hier im Krankenhaus aufgenommen und behandelt habe. Es ist insbesondere die Vorgeschichte von Frau Schäfer, die bei mir allergrößte Bedenken ausgelöst hat. Ein Patient, der bereits ein akutes Nierenversagen erlitten hat und genau darum handelte es sich bei ihrer Schwiegertochter, hat immer ein deutlich höheres Risiko, ein chronisches Nierenversagen zu erleiden. Chronisches Nierenversagen heißt nun einmal in letzter Konsequenz, der vollständige Verlust der Nierenfunktion und Dialysepflicht.
Es ist vor allem die Vorschädigung der Nieren ihrer Schwiegertochter, die aus meiner Sicht eine Kontraindikation für den Einsatz von Noxtox dargestellt haben.“ „Würden sie das auch vor Gericht bezeugen?“ „Ja das werde ich“, sagte Dr. Wert und weiter,
„Gestatten sie mir bitte eine Frage an sie, Herr Schäfer. Sie werden den Fall für Ihre Schwiegertochter anwaltlich aufgreifen. Wir als Ärzte haben einen Kodex, dass wir Fälle innerhalb der eigenen Familie nicht behandeln. Ist das bei Anwälten nicht auch so?“ „Sicherlich nicht so streng wie in der Medizin, aber es gibt auch bei uns derartige Empfehlungen.“ „Sie tun dies trotzdem, warum?“
„Nun, derartige Fälle durch mehrere Instanzen zu verfolgen ist sehr zeitaufwendig und teuer. In der Regel können sich das normal verdienende Menschen gar nicht leisten. Die Gerichtsverfahren dauern bis zu zehn Jahre und oft genug versterben die Betroffenen, bevor rechtsverbindliche Urteile gesprochen werden. Ich denke, dass ein solcher Vorgang ein rechtliches Nachspiel haben muss! Immerhin war das Leben meiner Schwiegertochter eindeutig gefährdet. Ich möchte aber nicht, dass diese junge Familie mit derartigen Kosten belastet wird. Ich habe alle Zulassungen bis hin zum Bundesgerichtshof, wo ich einige Fälle erfolgreich vorgetragen habe und kann das normal in der Praxis laufen lassen.
Gehe ich recht in der Annahme, dass sie die Sache ebenfalls nicht auf sich beruhen lassen wollen?“ „In der Tat. Ich war am Wochenende in Berlin und habe mit Prof. Schwanitz, einem Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, deswegen gesprochen. Er wird den Fall aufgreifen.“ „Könnte Herr Schwanitz möglicherweise als Gutachter in der Sache tätig werden?“ „Ich denke schon. Ich schicke ihnen seine Kontaktdaten. Sind sie Anwalt für Medizinrecht?“ „Nein Herr Schäfer, ich habe mich auf Unternehmensrecht spezialisiert. Es ist für mich aber nicht schwer, diesen Rechtsbereich zu erarbeiten, außerdem kenne ich einige Kollegen, die in diesem Umfeld arbeiten, das ist kein Problem.“
„Bitte informieren Sie mich über den Fortgang.“ „Sehr gerne Herr Wert. Ich bedanke mich für das Gespräch.“ „Gerne rufen Sie an, wenn Sie noch weitere Fragen haben.“ „Vielen Dank, das gleich gilt für sie, ich werde meiner Sekretärin Bescheid sagen, dass sie sie gleich durchstellt. Danke für das was sie für Claudia getan haben.“ „Das ist meine Pflicht, Herr Schäfer, auf Wiederhören.“ Dr. Wert legte den Hörer auf. Das ist ein tolles Angebot, dachte Dr. Wert, der sich ohnehin schon Gedanken über einen passenden Anwalt gemacht hatte. Meine Güte, da braut sich über dem Kopf des erlauchten Kollegen einiges zusammen. Was soll’s. Er hat es verdient.