Читать книгу Harzhunde - Roland Lange - Страница 10
Оглавление5. Kapitel
Daniel Kranz hatte für den Weg zurück in sein Büro die Landstraße in Richtung Nordhausen genommen, war nicht auf die A38 aufgefahren. Er kam von einer Baustelle in Kelbra am Kyffhäuser. Dort hatte er den Rohbau eines von ihm entworfenen Wohnhauses begutachtet. Er fuhr langsam und achtete darauf, sein verwundetes Bein nicht zu belasten. Es tat so verdammt weh. Kein Wunder! Das Herumlaufen auf der Baustelle, später das lange Stehen, über den Bauplan gebeugt, die endlose Diskussion mit dem Polier, der die Pläne an verschiedenen Stellen falsch umgesetzt hatte. Das war zu viel gewesen. Jetzt bekam er die Quittung dafür, dass er sich nicht geschont hatte.
Die Bisswunde verheilte weniger schnell als von ihm erwartet. Hätte er nur ein paar Tage kürzergetreten, anstatt wie jeden Tag weiterzuarbeiten. Einige Außentermine verschieben, mehr hätte es nicht sein müssen. Aber damit wäre er bei seinem Schwiegervater nur noch tiefer in Ungnade gefallen. Er hatte es nicht fertiggebracht, ihm in jener grauenvollen Nacht das Märchen von der gebrochenen Leitersprosse aufzutischen. Wenn er log, sah man ihm das sofort an, dessen war er sich bewusst. Man hörte es sogar, weil er sich bei solchen Lügereien hoffnungslos verhaspelte. Also war er bei dem geblieben, was er für die Wahrheit hielt. Aber auch die Geschichte von dem blutrünstigen Hund oder Wolf hatte ihm der Alte nicht abgenommen.
„Ich schätze, du bist in der Dunkelheit über deine eigenen Beine gestolpert. Ein Wunder, dass du das überlebt hast.“ Nicht ein Wort des Mitgefühls, nur abschätzige Blicke für seinen Schwiegersohn, der völlig blutverschmiert, mit zerrissenem Hosenbein und provisorischem Verband vor ihm gestanden hatte. „Herrgott noch mal, du bist so ein ...“ Er hatte den Satz unvollendet gelassen, abgewunken und den Hausarzt der Familie, Dr. Hubert Kowalski, aus dem Bett geklingelt. Den Einwand seiner besorgten Tochter, sie werde mit Daniel besser in die Notaufnahme des Krankenhauses fahren, hatte er unwirsch zurückgewiesen. „Damit morgen alle Welt weiß, was für ein Jammerlappen dein Mann ist? Der nachts orientierungslos durch den Wald trampelt, sich dabei fast selbst umbringt und dann von irgendwelchen Untieren faselt? Nix da! Die Blamage möchte ich uns allen ersparen. Diesen kleinen Riss kriegt der alte Quacksalber genauso gut zusammengeflickt. Und der hält wenigstens die Klappe.“
Dabei war es geblieben. Der Arzt hatte die klaffende Wunde genäht, Daniel eine Tetanusspritze verpasst und ihn und Julia mit einem Paket Antibiotika und Schmerzmitteln wieder nach Hause geschickt. Auf Julias Frage, ob Dr. Kowalski ihren Mann nicht gleich gegen eine mögliche Tollwutinfektion impfen wolle, hatte der Arzt mit einem unwirschen Grunzen abgewunken. Unwahrscheinlich, dass im Wald ein Tier mit Tollwut herumlaufe, hatte er gähnend gebrummt. Das Virus sei in diesem Land ausgerottet, soweit er wisse. Daniel solle das Bein in den nächsten Tagen nicht belasten und ab und zu den Verband wechseln. Dann wäre die Sache in ein oder zwei Wochen ausgestanden. Mit dem Ratschlag hatte der Arzt sie entlassen. Ihm war deutlich anzusehen gewesen, dass er so schnell wie möglich wieder ins Bett kommen wollte.
Am Ende hätte Daniel die Geschichte vermutlich auf sich beruhen lassen und eines Tages vergessen. Aber die Demütigung seines Schwiegervaters, dessen spöttische Bemerkungen und die ständigen Gängelungen hatten seinen Widerstand wachgerufen. So durfte es nicht weitergehen. Es wurde allmählich Zeit, dass er dem Alten die Stirn bot. Er musste herausfinden, was auf dem Weg vom Hochsitz zum Auto passiert war, was ihm dort aufgelauert hatte. Es war real gewesen, es war ein Tier gewesen – ein riesiges Raubtier –, und es hatte ihn angegriffen! Er war kein Muttersöhnchen, kein Feigling, der sich nachts im Wald die Hosen vollschiss und in Panik durchs Unterholz irrte. Dieses Vieh war ihm auf den Fersen gewesen! Das würde er beweisen! Seinem Schwiegervater, seiner Frau – vor allem aber sich selbst. Den Gedanken, heimlich einen anderen Arzt aufzusuchen, der ihm ein unabhängiges Urteil über die Wunde gab, hatte er verworfen. Er würde im besten Fall bestätigt bekommen, dass es sich um eine Bisswunde handelte. Aber um dem Alten das Maul zu stopfen, bedurfte es etwas mehr.
Vor ihm, keine hundert Meter voraus, zweigte eine Straße rechts ab, nach Urbach und dann weiter in Richtung Buchholz und Hermannsacker. Maria!, schoss es ihm durch den Kopf. Warum war er nicht längst darauf gekommen? Maria Hübner war Biologin und ausgewiesene Wolfsexpertin. Mit ihr konnte er reden. Ihr konnte er von dem Angriff erzählen und sie fragen, was sie davon hielt. Ob es sich um einen Wolf gehandelt hatte. Maria würde ihn nicht auslachen und für einen Spinner halten, der Gespenster gesehen hatte und vor Schiss davongelaufen war. Sie kannten sich seit ihrer Studienzeit in Hamburg. Im Zwick auf St. Pauli hatten sie sich an einem Wochenende bei Musik und Spareribs kennen und schätzen gelernt. Zu einer Beziehung hatte es nie gereicht. Er hätte damals schon gewollt, Maria nicht. Nur Probleme, hatte sie gemeint. Freundschaft sei besser. Vor einer kleinen Ewigkeit waren sie sich das letzte Mal über den Weg gelaufen. Zufällig. In Nordhausen. Und das, obwohl sie gar nicht so weit voneinander entfernt lebten. Schon merkwürdig, dass er sich nie zu einem Besuch bei Maria hatte aufraffen können. Diese lang anhaltende Funkstille hatte hoffentlich nichts an ihrer gegenseitigen freundschaftlichen Zuneigung geändert. Bald würde er es wissen.
Kurz entschlossen bog er in die abgehende Straße ein. Soweit er sich erinnerte, lebte Maria Hübner allein auf einem kleinen Restbauernhof, den sie als Selbstversorgerin bewirtschaftete. Sie war geschieden und hatte eine zehnjährige Tochter, die bei ihrem Vater lebte. Das Verhältnis zu dem Mädchen war angespannt, sie trafen sich sehr selten. Es war eingetroffen, was sie damals in Hamburg bereits geahnt zu haben schien. Beziehungen brachten Probleme. Trotzdem war sie eine Ehe eingegangen.
Ihren Lebensunterhalt bestritt Maria, abgesehen von dem, was der Hof abwarf, mit dem Geld aus Vorträgen und Seminaren, zu denen sie immer wieder eingeladen wurde. Die beiden Bücher, die sie geschrieben hatte, waren auf diversen Sachbuch-Bestsellerlisten zu finden. Sie brachten ihr vermutlich ein halbwegs vernünftiges Honorar ein. Maria war als Biologin und Wolfsexpertin anerkannt, wenn auch nicht bei jedermann beliebt.
Von ihren Familienverhältnissen und der bevorstehenden Scheidung hatte sie ihm selbst erzählt. Seinerzeit in Nordhausen. Alle weiteren Informationen über die ehemalige Studienfreundin hatte Daniel andernorts aufgeschnappt. Meist von seinen Kunden oder Menschen, mit denen er ins Gespräch gekommen war und die vorgaben, Maria zu kennen. Seltener waren es Presseberichte gewesen, Interviews, Artikel über ihre Arbeit. Jetzt war er gespannt, wie viel von alledem tatsächlich zutraf.
Fünfzehn Minuten später rollte er langsam durch das Tor in der Bruchsteinmauer, die sich um den kleinen Bauernhof zog. Einmal hatte er im Ort nach dem Weg fragen müssen, dann war es ein Leichtes gewesen, hier herauszufinden. Der mit Kopfsteinpflaster befestigte Hofplatz war eingerahmt von einem zweigeschossigen Wohnhaus auf der linken Seite und einer Scheune zur Rechten. Ein kleines Backsteingebäude begrenzte den Platz hinten an der Stirnseite. Eine Werkstatt, wie es schien. Knorrige, alte Laubbäume zwischen den Gebäuden warfen lange Schatten auf den Hof. Das gesamte Anwesen machte einen heruntergekommenen Eindruck. Das zeigte sich deutlich am Wohnhaus, dessen verwittertes Mauerwerk im Erdgeschoss noch übertroffen wurde von dem teilweise abgefallenen Plattenbehang im Stockwerk darüber. An verschiedenen Stellen trat das ursprüngliche Fachwerkgebälk mit den roten Ziegelsteinausfachungen zutage und ließ die besseren Zeiten erahnen, die der Hof einmal gesehen hatte. Die sichtbar gescheiterten Renovierungsversuche, die die Gebäude seitdem über sich hatten ergehen lassen müssen, lieferten ein ebenso beredtes Zeugnis vom allmählichen Niedergang.
Als Daniel die Wagentür öffnete, vernahm er hämmernde Geräusche, die aus der Werkstatt drangen. Dem hellen Klang nach zu urteilen, bearbeitete jemand Metall. Noch bevor er einen Fuß aus dem Auto gesetzt hatte, schoss ihm aus der offenen Werkstatttür ein Hund entgegen. Wütend kläffend blieb das Tier, ein Border Collie, etwa zwei Meter von seinem Mercedes entfernt stehen, jederzeit bereit, ihn zu attackieren, sollte er es wagen, einen Schritt näherzukommen.
„Chucky, aus!“
Die laute, befehlende Stimme gehörte zu einer Frau, die jetzt ebenfalls aus der Werkstatt trat. Ihre Hände an einem verdreckten Blaumann abwischend, kam sie auf Daniel zu. Der Border Collie namens Chucky lief schwanzwedelnd zu seinem Frauchen. Auf halbem Weg blieb die Frau, eindeutig Maria Hübner, stehen und stutzte.
„Daniel? Daniel Kranz?“, rief sie erstaunt aus. „Das glaube ich jetzt nicht!“
„Hallo Maria!“, entgegnete er gequält lächelnd. Vorsichtig, sein Gewicht auf das unverletzte Bein verlagernd, bewegte er sich auf die Frau im Blaumann zu. „Hierher hat es dich also verschlagen.“
„Sieht so aus.“ Maria Hübner schlang die Arme um Daniels Hals, drückte ihn kurz an sich und ließ wieder von ihm ab. Ihre Begrüßung brachte ihn etwas aus der Balance, was ihm einen stechenden Schmerz bescherte. Sie trat zwei Schritte zurück und musterte ihn von oben bis unten. „Menschenskinder, wie lange ist das her, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind?“
„Über drei Jahre, glaube ich. Das war in Nordhausen. Du ...“
„Richtig, ich erinnere mich“, fiel sie ihm ins Wort. „Ich hatte es ein bisschen eilig damals. Anwaltstermin wegen meiner Scheidung. Und du? Was treibt dich hier raus zu mir?“
„Spontane Idee“, antwortete Daniel, „ich war auf dem Rückweg von einer Baustelle. Hab mir gedacht, ich schaue mal vorbei. War ja kein großer Umweg.“
„Du machst ein ziemlich gequältes Gesicht“, sagte sie. Über ihrer Stirn hatten sich Sorgenfalten gebildet. „Geht’s dir nicht gut?“
„Ach, geht schon“, wehrte er ab. „Liegt vermutlich an der Arbeit. Der Termin vorhin war etwas nervenaufreibend.“
Sie nickte. „Na dann lass uns mal ein wenig Stressabbau betreiben. Komm mit. Wir gehen hinters Haus auf die Terrasse. Da können wir quatschen und was trinken.“
„Und nach der Scheidung hast du dich hier verkrochen?“, fragte Daniel. Sie saßen bei einem Bier auf der überdachten Holzterrasse, die von dichtem Weinlaub zugewuchert war. Ein romantisches, schattiges Plätzchen, an dem es sich aushalten ließ.
„Wir haben unser Haus verkauft. Michael hatte was in Aussicht, in Frankfurt. Beruflicher Aufstieg. Leitender Posten in seinem Chemiekonzern, dazu eine neue Freundin, mit der er zusammenziehen wollte. Unsere Tochter lebt bei ihm. In geordneten familiären Verhältnissen.“ Sie gab dem Satz eine ironische Betonung und setzte ihn mit den Fingern in Häkchen. „So muss das sein. Na ja. Wenn es ihr gefällt. Mich will sie ja am besten gar nicht sehen. Ach, was jammere ich denn? Mir ist zum Glück genug Geld geblieben. Ich habe mir auch was Neues gesucht. Das hier. Bin zufällig darauf gestoßen.“ Sie ließ ihren Arm über die Gemüsebeete und kleinen Ackerstücke schweifen, die sich an die Terrasse und das Wohnhaus anschlossen. „Sah schlimm aus, das alles, aber ich hab’s für ’nen Spottpreis gekauft. Ist immer noch besser als zur Miete wohnen. Und jetzt bastele ich hier rum und versuche, die Buden auf Vordermann zu bringen. So, wie ich Zeit und Geld habe. Manchmal hilft mir jemand von den Freunden, die mir geblieben sind. Dazu ein bisschen Ackerbau, wie du sehen kannst. Nebenbei schmiede ich ein paar nette Skulpturen aus Eisenschrott, den ich einsammele. Meine künstlerische Ader ausleben.“ Sie grinste ihn an. „Und du? Immer noch in diesem Architekturbüro angestellt?“
Daniel schüttelte den Kopf. „Nicht mehr. Hab mich selbstständig gemacht. Kleines Ein-Mann-Büro nur, aber einträglich. Und die Hauptsache, ich bin unabhängig.“
„Verheiratet?“
„Jepp. Seit knapp einem Jahr. Mit Julia. Geborene Wüstefeld.“
„Wüstefeld ... Wüstefeld ...“ Maria zupfte sich am Ohr, überlegte kurz. „Doch nicht etwa ... Baustoffhandel Wüstefeld?“
„Exakt.“ Daniel lachte auf.
„Na, dann hast du ja ausgesorgt, mein Freund.“ Sie setzte die Flasche an den Mund, gönnte sich einen kräftigen Schluck.
Er betrachtete sie, wie sie trank. Immer noch die selbstbewusste kleine Frau, die jede Aufgabe meisterte, mit der sie konfrontiert wurde. Das drückte sie sogar mit ihrer Art, Bier zu trinken, aus.
„Und wie ist er so, dein Schwiegerpapa?“, fragte sie und wischte sich mit dem Ärmel ihres Flanellhemdes über den Mund.
Daniel blickte sie irritiert an, verstand nicht sofort.
„Ich meine, man hört nicht überall das Beste von ihm“, schob sie hinterher. „Soll ein ziemlicher Stinkstiefel sein, der alte Herr.“
„Man muss ihn nur zu nehmen wissen“, entgegnete Daniel leicht pikiert und nicht ganz wahrheitsgemäß.
„Sorry, ich wollte nicht beleidigend sein“, ruderte Maria sofort zurück.
Daniel winkte ab. „Schon gut. Du hast ja recht. Er ist ein knorriger Kerl. Etwas schwierig im Umgang. Aber jetzt mal zu dir: Du beschäftigst dich immer noch mit deinen Wölfen?“
Maria nickte. „Sicher. Das ist mein Job. Mit meinen Vorträgen und Seminaren bin ich überall in Deutschland unterwegs. Ist ja ein heftig diskutiertes Thema, der Wolf. Tierschutz, Jagdrecht. Wo ich hinkomme, verhärtete Fronten. Und ich dazwischen. Die Aufklärerin. Ich bekomme regelmäßig Einladungen. Finanziell ist das für mich eine relativ sichere Bank. Dazu ein paar andere Einnahmequellen. Als Gastdozentin. Und wenn ich mit meinem Gemüse auf dem Wochenmarkt stehe, bringt das ebenfalls Geld in die Kasse. Oder die Skulpturen, die ich drüben in der Werkstatt zusammenschweiße. Davon habe ich auch schon welche unter die Leute gebracht. Du siehst, ich komme klar.“
„Wie ist denn die Lage im Harz?“, fragte Daniel vorsichtig und rutschte angespannt auf seinem Platz herum. „Gibt es hier auch schon Wölfe?“
Maria schüttelte den Kopf. „Davon ist mir bisher nichts bekannt. Es hat Wolfssichtungen gegeben, ja. Hauptsächlich im Ostharz. Zum Teil mit Fotos belegt. Dazu weitere Spuren. Aber Hinweise auf ganze Territorien – Fehlanzeige. Keine Rudel, die sich im Harz angesiedelt haben. Heimisch sind die Wölfe hier noch nicht. Auch wenn das mein spezieller Freund anders sieht.“
„Und wer ist das, dieser spezielle Freund? Klingt eher nach Feind.“
Sie winkte ab. „Ich will es nicht dramatisieren. Er ist ein Schafzüchter, der in den letzten Tagen ein paar gerissene Tiere zu beklagen hatte. Der Mann hat mich schon immer angefeindet. Für den bin ich eine durchgeknallte Öko-Spinnerin, linke Umweltschlampe und noch ein paar andere nette Bezeichnungen, die er für mich hat. Neuerdings meint er, es reicht nicht mehr, mich nur zu beschimpfen. Ich kriege Drohbriefe, habe zerstochene Autoreifen und verwüstete Gemüsebeete. Anscheinend sieht er in mir die Schuldige für den Verlust seiner Schafe. Dummerweise kann ich ihm nichts nachweisen ... noch nicht.“
Daniel war hellhörig geworden. „Was glaubst du? Waren es Wölfe?“
„Er behauptet es“, grummelte Maria. „Ich habe ihm angeboten, mir die gerissenen Tiere anzusehen. Aber das will er nicht. Wenn sich dabei herausstellen würde, dass es wildernde Hunde waren, stünde er mit seinem Hass auf die Wölfe womöglich bald allein da ... Aber zu deiner Frage. Da steckt doch mehr dahinter.“ Sie wandte sich direkt an Daniel, musterte ihn mit skeptischem Blick. „Du interessierst dich nicht nur so für Wölfe, oder?“
Wie einfach man ihn durchschauen konnte! „Na ja, stimmt, es ist kein allgemeines Interesse ...“, druckste er, „ich ... also, ich habe da eine Wunde am Bein“, er deutete auf seine verletzte Wade, „eine Bisswunde, um genau zu sein. Und dazu hätte ich gern mal deine Meinung gehört.“
„Spontaner Besuch, aha.“ Maria grinste. „Hör mal, mein Lieber, ich bin Biologin, keine Ärztin“, sagte sie. „Dass du nicht rund läufst, war ja kaum zu übersehen. Arbeitsstress! Warum hast du nicht gleich gesagt, was los ist?“
„Du hast dich so gefreut, mich wiederzusehen, da wollte ich nicht mit der Tür ins Haus fallen.“
„Ach, so ein Quatsch! Na, was soll’s. Aber wenn du medizinische Hilfe von mir erwartest, muss ich dich enttäuschen.“
„Du sollst mir keinen ärztlichen Rat geben“, stellte Daniel eilig klar. „Ich brauche deine Meinung als Wolfsexpertin.“
„Was hat denn deine Verletzung mit Wölfen zu tun?“, wunderte sie sich und schien gleichzeitig zu begreifen. „Willst du mir etwa sagen, dich hätte ein ... ein Wolf angegriffen?“ Sie schüttelte vehement den Kopf. „Auf gar keinen Fall! So was tun Wölfe nicht! Wenn denen Menschen zu nahe kommen, ziehen sie den Schwanz ein und suchen das Weite.“
„Was ist mit Tollwut?“, fragte Daniel besorgt.
„Tollwut? Ach was!“, widersprach Maria entschieden. „Ausgeschlossen! Im Harz laufen keine tollwütigen Wölfe herum. Davon wüsste ich. Aber jetzt erzähl doch erst mal. Was genau ist dir passiert? Und wo?“
Zehn Minuten später hatte Daniel der alten Freundin sein nächtliches Erlebnis in allen Einzelheiten geschildert. Maria saß in sich gekehrt da, den Kopf auf ihre Hand gestützt, und starrte vor sich hin.
„Du glaubst mir hoffentlich?“, fragte Daniel bange. „Du denkst doch nicht, dass ich unter Wahnvorstellungen leide oder?“
„Äh ... was?“ Maria schreckte aus ihren Gedanken hoch. „Nein, nein. Natürlich glaube ich dir.“
„Und was hältst du von der Sache? Ein Wolf? Wäre das möglich?“
„Hm ...“ Sie hob den Kopf, sah angestrengt hinüber zu den Bäumen hinter der Bruchsteinmauer, als suche sie dort etwas. Dann wandte sie sich wieder Daniel zu. „Nein, kein Wolf“, sagte sie entschieden. „Das würde allen Erfahrungen widersprechen. Und so groß, wie dir das Tier vorgekommen ist, war es sicher nicht. Das kann in so einer Schocksituation schon mal täuschen.“
„Aber was dann?“, fragte Daniel gereizt. Schocksituation! Maria schien ihn doch nicht so ernst zu nehmen, wie er gehofft hatte. „Denkst du, mich hätte ein Dackel angefallen?“
„Quatsch!“, schnappte sie. „Aber ein Hund könnte es durchaus gewesen sein. Ein sehr großer Hund. Du sagst, er stand etwas über dir? An einem kleinen Hang?“
„Richtig. Zwei, drei Meter hoch. Ungefähr. Vielleicht auch mehr ... ach, ich weiß nicht!“
„Kein Wunder, dass er dir riesig vorgekommen ist. Nachts, im Zwielicht und aus der Perspektive.“
„Und wo soll so ein Vieh auf einmal hergekommen sein?“
„Das wüsste ich auch gern ...“ Maria lehnte sich zurück, starrte nachdenklich auf ihre Bierflasche. „Womöglich ausgerissen. Und jetzt streift er wildernd durch die Gegend. Was dann vielleicht auch die Schafrisse erklärt.“ Als sie das sagte, dachte sie gleichzeitig an eine andere Sache, auf die sie sich bisher keinen Reim hatte machen können. Sie legte Daniel ihre Hand auf den Oberschenkel. „Weißt du was? Ich werde mich mal ein bisschen umhören. Sollte ich was in Erfahrung bringen, gebe ich dir Bescheid. Einverstanden?“
Daniel nickte. Zufrieden war er nicht mit der Antwort. Andererseits, was hatte er denn erwartet? Bei Maria Hübner das riesenhafte Vieh zu finden, das ihn angegriffen hatte? Mit seinem Blut an den Reißzähnen? Als eindeutigen Beweis dafür, dass er nicht Opfer seiner ausufernden Fantasie geworden war? Es konnte doch sein, dass in seinem Revier wildernde Hunde unterwegs waren. Er erinnerte sich wieder an die Schatten, die er wahrgenommen hatte, oben auf dem Hochsitz. Er hatte sie als Einbildung abgetan, seinem Zustand zugeschrieben: völlig übermüdet, kurz vor dem Einschlafen. Dazu die ganzen Geräusche – irritierend, unheimlich, furchteinflößend. Etwa doch keine Hirngespinste? Er wusste selbst nicht mehr, was er glauben sollte. Am liebsten hätte er sich mit aller Wucht gegen den Kopf geschlagen, um das Durcheinander unter seiner Schädeldecke wieder zurechtzurücken.
„Kennst du den Ponytale Saloon?“, unterbrach Maria seine Grübelei.
„Ponytale Saloon? Ja, gehört habe ich den Namen schon mal. Bin mir aber nicht sicher. Warum fragst du?“
Sie zuckte mit der Schulter. „Ach, war nur so ’ne spontane Idee. Ist ein klasse Laden, total urig. Und gar nicht weit von hier, bei Neustadt. Sieht aus wie im Wilden Westen. Stilecht, mit allem, was dazugehört. Katja Ortlepp, die Eigentümerin, ist der absolute Western-Fan. Für ihre Gäste heißt sie Jenny. Ich kenne sie schon ein paar Jahre. Sie ist ’ne Freundin. In ihrem Laden könnten wir uns ja mal treffen und was zusammen trinken, wenn du Lust hast. Das Essen ist übrigens auch spitze. Und du bringst deine Julia mit. Dann lerne ich sie mal kennen.“
Daniel zuckte mit den Schultern. „Hm ... Warum nicht? Hört sich verlockend an. Ich werde Julia fragen.“ Er blickte auf seine Armbanduhr und erhob sich. „Tja, ich muss wieder los. Wartet noch einiges an Arbeit auf mich.“
Maria nickte und stand ebenfalls auf. „Verstehe. War auf jeden Fall schön, dass du vorbeigeschaut hast.“ Sie begleitete Daniel zurück zu seinem Wagen. „Mach’s gut, mein Lieber, und grüß deine Frau unbekannterweise“, sagte sie und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. „Ich melde mich bei dir wegen dieser Hundesache. Versprochen.“
Als Daniel Kranz den Hof verließ, schaute Maria Hübner dem davonfahrenden Wagen einige Augenblicke hinterher. Dann wandte sie sich um, ging langsam zurück in ihre Werkstatt. Bei der Arbeit an ihrer schmiedeeisernen Skulptur konnte sie gut nachdenken. Und nachdenken musste sie jetzt. Über die Geschichte, die Daniel ihr erzählt hatte, über die gerissenen Schafe und noch über etwas anderes: Das Fundstück oben aus dem Hochwald, auf das sie vor wenigen Tagen gestoßen war und dem sie keine Bedeutung beigemessen hatte, erschien ihr auf einmal in einem neuen Licht.