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7. Kapitel

Gegen elf Uhr trat Blume durch die Eingangstür des Stadthauses in der Bochumer Straße in Nordhausen. Das mehrgeschossige, westlich der nahen Innenstadt gelegene Eckgebäude gehörte zu den Ensembles, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut worden waren. Auf das Ende der DDR und die Wiedervereinigung war eine Renovierungswelle gefolgt, der die Stadt und das Haus, in das Blume hineingegangen war, ihr heutiges schmuckes Gesicht verdankten.

Die Psychotherapeutische Gemeinschaftspraxis Drey­ling, Thunert und Bach dehnte sich fast über das gesamte zweite Obergeschoss aus, direkt unter dem Dach mit seinen knapp einem Dutzend Gauben. Trotz des Fahrstuhls, der einen behindertengerechten Zugang zu den Etagen ermöglichte, entschloss sich Blume, die Treppe zu nehmen. Oben angekommen, stand er nach ein paar Metern über den Flur vor der verschlossenen Praxistür. Erst auf sein Läuten hin wurde ihm von einer etwa fünfzigjährigen eleganten Dame geöffnet.

Der Raum, in den er eintrat, war groß und hell. Blume hätte ihn für ein Wohnzimmer gehalten, wäre nicht der Empfangstresen in der Mitte gewesen. Weicher Teppichboden dämpfte die Schritte, große Kunstdrucke an den Wänden zogen seinen Blick auf sich, und verschiedene hohe, über das Zimmer verteilt stehende Grünpflanzen erzeugten ein angenehmes Raumklima. Viele weitere dekorative Wohnaccessoires vermittelten eine Wohlfühlatmosphäre, die konventionellen Arztpraxen fehlte. Von den vier Türen, die links und rechts in die Wände eingelassen waren, schien keine in ein abgeschlossenes Wartezimmer zu führen. Es gab nur eine Nische, die, abgetrennt durch einen kleinen Raumteiler, als Wartebereich diente. Mehr schien nicht nötig zu sein. In einem der drei Sessel, die dort standen, blätterte ein junger Mann in einer Illustrierten.

Blume folgte der eleganten Dame zum Tresen in der Mitte des Raumes. Am Fenster dahinter saß eine Frau vor einem Computer und ließ ihre Finger über die Tastatur fliegen. Sie wandte ihr Gesicht vom Bildschirm ab, schaute kurz zu Blume hin und lächelte ihm zu – eine hübsche Erscheinung, schlank, die glatten, brünetten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie war jung, um die zwanzig Jahre jünger als ihre Kollegin, schätzte er. Und sie wirkte wesentlich freundlicher auf ihn.

„Bitte schön, was kann ich für Sie tun?“, fragte ihn die elegante Dame. Ihre ersten Worte seit der knappen Begrüßung an der Tür. Sie sah ihn über den Tresen hinweg auffordernd an.

„Ich hätte gern Dr. Dreyling gesprochen“, bat Blume sie.

„In welcher Angelegenheit? Haben Sie einen Termin?“

„Nein, ich bin ein Freund von Herrn Dreyling. Wir hatten uns hier in Nordhausen verabredet. Vor einer Stunde wollten wir uns treffen. Er ist nicht gekommen. Da dachte ich ...“

„Ihr Name?“ Die elegante Dame betrachtete ihn mit unverhohlenem Misstrauen.

„Parschau. Richard Parschau.“ Den falschen Namen hatte er sich auf dem kurzen Weg von der Tür zum Tresen einfallen lassen. Eine instinktive Entscheidung. Seinen Ausweis wollte die Frau jetzt hoffentlich nicht sehen.

„Dr. Dreyling ist heute leider nicht im Haus. Bedaure.“

„Dann stimmt es, was ich gelesen habe? Er wird vermisst? Seit wann denn? Was ist passiert?“

Die Reaktion der Dame war ausgesprochen kühl. „Tut mir leid, dazu werde ich Ihnen keine Auskunft geben“, antwortete sie schroff.

„Hören Sie, Frau ...“, er entdeckte das kleine Schild auf dem Tresen, „... Frau Gundlach, ich bin sein Freund! Sie werden mir doch wohl sagen können, was los ist!“ Er verlieh seiner Stimme einen empörten Klang. „Er ist sonst immer pünktlich. Ich habe versucht, ihn anzurufen. Aber er ist nicht an sein Telefon gegangen. Und dann diese Anzeige ... Ich mache mir Sorgen, verstehen Sie das?“

Er nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie sich die junge Frau von ihrem Computer erhob und sich um den Tresen herum wand. Sie huschte dicht hinter ihm entlang, gab ihm im Vorbeigehen einen leichten Stoß. Irritiert drehte er sich zu ihr um.

„Sie haben da was verloren“, murmelte sie, deutete mit ihrem Blick nach unten und ging weiter.

Blume sah zu Boden. Neben seinen Füßen lag ein kleiner zusammengefalteter Zettel. Der gehörte ihm nicht. Trotzdem hob er ihn auf, faltete ihn auseinander und überflog den Text darauf. Dann steckte er das Stück Papier schnell in seine Hosentasche. Die junge Frau war hinter einer der Türen verschwunden.

Blume wandte sich wieder der Dame namens Gundlach zu, die mit einem Räuspern seine Aufmerksamkeit einforderte.

„Wenn Sie sich Sorgen um Ihren Freund machen, müssen Sie sich an die Polizei wenden“, erklärte sie ihm energisch.

„Aber er wird doch nicht einfach so verschwunden sein! Hat er denn nichts gesagt? Kein Wort?“

„Noch einmal, ich werde Ihnen keine Auskunft geben“, wiederholte Frau Gundlach mit versteinertem Gesicht. „Falls Sie keine weiteren Fragen haben ...“

Blume begriff, dass er bei ihr auf Granit biss. Er nahm es gelassen. Vor wenigen Augenblicken hatte sich ihm eine andere Informationsquelle aufgetan – wenn er den Text auf dem Zettel richtig deutete. „Nein, vielen Dank“, sagte er und wandte sich dem Ausgang zu. Nach ein paar Schritten hielt er inne, drehte sich wieder um. „Doch, eine letzte Frage habe ich: Frau Sandra Kullmann? Sie ist Karstens Patientin, richtig?“

Die Augen der Dame am Tresen weiteten sich vor Überraschung. Oder vor Schreck. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann hatte sie sich unter Kontrolle und war so abweisend wie zuvor. „Auf Wiedersehen“, zischte sie und legte eine Hand auf den Hörer des Telefons neben sich. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie jemanden herbeirufen würde, der Blume ohne viele Worte aus der Praxis warf, sollte er nicht endlich den Rückzug antreten.

Sekunden später schloss er die Praxistür hinter sich. Wieder unten auf dem Bürgersteig, zog er das Stück Papier aus der Tasche, das die junge Praxisangestellte hatte auf den Boden fallen lassen. „Der Burgermeister, links die Straße runter. Zwei Minuten zu Fuß, Treffen um halb eins“, las er noch einmal. Ein paar schnell hingekritzelte Worte, aber mit eindeutiger Botschaft: Die Frau wollte ihn sprechen. Er brauchte seine Fantasie nicht zu bemühen, um zu wissen, worüber.

Blume folgte den Anweisungen auf dem Zettel und ging ohne Eile in die beschriebene Richtung. Nicht lange, dann tauchte links vor ihm ein kleines tristes Gebäude mit grauen Dachplatten auf. Von hinten wirkte es eher wie das Bauwerk eines Energieunternehmens, ein Transformatorhaus oder etwas in der Art. Genauso hätte es eine öffentliche Toilette sein können. Nur das Schild an der Rückwand des Gebäudes wies auf die wahre Nutzung hin. In dicken Lettern stand dort der Name des Imbisses. Blume war fast an dem Haus vorbei. Jetzt erkannte er den überdachten Eingangsbereich mit der Glastür und dem großen Schaufenster daneben. „Der Burgermeister“, las er auch hier. Der Schriftzug stand auf dem weißen Giebeldreieck direkt unter dem Dach. Kein einladend wirkender Ort, zu dem ihn die junge Frau bestellt hatte. Er sah auf seine Armbanduhr. Etwa eine Stunde blieb ihm, bis sie eintraf. Unschlüssig schaute er sich um. Es gab nichts in unmittelbarer Nähe, das einen kurzen Besuch gelohnt hätte. Daher steuerte er auf die Tür des Imbisses zu und trat ein. Er fand einen freien Tisch direkt am Schaufenster. Einige Augenblicke beobachtete er das Paar am Nachbartisch. Ordentliche Portionen, die da auf ihren Tellern lagen. Die Hamburger sahen appetitlich aus, hielten aber auf den ersten Blick keinem Vergleich mit den Burgern stand, die Katja in ihrem Saloon servierte. Egal, es war Mittagszeit, er hatte Hunger, und etwas Besseres würde er in der Zeit bis zu seinem Rendezvous nicht finden. Die Bedienung trat an seinen Tisch, er bestellte einen Großburger mit Pommes frites und Cola.

Die Praxisangestellte war pünktlich. Ohne sich lange umzusehen, kam sie auf seinen Tisch zu und setzte sich ihm gegenüber. Ihr Gesicht war gerötet, was sicher nicht daran lag, dass sie sich auf dem Weg hierher übermäßig angestrengt hatte. Vielmehr schien sie vor Aufregung und Mitteilungsdrang zu platzen!

„Sie wollen wissen, was mit Karsten ... Dr. Dreyling passiert ist?“, kam sie sofort zur Sache.

„Ja. Das würde ich tatsächlich gern“, antwortete Blume. „Ihre Kollegin war nicht sehr auskunftsfreudig.“

„Hach! Unser Praxisdrachen! Wenn die wüsste, dass ich mich hier mit Ihnen treffe, hätte ich heute noch meine Kündigung auf dem Tisch.“

„Ist sie so schlimm?“

„Sie ist schrecklich! Und Sie? Sie sind doch nicht der Freund von Karsten ... von Dr. Dreyling. Sie sind von der Presse, oder?“

„Wieso glauben Sie, dass ich nicht sein Freund bin?“

„Ich ... na ja, dann hätte er mit mir, also mit uns, ganz sicher mal über Sie gesprochen. Einen Richard Parschau hat er aber nie erwähnt.“

„Hätte er das? Ihnen von mir erzählt? Sie haben ein derart persönliches Verhältnis in Ihrer Praxis?“

„Nein, das nicht. Aber man unterhält sich ja ab und zu mal über Privates“, versuchte sie, zu erklären. „Also ... was ist jetzt? Sind Sie von der Presse oder nicht?“

Blume zuckte mit der Schulter. „Na ja, ich bin zumindest genauso neugierig.“ Er beugte sich zu ihr hinüber. „Und Sie? Sie haben mir noch nicht mal Ihren Namen gesagt.“

„Oh, ’tschuldigung. Ich heiße Mareike Jahn.“

„Schön, Frau Jahn. Dann erzählen Sie mal. Was wollten Sie loswerden? Es geht um Dr. Dreyling und diese Vermisstenanzeige, stimmt’s?“

Sie nickte eifrig. „Die Anzeige haben Frau Thunert und Frau Bach aufgegeben. Das sind die beiden Psychologinnen, mit denen Karsten ... Herr Dreyling die Praxis führt. Es ist ja seine Praxis, und Frau Thunert und Frau Bach sind bei ihm angestellt. Aber das ist jetzt egal.“

„Es war kein Angehöriger?“, vergewisserte sich Blume.

„Nein. Er hat ja keine Verwandten. Jedenfalls keine, mit denen er ständig Kontakt hat.“

„Eigene Familie? Frau und Kinder?“ Blume hätte nicht fragen müssen. Er kannte Dreylings familiäre Situation. Er wollte es dennoch von der Angestellten hören. Vielleicht gab es etwas, das er im Zuge seiner Recherche übersehen hatte.

„Nein, hat er nicht. Nur seine Eltern und einen Bruder. Aber die leben nicht hier, und er hört kaum von ihnen. Jedenfalls, als er vor einer Woche nicht in der Praxis erschienen ist, haben wir uns schon sehr gewundert. Er ist weggeblieben, einfach so. Hat sich nicht gemeldet und uns gesagt, was los ist. Er hätte ja krank sein können oder durch etwas anderes verhindert. So ein Verhalten kennen wir gar nicht von ihm. Wir haben dann bei ihm angerufen. Ohne Erfolg. Zwei Tage später gab es noch immer kein Lebenszeichen. Da bin ich zu ihm nach Hause gefahren, um nachzusehen. Er hat ja in seinem Behandlungszimmer einen Ersatzschlüssel für die Wohnung liegen.“

„Ersatzschlüssel?“, wunderte sich Blume. „Wieso das?“

Mareike Jahn lächelte verlegen. „Ach, wissen Sie, Karsten ... Herr Dreyling ...“

„Bleiben Sie ruhig bei Karsten“, unterbrach Blume sie. „Dann müssen Sie sich nicht ständig korrigieren.“

„Ja. Also, Karsten ist manchmal etwas schusselig. Verlegt gern mal seine Sachen. Außerdem hat er ... er ist ...“ Sie druckste herum. Die richtigen Worte kamen ihr nicht so leicht über die Lippen. „Na ja, Karsten hat es nicht so mit der Treue. Er hatte eben öfter mal eine neue Partnerin, die dann meist einen Haustürschlüssel von ihm bekommen hat. Er war da immer ziemlich schnell bei der Sache, auch wenn es nur etwas mehr als ein One-Night-Stand war. Wenn er die Beziehungen wieder beendet hatte, war manchmal nicht nur die Frau, sondern auch der Schlüssel weg. In Liebesdingen war Karsten echt chaotisch, das kann ich Ihnen sagen! Und bevor er dann vor seiner Wohnungstür stand und nicht reinkam ...“

„Verstehe. Und das hat sich geändert?“

„Hm ... er ist zuletzt etwas ruhiger geworden, denke ich.“

„Ich nehme an, Sie sprechen aus eigener Erfahrung“, setzte Blume einen gezielten Stich. „Sie waren mit ihm liiert, habe ich recht? Deshalb nennen Sie ihn beim Vornamen. Es ist nicht so, dass Sie in der Praxis einen lockeren Umgangston pflegen.“

Mareike Jahn lief rot an. Volltreffer, stellte er genüsslich fest.

„Ja, ich war mit Karsten zusammen“, stammelte sie, um sofort zu versichern: „Aber das ist eine ganze Weile her! Ich bin längst drüber weg. Glauben Sie bloß nicht, dass ich eifersüchtig bin und nur hier sitze, um ihn schlechtzumachen.“

„Keine Bange, das glaube ich nicht“, beruhigte Blume sie. „Was ist mit dem Schlüssel zu seiner Wohnung? Haben Sie Ihr Exemplar etwa noch?“

„Nein! Den hat er zurückbekommen! Ich habe den Ersatzschlüssel aus seinem Behandlungszimmer genommen. Das wissen alle in der Praxis.“

„Und? Ist Ihnen bei Dr. Dreyling zu Hause etwas aufgefallen? War etwas merkwürdig? Anders als sonst? Ich nehme an, Sie kennen seine Wohnverhältnisse aus Ihrer gemeinsamen Zeit.“

Sie überlegte kurz. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Alles war wie immer bei ihm, wenn er die Wohnung morgens verlässt. Aufgeräumt. Sauber. In der Küche, ja, da lag das dreckige Besteck vom Frühstück herum. Seine Tasse, der Teller und die Müslischale. Völlig normal. Eigentlich. Er räumt jeden Abend vor dem Schlafengehen alles, was er tagsüber benutzt hat, in den Spüler und stellt ihn an. Nimmt es morgens wieder raus. Aber als ich in der Wohnung war, lag das Geschirr da schon länger. Nicht erst einen Tag. Die Essensreste am Teller und in der Schale waren angetrocknet.“

„Und im Bad? Sein Rasierzeug, Zahnbürste, Deo, Shampoo, alles da?“, hakte Blume nach. „In seinem Kleiderschrank, fehlte da was?“

„So genau habe ich nicht hingesehen, aber ...“ Sie spielte ein paar Sekunden mit ihren Haaren, wickelte eine Strähne um ihren Finger, überlegte. „Ich glaube, da fehlte nichts.“

„Es sah also nicht so aus, dass er verreist war.“

Mareike Jahn lachte auf. „Nein! Ganz bestimmt nicht! Sein Auto stand ja noch unter dem Carport. Nur sein Motorrad war weg. Wenn er hätte verreisen wollen, hätte er das Auto genommen. Das Bike, das ist mehr so ein Angeberding. Der leidenschaftliche Motorradfahrer ist er nicht.“

„Und nachdem Sie aus seiner Wohnung zurück waren, haben Ihre Chefinnen die Polizei informiert?“

„Ja. Wir wussten uns keinen anderen Rat. Das Ganze sah ihm so gar nicht ähnlich.“

„Und warum sitzen Sie dann jetzt hier und erzählen mir das alles? Wenn sich schon die Polizei darum kümmert?“

„Pah! Was tun die denn? Die halten schön die Füße still. Warten erst mal ab. Hoffen vermutlich, dass irgendjemand Karsten sieht und sich bei ihnen meldet. Oder dass er von allein wieder auftaucht.“

„Der Polizei ist bekannt, dass er mit dem Motorrad unterwegs ist?“

„Ja ... doch. Die Chefinnen haben es denen gesagt, glaube ich.“

„Und ich? Was erwarten Sie von mir?“

„Na ja ...“, setzte sie an und zwinkerte ihm verschwörerisch zu, „mir ist egal, ob Sie Pressemann sind oder nicht. Aber neugierig, das sind Sie auf jeden Fall. Haben Sie selbst gesagt. Und Sie sind von sich aus in die Praxis gekommen. Mit Ihrem Märchen von wegen Freund und so. Sie suchen Karsten und wollen wissen, was los ist. Sie hätten genauso zur Polizei gehen können. Haben Sie aber nicht getan. Keine Ahnung, was Sie für Gründe haben, ihn zu suchen. Wollen Sie ihm was Böses?“ Sie betrachtete ihn einen Augenblick, schüttelte dann den Kopf. „Ach was, ich denke nicht. Ich mache mir jedenfalls Sorgen um Karsten. Sie ja vielleicht auch. Wenn ich Ihnen mit meinen Informationen geholfen habe, ihn zu finden, nutzt das uns beiden.“

Blume starrte nachdenklich vor sich hin. Sorgte sich Mareike Jahn um ihren Chef und Ex-Liebhaber so sehr, dass sie lieber einen Fremden um Hilfe bat, anstatt der Polizei zu vertrauen? Nein, so groß war ihre Not nicht! Er vermutete, dass sie sich nur mit ihm getroffen hatte, um sich wichtig zu machen. Um nicht im Schatten des Praxisdrachens zu verkümmern. Sie hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt, die sich ihr mit seinem Auftauchen in der Praxis geboten hatte. Spätestens jetzt war er froh, sich mit falschem Namen vorgestellt zu haben. Diese Mareike Jahn suchte Aufmerksamkeit. Und sie war geschwätzig – zu geschwätzig. Sie würde nicht zögern, jemandem von ihrem Gespräch mit ihm zu erzählen, sobald sich die Gelegenheit bot. Da war es besser, es gab keine verwertbare Spur, die zu ihm führte.

Er blickte auf, sah ihr direkt in die Augen. „Wissen Sie, dass Dr. Dreyling eine Beziehung mit Sandra Kullmann hat?“, fragte er.

Sie winkte ab. „Aber sicher! Das ist kein Geheimnis. Alle in der Praxis wissen das. Geht ja schon eine Weile. Es gab deswegen schon richtig Stress zwischen ihm und seinen beiden Kolleginnen. Von wegen Beziehung mit ’ner Patientin und so. Fand ich voll daneben. Bei all seinen anderen Abenteuern haben sie auch nie was gesagt.“

Sie tat so cool, so abgeklärt. Ein bisschen zu dick aufgetragen, fand Blume.

„Und was, wenn ich Ihnen außerdem sage, dass Dr. Dreyling mit Sandra Kullmann gemeinsam untergetaucht ist, weil er mit ihr ein neues Leben beginnen will? Weit weg, wo niemand die beiden findet?“

Mareike Jahn lachte auf. „Karsten? Mit einer seiner Tussen durchbrennen? Gemeinsames Leben? Das ist doch ein Witz! Das würde er nie tun. Für eine Frau sein Leben hier aufgeben. Er hängt an seiner Praxis und dem allen!“ Sie schüttelte vehement den Kopf.

„Dem allen? Was ist das?“, fragte Blume. Sie meinte wohl in erster Linie sich selbst, vermutete er.

„Na, die Stadt, die Kultur, seine Bekannten ... Darauf würde er nicht verzichten. Nie!“ Das behauptete sie im Brustton der Überzeugung. „Sie sind tatsächlich kein Freund von Karsten. Sie kennen ihn nicht ein bisschen! Sonst würden Sie das nicht mal im Traum für möglich halten. Wie kommen Sie überhaupt auf so eine ... eine bescheuerte Idee? Neues Leben beginnen?“

„Frau Kullmann hat es ihrem Mann gebeichtet. Der ist genau im Bilde, warum sie ihn verlassen hat.“

Mareike Jahn starrte ihn an. Mit offenem Mund. Fassungslos. Suchte nach Worten. „Das ... das ist nicht Ihr Ernst“, stammelte sie. „Karsten haut nicht einfach mit der ab. Er hätte mir ... uns das nie angetan. Das ... das kann er nicht machen.“ Sie stand von ihrem Stuhl auf. Ihre Bewegungen wirkten fahrig. Der Schreck war ihr in die Knochen gefahren. „Ich gehe dann mal wieder“, sagte sie tonlos.

„Entschuldigung, würden Sie mir Ihre Telefonnummer geben?“, hielt Blume sie zurück. „Falls ich noch Fragen habe.“

Sie nickte geistesabwesend und diktierte ihm die Nummer in sein Smartphone. Dann drehte sie sich um und verließ überstürzt den Imbiss. Ihr Abgang hatte etwas von Flucht an sich.

Blume sah ihr grübelnd hinterher. Seine Gedanken hingen an einer ihrer Äußerungen fest. Dreylings Motorrad war verschwunden, aber sein Auto stand unter dem Carport? Wie konnte das sein? Wenn der Mann mit seiner Geliebten hatte untertauchen wollen, wäre er dann nicht mit seinem Wagen gefahren? Diesem protzigen Audi Q7, aus dem er ihn und Sandra Kullmann bei seiner Observation einige Male hatte aussteigen sehen? Unter dem Carport, der zu seiner Penthouse-Wohnung gehörte? Mit dem er zur Hütte im Wald gefahren war, nachdem er seine Geliebte auf einem abgelegenen Parkplatz abgeholt hatte? Und wenn die beiden für ihr Verschwinden Sandra Kullmanns kleinen Mazda MX-5 Roadster benutzt hätten, wäre Dreyling etwa mit seinem Motorrad zu einem geheimen Treffpunkt gefahren, um dann mit ihr gemeinsam die Reise fortzusetzen?

Blume konnte sich nicht vorstellen, dass sie nur mit kleinem Handgepäck gereist waren. Oder gar nichts mitgenommen hatten. Und sei es nur zum nächsten Flughafen. Eine Hals-über-Kopf-Flucht? Nein, das konnte nicht sein. Ihr Abgang wies planerische Züge auf. Allein schon der Zeitpunkt, an dem Sandra Kullmann ihren Ehemann eingeweiht hatte. Dass sie überhaupt noch einmal Kontakt zu ihm aufgenommen hatte! Aber Dreylings Verhalten! Wie passte das? Gehörte sein stillschweigendes Verschwinden zum Plan? Gab es einen Grund, bewusst eine Suchaktion heraufzubeschwören?

Blume brauchte Gewissheit! Zunächst einmal darüber, ob Mareike Jahns Geschichte von dem fehlenden Motorrad stimmte. Er würde auf der Rückfahrt einen Abstecher zu Dreylings Penthouse machen.

Harzhunde

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