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Kapitel 2

Donnerstag, 9 Uhr

Als der Krawall losging, wusste Heinz Sablatnig im ersten Moment nicht, wie ihm geschah. Er wälzte sich herum und wedelte mit dem Arm, als könnte er damit den Lärm verscheuchen wie eine lästige Fliege. Schließlich drang die Melodie in sein Bewusstsein – If You Don’t Know Me by Now von Simply Red –, sein Handy-Klingelton für unbekannte Anrufer.

Hatte er gestern vergessen, sein verdammtes Handy auszuschalten? Und warum lief es ausgerechnet jetzt noch immer, obwohl sich der Akku schon seit geraumer Zeit schneller entlud, als er sich, so schien es, aufladen ließ?

Wie ferngesteuert zog Heinz die Ohrenstöpsel aus seinen Gehörgängen und drehte sich stöhnend zum Nachtkästchen. Das Nachtlicht machte ihm die Suche leicht, er schnappte das Handy und drückte die Anruf-Annehmen-Taste.

„Sablatnig?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

„Hallo?“, klang eine schrille Frauenstimme vom anderen Ende der Leitung, „spreche ich mit Heinz Sablatnig, dem Privatdetektiv?“

„Ja.“ Heinz hatte es aufgegeben, den Menschen zu erklären, dass es so etwas wie einen Privatdetektiv in Österreich nicht gab, die korrekte Bezeichnung lautete Berufsdetektiv.

„Hier spricht die Rechtsanwaltskanzlei Doktor Werginz. Ich verbinde Sie mit Herrn Doktor Werginz, einen Augenblick, bitte.“

Einen Wimpernschlag später meldete sich eine hektische Männerstimme. „Herr Sablatnig, ich freue mich immens, Sie kennenzulernen. Haben Sie eine Minute Zeit?“

„Ja.“

„Herr Sablatnig, ich rufe Sie im Auftrag meiner Mandantin an, Frau Doktor Moritsch, die gerne Ihre Dienste in Anspruch nehmen würde. Sie sind ja in Kärnten mittlerweile immens bekannt, spätestens seit Ihrem aufsehenerregenden Einsatz bei der Starnacht am Wörthersee.“

Heinz konnte den Unterton in der Stimme des Rechtsanwalts nicht deuten.

„Bei dem gegenständlichen Auftrag geht es um nicht weniger als um die Suche nach einem Mörder. Sind Sie interessiert?“

Die nun entstehende Pause fühlte sich für Heinz so an, als erwartete der Anwalt, er würde „hurra“ schreien oder Ähnliches. Heinz wälzte sich an den Rand des Bettes und setzte sich auf. „Grundsätzlich ja.“

Wieder folgte eine Pause, der Anrufer schien verdutzt. „Gut“, sagte Doktor Werginz schließlich, „gut, dann schlage ich vor, wir treffen uns alle drei und besprechen die Details, in Ordnung? Können Sie um 11 Uhr in Velden sein?“

Heinz nahm das Handy vom Ohr und blickte auf die Zeitanzeige. „Ja“, erwiderte er dann, „müsste sich ausgehen.“

„Gut, wir treffen uns dort in der Seniorenresidenz Seemoos. Ich warte an der Rezeption auf Sie, einverstanden?“

„Ja, in Ordnung.“

„Ich freue mich immens, Herr Sablatnig! Dann bis 11 Uhr, auf Wiederhören.“

Heinz ließ das Telefon auf das Nachtkästchen klappern und das Gesicht in seine Hände sinken. Er hatte keinen Bock auf einen Auftrag, nicht den geringsten, aber seine finanzielle Lage ließ eine Ablehnung nicht zu. Er stand auf und tappte zum Fenster, um das Rollo hinaufzuziehen. Sein Körper fühlte sich an, als hätte er einhundertfünfzig Kilo. Die Vormittagssonne blendete ihn, er wandte sich rasch ab. Sein Körper brachte ihn ins Bad – ein Routineablauf. Vor dem Badezimmerspiegel hielt er inne und betrachtete sich. Er sah müde aus, abgewrackt, aber immer noch besser, als er sich fühlte. Wie hieß dieser Rechtsanwalt noch einmal?

Eine Dusche und der erste Kaffee brachten keine wesentliche Verbesserung seines Befindens. Er würde nach Velden fahren und sich anhören, was dieser Anwalt zu sagen hatte. Und seine Auftraggeberin, deren Namen er sich genauso wenig gemerkt hatte wie den von diesem Altersheim. Aber so viele würde es in Velden ja nicht geben, eine kurze Recherche im Internet würde ihn sicher auf die richtige Spur bringen.

Pünktlich um kurz vor elf parkte Heinz seinen schwarzen, getunten VW Corrado auf dem Parkplatz der Seniorenresidenz Seemoos ein, und nahm die Mundschutzmaske aus dem Handschuhfach, die er seit Beginn der staatlichen Verordnungen wegen des Corona-Virus’ immer mithatte. Bei seiner Recherche war er sich nicht sicher gewesen, ob Seemoos der richtige Name war, und jetzt, als er den Bau betrachtete, verstärkte sich diese Verunsicherung noch mehr. Das schlossartige Jugendstilgebäude hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Fünf-Sterne-Hotel als mit einem Altersheim, aber er beschloss, sein Glück trotzdem zu versuchen. Sollten alle Stricke reißen, konnte er diesen Rechtsanwalt immer noch zurückrufen und so tun, als hätte er vorhin etwas falsch verstanden.

Als Heinz die Residenz betrat, hielt er inne und staunte. Vor ihm lag ein breiter Gang, der in einen Raum mit mehreren großen Fenstern mündete. Das hereinflutende Licht glänzte mit seiner eigenen Spiegelung im dunklen, rostroten Marmor des Bodens und der Wände um die Wette. Die Bilder und Spiegel in dem Gang waren in Mahagoni eingefasst, und in großen Messingtöpfen wuchsen tropische Pflanzen. Ein paar wuchtige, mit schwerem Brokat bezogene Ohrensessel standen an zierlichen Holztischchen, alles war sauber und glänzend poliert. Die Rezeption bestand aus einem großen, stilistisch mit dem restlichen Interieur harmonierenden Holztisch. Hinter diesem saß eine attraktive, dezent gestylte Dame mittleren Alters, die im Gegensatz zu Heinz keine Mundschutzmaske trug.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Sie lächelte ihn freundlich an.

„Mein Name ist Sablatnig.“ Heinz trat zu ihr an den Tisch. „Ich bin hier verabredet.“

Noch ehe er herumdrucksen konnte, weil er den Namen seines Termins vergessen hatte, rief eine Männerstimme von etwas weiter hinten im Gang:

„Herr Sablatnig?“

Im Gegenlicht sah Heinz, wie an einem der Polstersessel schattenhaft eine großformatige Zeitung zusammengefaltet wurde, wonach sich ein Mann erhob und auf ihn zukam.

„Sie sind Heinz Sablatnig?“ Unglauben schwang in der Stimme mit.

„Ja.“

Als der Mann näherkam, konnte Heinz ihn besser sehen. Er mochte Mitte sechzig sein, war etwa einen halben Kopf kleiner als Heinz und erkennbar rundlich, dennoch saß sein Anzug perfekt. Zwischen sorgfältig gekämmten und gegelten Haarbüscheln über den Schläfen zog sich eine Glatze über seinen Kopf. Auch er trug keine Maske.

„Doktor Werginz, angenehm, sehr angenehm!“ Der Anwalt reichte ihm die Hand. „Den Mundschutz brauchen Sie hier nicht.“

Heinz nahm die Maske wieder ab. Ihm entging nicht die Enttäuschung in dem listig-intelligenten Gesicht. Kein Wunder, so wie Heinz beieinander war, hatte sein Auftreten nichts Heldenhaftes an sich – doch genau das hatte Werginz wohl erwartet, zumindest hatte Heinz das aus dessen Anspielung auf seine Rolle bei der Starnacht am Wörthersee geschlossen.

Der Anwalt ließ sich aber nichts weiter anmerken. Er bedankte sich bei der Dame an der Rezeption und forderte Heinz auf, ihm zu folgen.

Der Raum am Ende des Gangs entpuppte sich als weitläufiger Salon. Die in einem warmen Weiß getünchten Wände waren mit Vertäfelungselemen ten aus Mahagoni besetzt, und neben den Pflanzen in den Messingtöpfen dienten hier auch Farbradierungen als Dekorationselemente. Sie zeigten Landschaftsszenen und waren auf Staffeleien platziert. Die Fensterrahmen waren im Weiß der Wände lackiert, was mit den cremefarbenen, leicht gerafften Vorhängen harmonierte. Das Ambiente wurde von einem frischen Blütenduft getragen, der von den Schnittblumen herrührte, die in Vasen auf jedem Tisch standen.

Heinz konnte sich nicht daran erinnern, jemals in einem so prächtigen und gleichzeitig so angenehmen Raum gewesen zu sein. Er war traurig – traurig über seine Unfähigkeit, dieses Erlebnis genießen zu können. Er folgte Doktor Werginz’ einladender Geste und setzte sich auf einen der hell gepolsterten Holzstühle, die an den ovalen Holztischen standen. Die Tische waren mit Tüchern in der Farbe der Vorhänge gedeckt, neben den Blumen stand auf jedem eine Kristallkaraffe, in der frisches Wasser funkelte, sowie einige stilgleiche Gläser.

Der Anwalt nahm ihm gegenüber Platz, räusperte sich und blickte auf seine Hände, die er aneinander rieb.

Heinz bekam das nur am Rande mit, zu sehr irritierte ihn der Reichtum der Ausstattung hier. „Sagen Sie, was ist das hier?“, fragte er.

Doktor Werginz lachte kurz und hektisch. „Das hier ist der Aufenthaltsraum der Seniorenresidenz.“

„So etwas habe ich noch nie gesehen.“ Heinz konnte sich an keinen Seniorenheim-Aufenthaltsraum erinnern, der luxuriöser ausgestattet gewesen wäre als mit Resopaltischen, Linoleumboden und Schnabeltassen aus Plastik – alles in uniformen Pastellfarben gehalten, „um die Herrschaften zu beruhigen“, wie ein Pfleger ihm einmal erklärt hatte.

Hier aber saßen elegant und bequem gekleidete, ältere Damen und Herren vereinzelt an den Tischen, unterhielten sich, lasen Zeitung oder blickten aus den Fenstern. Es hatte eher den Charakter eines noblen Kaffeehauses als den eines Altersheims.

„Nun, kein Wunder, dies ist ja auch die nobelste Seniorenresidenz, die wir in Kärnten haben“, meinte der Anwalt bescheiden, „und natürlich auch die teuerste, immens teuer. Dafür gibt’s aber auch einige Sonderregelungen“, er warf einen Blick auf die Mundschutzmaske in Heinz’ Hand. „Herr Sablatnig, bevor wir mit Frau Doktor Moritsch sprechen, ein paar Anmerkungen vorweg.“

Der ernste Ton in Werginzʼ Stimme zog Heinz’ Konzentration auf sich.

„Frau Doktor Moritsch ist zweiundsiebzig Jahre alt, was heutzutage ja beileibe kein Alter mehr ist, nur leider hat es die Natur nicht gut mit ihr gemeint.“ Der Anwalt machte eine Pause, während der er seinen Händen dabei zusah, wie sie sich gegenseitig kneteten. „Ich weiß nicht, ob Sie sie kennen, sie war ja lange Jahre eine höchst erfolgreiche Kärntner Landesrätin mit mehrmals wechselnden Referaten.“

Jetzt, da er es erwähnte, erinnerte Heinz sich tatsächlich. Liese Moritsch – den Namen hatte er in seiner Kindheit immer wieder in den Radionachrichten gehört, ohne dass er gewusst hatte, wer sie genau war oder was sie tat. Dennoch hatte er sich diesen Namen besser gemerkt, als er sich heute die der gegenwärtigen Landespolitiker merkte. Das mochte daran liegen, dass für ihn als Kind eine Amtszeit von mehreren Jahren unendlich lang erschienen war, während er heute oft glaubte, die Volksvertreter würden sich die Klinken zu den Büros der Macht im Wochentakt gegenseitig in die Hand drücken.

„Wie auch immer“, fuhr Doktor Werginz fort, „seit sie in der Polit-Pension ist, haben ihre Geisteskräfte, sagen wir einmal, nachgelassen.“ Er sah Heinz an, als hoffte er, dieser würde ihn verstehen, ohne dass er deutlicher werden musste.

„Sie meinen, sie ist ...“

„Dement“, zischte der Anwalt leise.

Heinz nickte.

Werginz blickte wieder auf seine Handbewegungen, als müsste er sich sammeln, ehe er fortfuhr: „Sie müssen wissen, dass ich seit vielen, vielen Jahren ihr Weggefährte bin. Ich habe schon in ihren politisch besten Zeiten ihre rechtlichen Agenden vertreten, und das war kein leichtes Brot, das dürfen Sie mir glauben.“ An dieser Stelle schlich sich ein lachender Unterton in seine Ausführungen, der aber sofort wieder verschwand. „Was ich sagen will, ist, dass mir ihr mittlerweile immens schlechter Zustand durchaus nahegeht. Und jetzt wird auch noch ihr Sohn ermordet, und sie versucht, diese Tatsache irgendwie in ihr Leben zu integrieren, zumindest in ihren hellen Momenten.“

Heinz fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Moritsch ... es gab doch auch aktuell einen Landesrat dieses Namens ... meinte der Anwalt etwa ihn? Und wann war der ermordet worden?

Doktor Werginz sah Heinz mit einem Ausdruck völliger Fassungslosigkeit an. „Herr Sablatnig ... Sie wissen gar nichts davon, habe ich recht? Mein Gott!“

Für einen Moment schien es Heinz, als wollte der Rechtsanwalt aufstehen und schweigend davongehen. Stattdessen sank sein Kopf mit einem hoffnungslosen Schnauben zwischen seine Schultern. Als er sich wieder gefasst hatte, legte er den Kopf schief und blickte Heinz hart an. „Herr Sablatnig, ich habe Sie Frau Doktor Moritsch empfohlen, weil ich davon ausgegangen bin, dass Sie der beste Privatermittler sind, den wir in Kärnten haben. Sie haben die Frenzen befreit und ihren Kidnapper überführt, beides unter Lebensgefahr, wenn ich mich recht erinnere. Sollte ich mich in Ihnen getäuscht haben? Ich meine, Sie kennen ja nicht einmal die Schlagzeile des Tages, wie sollen Sie da ...“ Als er bemerkte, dass er laut geworden war, ließ er den Satz unvollendet im Raum stehen. Sein harter Blick haftete weiterhin auf Heinz, offensichtlich wollte er eine Antwort hören.

Heinz konnte ihm keine geben. „Wissen Sie“, seine Worte kamen zögerlich, vor allem, da er schon wieder den Namen seines Gegenübers vergessen hatte, „bis jetzt weiß ich ja noch nicht einmal, worum es überhaupt geht. Ich habe heute länger geschlafen, Ihr Anruf hat mich aufgeweckt. Ich habe geduscht und gefrühstückt, dann bin ich hierhergefahren. Wenn Sie von mir erwarten, dass ich schon mit der halben Lösung zu unserem ersten Treffen komme, dann, fürchte ich, erwarten Sie etwas zu viel.“

Auch wenn Doktor Werginz es sich nicht anmerken lassen wollte, erschien ihm die Antwort schlüssig, Heinz konnte es in seinen Augen sehen. Dennoch behielt er seinen Blick noch mehrere Sekunden lang bei. Das mochte bei Befragungen vor Gericht durchaus Wirkung haben, Heinz ermüdete es nur.

„Gut“, meinte der Rechtsanwalt schließlich spitz, „gut, wir werden sehen. Frau Doktor Moritsch erwartet uns im Garten. Bitte haben Sie so viel Respekt und üben Nachsicht, wenn sie plötzlich das Thema wechselt.“ Er stand abrupt auf und ging voraus.

Heinz spürte, wie die Kraft von ihm abfiel. Diese Schmähung und der Zweifel an seinem Taktgefühl machten ihm zu schaffen, ebenso die Weigerung, ihn ins Bild zu setzen. Warum, zum Teufel, sagte der Rechtsvertreter nicht einfach, was es mit der Ermordung von Frau Doktor Moritschs Sohn auf sich hatte, wenn er Heinz deswegen hergebeten hatte? Nein, Heinz hatte echt keinen Bock auf diesen Auftrag!

Die noble Ausstattung der Innenräume setzte sich auf der Gartenterrasse fort. Die Sitzbereiche aus Steinpflaster wurden von kleinen Grünflächen unterbrochen, auf denen weiße Pavillons inmitten von Blumen und kugelig geschnittenen Büschen standen. In der Mitte der Terrasse, die sich über die gesamte Breite des Gebäudes erstreckte, plätscherte ein dreistöckiger, etwa zweieinhalb Meter hoher Brunnen, dessen weißer Stein vollständig mit Zierreliefs bedeckt war. Die Sitzgarnituren aus schwerem, altweiß lackiertem Gusseisen bestanden aus großen Tischen und jeweils vier stabilen Stühlen. Die runden Tischplatten waren ein Stückwerk aus konzentrischen Blüten- und Streifenmotiven mit relativ großen Zwischenräumen, auf den Sitzflächen der Stühle lagen taubengraue Sitzpolster.

Liese Moritsch wirkte klein und gebückt, wie sie da auf ihrem Stuhl saß und aus einer Kaffeetasse trank, die Untertasse in der anderen Hand. Heinz erkannte in ihren Gesichtszügen jene der starken Politikerin wieder, die in seinen Kindestagen selbstbewusst von diversen Wahlplakaten herabgelächelt hatte, doch sie wirkten nicht mehr wie die körperliche Ausformung eines starken Charakters, sondern wie eine im Laufe der Jahre geformte Maske.

Neben ihr am Tisch saß ein alter Mann mit schütteren, grauen Haaren und abstehenden Ohren.

Doktor Werginz eilte zu Frau Moritsch und stellte sich so hin, dass sie auf ihn aufmerksam werden musste. „Frau Doktor“, sagte er laut, mit übertriebener Freude in der Stimme, „haben Sie schon auf uns gewartet?“

Die alte Frau hob langsam den Kopf und musterte den Anwalt. „Herbert“, sagte sie, „was gibt es Neues von der Causa Sankt Magdalen?“ Ihre Stimme klang fest aber brüchig.

Werginz ignorierte ihre Worte. „Darf ich Ihnen Herrn Sablatnig vorstellen?“ Er deutete auf Heinz und gestikulierte diesem, er solle nähertreten.

Heinz gehorchte, und die ehemalige Politikerin musterte nun auch ihn. Ihr Blick war leer.

„Wir haben Herrn Sablatnig engagiert, um den Mord aufzuklären, erinnern Sie sich?“, fuhr der Anwalt fort.

Heinz kam es etwas seltsam vor, dass er und Frau Moritsch offenbar noch immer per Sie waren, obwohl sie, wie er erzählt hatte, viele Jahre lang zusammengearbeitet hatten.

„Den Mord ...“, wiederholte die alte Frau, und mit einem Mal füllte sich ihr Blick mit Leben – und mit tiefem Schmerz. Eine wellenartige Bewegung ging durch ihren hageren Körper, doch nur kurz, dann setzte sie Kaffee- und Untertasse am Tisch ab, richtete sich auf und sagte betont förmlich: „Doktor Werginz, ich möchte Ihnen meine Tischgesellschaft vorstellen, Herrn Diplomkaufmann Sorger, Gründer und Mehrheitseigentümer der Immobilien-Investmentgruppe Immosorg.“

Der Anwalt reichte dem alten Mann höflich die Hand.

„Herr Diplomkaufmann“, fuhr die alte Dame mit der Vorstellung fort, „Herr Doktor Werginz, mein Rechtsvertreter und seine Begleitung, Herr ...“ Sie sah Heinz auffordernd an, doch Doktor Werginz war schneller:

„Sablatnig, Heinz Sablatnig, Kärntens erfolgreichster privater Ermittler.“

Frau Moritsch reichte Heinz die Hand, die sich anfühlte wie Knochen in warmem Zellophan. Anschließend wandte Heinz sich Herrn Sorger zu. Dieser streckte ihm einen seiner spindeldürren Arme entgegen, welche in starkem Kontrast zu seinem gesetzten Leib standen. Für sein Alter – Heinz schätzte den Mann auf über achtzig – hatte er einen erstaunlich festen Händedruck.

„Es ist eine Tragödie! Eine Tragödie, was da passiert ist.“ Sorgers Stimme war dünn und heiser.

„Ja, das stimmt“, pflichtete ihm Doktor Werginz bei und nickte dabei heftig.

„Die Dinge sind so, wie sie sind.“ Frau Moritschs Urteil klang fest und endgültig. „Aber das heißt nicht, dass wir sie hinnehmen müssen.“ Sie vollführte eine wegschleudernde Armbewegung. „Herr Sablatnig ist hier, um den Mörder meines Sohnes zu stellen und ihn seiner gerechten Bestrafung zuzuführen.“ Während sie redete, blickte sie geradeaus, als spräche sie über die Köpfe eines großen Publikums hinweg. „Auf die Polizei ist kein Verlass. Sie steht entweder im Dienst der herrschenden Partei, oder sie tut gar nichts. Das nehmen wir nicht hin.“ Sie blinzelte einige Male, dann sagte sie: „Con piacere, Signore, sí, prego“, und nahm wieder ihre Kaffeetasse samt Unterteller vom Tisch.

„Dieser Fall“, wandte sich nun Sorger an Heinz, „dieser Fall muss unbedingt aufgeklärt werden, hören Sie? Es hängt viel davon ab.“ Es klang, als hätte auch er ein persönliches Interesse daran, doch Heinz vermutete, er wollte als guter Freund von Frau Moritsch deren plötzlichen Wechsel in die geistige Umnachtung überspielen.

„Deshalb sind wir hier“, beschwichtigte Doktor Werginz, der es plötzlich eilig zu haben schien. „Wenn Sie uns bitte entschuldigen, Herr Sablatnig und ich machen uns gleich an die Arbeit.“ Er wandte sich an die ehemalige Landesrätin: „Liebe Frau Doktor Moritsch, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, ich melde mich bei Ihnen, sobald es etwas Neues gibt.“ Da er nicht einmal versuchte, ihr die Hand zu reichen, ging er offenbar davon aus, dass sie ihn nicht wahrgenommen hatte.

Heinz verabschiedete sich in gleicher Weise von ihr und reichte Diplomkaufmann Sorger die Hand. Als er sich zum Gehen wendete, sah Frau Moritsch ihn mit einem verschleierten Blick an und sagte: „Herbert, die Causa Sankt Magdalen! Vergessen Sie nicht die Causa Sankt Magdalen!“

War Heinz vorhin noch davon ausgegangen, Doktor Werginz heiße mit Vornamen Herbert, begriff er nun, dass sie jemanden meinte, der wohl nur noch in ihrer Erinnerung existierte.

Doktor Werginz hatte die Seniorenresidenz im Eilschritt und schweigend verlassen, der Dame am Rezeptionstisch hatte er nur ein Kopfnicken zukommen lassen. Heinz hatte zu tun gehabt, ihm hinterherzukommen, er hatte sich hilflos gefühlt, der Situation ausgeliefert.

Jetzt, als sie das Gebäude verlassen hatten, blieb der Anwalt abrupt stehen und wandte sich ihm zu. „Herr Sablatnig, ich habe mir schon im Vorfeld die Freiheit genommen, einen Termin bei Frau Magistra Mühlwirth für Sie zu vereinbaren, Rudis ... die Büroleiterin von Landesrat Moritsch. Bitte seien Sie pünktlich um 17 Uhr in der Landesregierung.“ Er kramte hektisch in der Innentasche seines Sakkos und zog, sehr zu Heinz’ Erleichterung, eine Visitenkarte hervor, die er ihm reichte. „Bitte rufen Sie an, sobald Sie etwas herausgefunden haben, meine Sekretärin informiert mich und ich rufe schnellstmöglich zurück. Auf Wiedersehen.“ Er gab Heinz die Hand und eilte davon. Während seines gesamten Monologs hatte er ihn nicht eines Blickes gewürdigt.

Heinz stand da und sah zu, wie der Anwalt auf einen schwarzen Mercedes zueilte, ein Modell der neuesten S-Klasse-Generation. Die Blinker des Wagens leuchteten kurz auf, als Zeichen, dass er das Öffnen-Signal von Werginz’ Schlüssel erhalten hatte, und gleich darauf war der Anwalt eingestiegen und fuhr davon.

In Heinz’ Kopf blitzten Versatzstücke der Informationen auf, die er in der vergangenen halben Stunde erhalten hatte, sein Gehirn fühlte sich an, als hätte es einen Muskelkater. Er senkte seinen Blick zu der Visitenkarte, die seine Hände wie einen Schatz hielten. In letzter Zeit konnte er sich Namen, Termine und andere Informationen kaum noch merken, da war dieser schriftliche Anhaltspunkt ein echter Segen. Den Namen von Landesrat Moritschs Büroleiterin hatte er schon wieder vergessen, den Termin um 17 Uhr wusste er noch. Schnell zog einen Kugelschreiber und notierte die Uhrzeit auf die Rückseite der Visitenkarte, nun konnte nicht mehr viel schiefgehen. Allerdings fragte er sich, wie er unter diesen Voraussetzungen einen Mordfall aufklären sollte. Er würde alles aufzuschreiben, was ihm unterkam – aber er würde Hilfe brauchen. Hier wurde es kompliziert, denn die beste Unterstützung, die er bekommen konnte, war die seiner Schwester Sabine, die Chefinspektorin bei der Kriminalpolizei war, und das würde sich schwierig gestalten. Nichtsdestotrotz musste er es versuchen.

Er zog sein Handy, doch schon der erste Tastendruck machte ihm klar, dass der verdammte Akku wieder einmal seinen Geist aufgegeben hatte.

Seufzend ging er zu seinem Auto, setzte sich auf den Fahrersitz und steckte das Handy an das Ladegerät am Zigarettenanzünder. Es würde einige Zeit dauern, bis das Ding genug Saft hatte, um sich überhaupt einschalten zu lassen.

Heinz lehnte sich zurück und schloss die Augen. Irgendwie ging es ihm nicht anders als seinem Handy, sein Akku war leer, und er brauchte eine Pause. Seit Wochen hatte er keinen Auftrag mehr angenommen und auch davor nur solche, die sich leicht erledigen ließen und daher wenig Geld einbrachten. Das hatte dazu geführt, dass seine finanzielle Lage existenzbedrohend geworden war. Aber nicht nur von seinem Beruf, auch von seinen Freunden und seiner Familie hatte er sich zurückgezogen. Das lag daran, dass er den Umgang mit seinen Mitmenschen neuerdings als extrem anstrengend empfand, umso mehr, je näher sie ihm waren. Anfangs hatten ihn alle noch mit Anrufen bombardiert. Direktor Oberhofer von der Fiducia Versicherungsgesellschaft, sein bester Auftraggeber, hatte ihn mit zunehmender Ungeduld für diverse Nachforschungen engagieren wollen, ihn schließlich beschimpft und jede weitere Zusammenarbeit aufgekündigt. Verena, die Frau seiner Träume, die sich nicht dazu entschließen konnte, mit ihm zusammen zu sein, wollte ihn „aus seinem Schneckenhaus“ herauslocken, wie sie sich ausdrückte, hatte es aber ebenfalls irgendwann aufgegeben. Seine Eltern und seine Schwester Sabine meldeten sich immer noch, doch meist ignorierte er ihre Anrufe. Er konnte ihnen nicht begreiflich machen, dass er niemanden sehen und nichts hören wollte und dass der einzige Ort, an dem er sich geborgen fühlte, seine Wohnung war – möglichst abgeschottet von der Außenwelt.

Und genau da schloss sich der Teufelskreis. Wenn es so weiterging, würde er sich seine Wohnung nicht mehr leisten können, ein Szenario, das ihn derart in Panik versetzte, dass er es lieber ignorierte. Er wusste nicht, wie das alles weitergehen sollte.

Nach geraumer Zeit öffnete er die Augen wieder und seufzte. Vielleicht brachte der aktuelle Auftrag so viel ein, dass er wieder einige Zeit über die Runden kam, das war immerhin Anreiz genug, es zu versuchen. Er würde Doktor Werginz erste Ergebnisse liefern und dann mit ihm über sein Honorar verhandeln. Dazu musste er aber wissen, worum es in dem Mordfall überhaupt ging. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass in wenigen Minuten die Mittagsnachrichten im Radio kamen, da würde er wohl die Basisinformationen erhalten. Und danach war sein Handy vielleicht so weit aufgeladen, dass er Sabine anrufen konnte.


Kärntner Totenmesse

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