Читать книгу Kärntner Totenmesse - Roland Zingerle - Страница 5

Оглавление

Kapitel 3

Donnerstag, 12.30 Uhr

Heinz lenkte seinen VW Corrado auf das oberste Parkdeck der City Arkaden und wählte einen Stellplatz nahe einem der Eingänge. Er nahm immer das oberste Parkdeck, wenn er hierherkam. Einerseits fühlte er sich auf dem Dach des Einkaufszentrums unter freiem Himmel wohler als in den niedrigen unteren Decks, andererseits hatte er hier bisher noch immer einen Parkplatz gefunden, selbst an Samstag-Nachmittagen.

Die City Arkaden waren nicht nur Klagenfurts größtes Einkaufszentrum, sondern wohl auch das am stärksten frequentierte. Zumindest hatte Heinz das Gefühl, hier immer im Gedränge zu sein – was aber auch an ihm liegen konnte. Er hatte sich in Menschenansammlungen noch nie wohlgefühlt, und neuerdings war dieses Unwohlsein extrem geworden und bekam immer wieder neue Schattierungen. Heute zum Beispiel hatte er das Gefühl, dass ihm ständig jemand vor die Füße lief. Er verließ die Rolltreppe – schon stürmte eine junge Frau wie aus dem Nichts so nahe an ihm vorbei, dass er abrupt stehen bleiben musste, um nicht in sie hineinzulaufen. Er ging an einem Geschäft vorbei – da trat eine ältere Dame, hochnäsig weder nach rechts noch nach links schauend, aus dem Eingang und wischte an Heinz vorbei, so dass der Ärmel ihrer umgehängten Sommerjacke seine Nase streifte und überdies noch das aufdringliche Bukett eines schweren Parfüms an ihn heftete. Dann rammte ihn fast ein Teenager, dessen Gesicht die Displaybeleuchtung eines großen Handys reflektierte, danach umrundete ihn ein kleiner Hund, über dessen ausziehbare Leine Heinz beinahe stolperte, und so weiter und so weiter.

Heinz war froh, als er das Speiselokal auf der obersten Geschäftsebene erreicht hatte, allerdings nur kurz, denn das Lokal war überfüllt, und die Aussicht, an einem kleinen Tisch eng an eng mit den nächsten Gästen zu sitzen, behagte ihm überhaupt nicht.

Sabine wartete schon. Sie war in ihre Einheitskluft gekleidet, Bluejeans, Cowboystiefel und Lederjacke, die ihrem athletischen Körperbau durchaus schmeichelte, und wie üblich trug sie eine für Polizisten typische Ausstrahlung zu Schau, dieses Offensive, Resolute, Bestimmende, keinen Widerspruch Duldende. Soweit Heinz sich zurückerinnerte, war Sabine schon immer so gewesen, sie war als Polizisten zur Welt gekommen. Sie stand neben dem Eingang, strategisch günstig, um sowohl den Innenbereich des Lokals als auch dessen Außenbereich inmitten der Bummelzone zu überblicken. Von dort bewegte sie sich auch nicht weg, als sie ihn sah, sie wartete, bis er zu ihr kam.

„Heinz, du schaust aus wie ein Asozialer“, begrüßte sie ihn mit der ihr eigenen Herzlichkeit und küsste ihn auf beide Wangen.

„Ich hab’ dich auch gern“, konterte er.

Ihr Gesicht wurde ernst. „Heinz, ich mache mir Sorgen um dich. Wir machen uns Sorgen um dich. Du schottest dich so ab ... wir wollen dir doch helfen.“

Heinz spürte seinen Fuß zucken, die körperliche Äußerung seines Wunsches, die Flucht zu ergreifen. Doch da musste er jetzt durch. „Ich weiß, Sabine, aber ihr könnt mir nicht helfen, bitte versteh das.“ Das stimmte nur zum Teil. Sie hätten ihm helfen können, wenn sie nur für ihn da gewesen wären, um ihm zuzuhören und ihn in die Arme zu schließen. Aber sie wollten ihm Entscheidungen abnehmen, Dinge für ihn tun, die er nicht wollte, von denen sie aber glaubten, sie seien gut für ihn. Sie wollten ihn bevormunden. Sie hatten keine Ahnung.

Sabine zischte und wandte sich kopfschüttelnd von ihm ab. „Und was dann?“, fragte sie schließlich, „als du mich vorhin angerufen hast, hast du gesagt, du brauchst meine Hilfe und jetzt doch wieder nicht?“

„Du weißt schon, wie ich das meine.“

Sie stellte sich vor ihn hin, starrte ihn fast bedrohlich an und rief: „Ja, Heinz, ich weiß genau, wie du das meinst, ganz genau! Der liebe Bruder braucht die Hilfe seiner großen Schwester – aber immer nur dann, wenn er sich seine Arbeit leichtmachen will.“

Unangenehm berührt blickte Heinz um sich und sah eine Menge Augenpaare auf sich gerichtet. Sabine schien das egal zu sein, sie starrte ihn unverändert an. Beides blockierte ihn, er schwieg. Nach Sekunden, die sich endlos anfühlten, gab Sabine ihren psychischen Belagerungszustand auf, drehte sich zur Seite und verschränkte die Arme. Heinz wollte etwas sagen, mehrmals, doch ihm fehlten die passenden Worte.

„Da drüben wird was frei“, sagte sie schließlich und setzte sich rasch in Bewegung, um vor den anderen Wartenden bei jenem Tisch im Außenbereich zu sein, von dem gerade ein junges Paar aufstand.

Kurz darauf saßen sie und Heinz in einem Quasi-Sitzgarten inmitten der Bummelzone. Es war genauso, wie Heinz es befürchtet hatte: ein kleiner Zwei-Sessel-Tisch mit gerade einmal einem halben Meter Abstand rechts und links zu den nächsten Gästen. Schlimmer noch, direkt hinter ihm gingen die Einkaufswilligen vorbei, immer wieder so nahe, dass ihre Kleidung Heinz’ Hinterkopf streifte. Er fühlte einen Stress, der den Keim einer Panik in sich trug.

Sabine sah mit zusammengezogenen Augenbrauen die Speisekarte durch, die in einem Bierdeckelhalter in Tischmitte geklemmt war.

Auch das hatte Heinz befürchtet, dass sie sauer werden und ihm die kalte Schulter zeigen würde.

„Was nimmst du?“, fragte sie betont kalt.

Er sah sie an. „Einmal ‚Heiße Liebe’ wäre schön.“

Es wirkte. Sabine blickte ihn überrascht an, hielt eine Sekunde lang inne und begann dann zu lachen, sichtlich wider Willen. „Du bist so ein ...!“

Die Kellnerin kam, räumte das gebrauchte Gedeck der letzten Gäste vom Tisch und säuberte diesen mit einem nassen Lappen. Sabine bestellte gespritzten Orangensaft, Heinz Mineralwasser.

Als sie wieder weg war, war Sabines Blick für Heinz schon um einiges freundlicher. „Also, kleiner Bruder, wo drückt der Schuh?“

Sie wusste, dass er es nicht mochte, wenn sie ihn so nannte, und er wusste, dass sie es genau deshalb tat. Er musste zum Punkt kommen, damit nicht wieder sein Zustand in den Mittelpunkt der Unterhaltung geriet. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte, ohne dass Sabine eine Mauer zwischen ihnen aufziehen würde.

Er fiel also mit der Tür ins Haus. „Landesrat Rudi Moritsch.“

Erwartungsgemäß verhärtete sich ihr Gesicht sofort. „Was hast du damit schon wieder zu tun?“

„Ich habe den Auftrag bekommen, seinen Mörder zu finden.“

Sabine überspielte ihre Überraschung sehr geschickt, niemand außer Heinz hätte das bemerkt. „Von wem?“ Sie war nun nicht mehr seine Schwester, sie verhörte ihn.

„Von jemandem, der kein Vertrauen in die Polizei hat.“

„Lass mich raten, die Frau Landesrätin a. D., seine Mutter.“

Heinz’ Hand imitierte eine Pistole, die auf Sabine abgefeuert wurde. „Ins Schwarze, Schwester.“

„Und ich soll dir jetzt helfen? Vielleicht soll ich, wenn wir den Mörder gefunden haben, noch ein bisschen warten, bevor wir damit an die Öffentlichkeit gehen? Damit du es ihr zuerst sagen kannst? Damit sich ihr Misstrauen gegenüber der Polizei bestätigt?“

Heinz seufzte. Ihm war klar, dass sein passives Auftreten der Grund dafür war, warum sie noch sarkastischer war als gewöhnlich. „Deine Hilfe wäre ganz anderer Art“, begann er. „Wie du weißt, bin ich finanziell ziemlich unter dem Hund, es dauert nicht mehr lange und ich werde meine Wohnung aufgeben müssen. Ich brauche diesen Auftrag, verstehst du?“

„Voll und ganz“, erwiderte Sabine heftig, „Mama und Papa haben dir mehrmals angeboten, dass du bei ihnen wohnen kannst, bis es dir besser geht, aber der Herr ist sich ja zu fein dafür.“

Heinz vergrub das Gesicht in seinen Händen. Da war er wieder, dieser panische Drang zu fliehen. „Bitte ... nein! Ich will in meiner Wohnung bleiben, okay?“

Sabine lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Du kannst tun, was immer du willst.“

„Ich brauche diesen Auftrag, und ich brauche deine Hilfe. Ohne dich schaffe ich es nicht.“

„Wie stellst du dir das vor?“ Sie wurde nun doch wieder laut. „Dass ich als Leiterin der Mordgruppe dir Informationen aus erster Hand liefere? Nur weil du mein armer, bemitleidenswerter Bruder bist?“

Wie sehr ihn das traf, musste Sabine sehen, als er sie ansah. Er erkannte in ihrem Blick, wie sie sich bewusst wurde, dass sie zu weit gegangen war. „Ich wäre dankbar, wenn wir bei der Sache bleiben könnten“, murmelte er.

Die Kellnerin brachte die Getränke und fragte nach ihren Essenswünschen. Sabine orderte einen Schinken-Käse-Toast, Heinz erkundigte sich, welche Suppen es gebe, und bestellte eine Frittatensuppe.

„Willst du nicht etwas Anständiges essen?“, fragte Sabine besorgt, als die Kellnerin gegangen war, „du fällst ja völlig vom Fleisch.“

Heinz blickte um sich, ihm war, als wären die Menschen um ihn herum viel zu groß und viel zu nahe. „Ich ... ich kann nichts essen, wenn so ein Trubel herrscht.“

In Sabines Blick wuchs die Besorgnis. „Na schön, ich soll dir helfen. Zurück zu meiner Frage: Wie stellst du dir das vor?“ Sie klang gesprächsbereit.

„Ich ... ich kann dir nur die Informationen anbieten, die ich herausfinden werde. Als privater Ermittler komme ich an andere Informationen als die Polizei. Wenn wir unsere Erkenntnisse zusammenwerfen, kommen wir schneller ans Ziel.“

Heinz konnte sehen, wie Sabines Kaumuskeln pulsierten. „Und dann?“, fragte sie, „geben wir es gemeinsam bekannt? Glaubst du, die alte Liese Moritsch wird dir auch nur einen Cent für deine Ermittlungsergebnisse bezahlen, wenn die ach so unfähige Polizei den Täter gleichzeitig geschnappt hat?“

Heinz spürte wieder dieses Abfließen seiner Kraft. Es war ein Gefühl, als müsste er in sich zusammensinken. „Ich weiß es ja auch nicht“, murmelte er, „ich versuche nur irgendwie, die Dinge auf die Reihe zu kriegen.“ Er atmete, nein, er schnaufte mehrere Male tief durch, bis sich das Schwindelgefühl ein wenig legte, dann fuhr er fort. „Ich kann dir nur meine Ermittlungsergebnisse anbieten, mehr nicht.“ Da sich sein Gesicht über die Tischplatte gesenkt hatte, konnte er Sabines Reaktion nicht sehen.

Erst nach einigen Sekunden hörte er sie seufzen. „Heinz, ich ... du bringst mich in eine unmögliche Lage.“ Sie schwieg wieder. Offensichtlich dachte sie nach, denn wieder einige Zeit später fuhr sie fort: „Wir machen es so: Als Gegenleistung für deine Erkenntnisse versorge ich dich mit Informationen, die du für den Fortschritt deiner Ermittlungen brauchst. Aber: Du sprichst jeden deiner Schritte mit mir ab, hast du verstanden? Ich will nicht, dass du mir oder meinen Kollegen ins Handwerk pfuschst und ich will nicht, dass du, solltest du zu Ergebnissen kommen, die aus ermittlungstaktischen Gründen noch unter Verschluss bleiben müssen, diese nach draußen trägst. Versprichst du mir das?“

Heinz sah auf und blickte in ein entschlossenes, aber freundliches Gesicht. Er nickte.

„Großes Indianer-Ehrenwort?“ Sabine schmunzelte.

Heinz legte zwei Schwurfinger in seine Herzgrube und führte sie dann nach oben. „Alles, was du willst. Danke.“

„Schön. Ach ja, und noch etwas. Lass diesmal nach Möglichkeit die Medien aus dem Spiel, hörst du? Ich habe nicht die geringste Lust, mich bei jeder Pressekonferenz mit dir vergleichen zu lassen und mich danach vor meinem Vorgesetzten rechtfertigen zu müssen.“

Heinz lächelte müde. „Du weißt genau, dass das nicht in meiner Macht liegt. Aber ich verspreche dir, dass ich mich nicht aktiv an die Presse wenden werde. Habe ich übrigens nie getan.“

„Ich wollte es nur gesagt haben. Also, was hast du schon herausgefunden?“

Heinz wusste, dass sie das nicht ernst meinte, also wiederholte er, was er in den Radionachrichten über den Mord gehört hatte.

Sabine lachte. „Ich sehe schon, die Kripo wird von deiner Hilfe echt profitieren. Hör zu. Ich komme gerade von der Obduktion, drüben, in der Bestattung Klagenfurt.“ Die Bestattung Klagenfurt befand sich gleich hinter den City Arkaden. Das erklärte, warum Sabine dieses Lokal als Treffpunkt vorgeschlagen hatte, obwohl sie eigentlich kleine, verschwiegene Lokale vorzog. „Die Untersuchung hat ergeben, dass unser Mordopfer mit einem breiten, harten Band erwürgt worden ist, vermutlich mit einem Gürtel. DNA-Spuren gibt es leider jede Menge, aber das war zu erwarten, immerhin war der sympathische Herr Landesrat gestern den ganzen Tag unterwegs und hat zigtausend Hände geschüttelt und einen oder zwei Schulterklopfer bekommen.“ Sie schmunzelte ironisch. „Auf diese Weise werden wir den Mörder also nicht ausfindig machen können.“

„Aber immerhin“, schaltete Heinz sich ein, „wenn ein Verdacht gegeben ist, lässt er sich damit bestätigen.“

„Ja, aber das wird teuer. Ein DNA-Test kostet um die dreihundert Euro. Multipliziere das mit zwanzig oder dreißig verwertbaren Spuren, dann weißt du, was ich meine.“

„Wer hat den Toten gefunden?“

„Ein junger Aussteller. Er sagt, er sei aufs Klo gegangen und habe einen Fuß durch den Spalt unter der Tür der hintersten Toilettenkabine herausragen sehen, wie von einem liegenden Mann. Er habe angenommen, der Mann sei kollabiert, und wollte ihm helfen. Die Kabinentür sei nicht verschlossen gewesen, er habe sie geöffnet und ... den Schock seines Lebens erlitten.“

„Und weiter?“

„Dann hat er sich die Seele aus dem Leib gekotzt und Hilfe geholt. Ein anwesender Arzt hat die Leiche untersucht und den Tod festgestellt. Dann hat er die Polizei gerufen.“

„Warum hat das nicht gleich jemand getan?“

Sabine seufzte. „Was weiß ich? Wahrscheinlich war es wichtiger, danebenzustehen und zu gaffen. Mich wundert eh, dass bis jetzt noch keine Fotos von der Leiche im Internet aufgetaucht sind.“

„Und die anderen Anwesenden? Gibt’s irgendwelche sachdienlichen Hinweise?“

„Du wirst lachen, die gibt es.“ Sabines Augen begannen zu leuchten. „Zuletzt gesehen worden ist der Landesrat von vier Betreuern eines Messestands von einem Bioenergie-Unternehmen.“

„Was, Bioenergie?“

„Ja, eines seiner Referate als Landesrat war die Wirtschaft, und in dem Bereich wollte er mit dem ‚Grün’-Thema punkten. Deshalb wollte er sich bei dem Go-Green-Schwerpunkt auf der Herbstmesse einklinken. Jedenfalls haben die Standbetreuer, die ihn zuletzt gesehen haben, erzählt, dass es zu einem Eklat gekommen sei zwischen dem Landesrat und einem der Messeleute.“

„Wegen was?“, fragte Heinz.

„Ich habe die Aussagen noch nicht gelesen, aber Gruppeninspektor Roth hat mir eine Zusammenfassung gegeben. Anscheinend haben der Landesrat und ein gewisser Fritz Teppan in der Vergangenheit irgendein Problem miteinander gehabt. Die Rede war von Körperverletzung, Roth ermittelt noch dahingehend. Jedenfalls ist Teppan an dem Stand vorbeigekommen, wo der Landesrat mit den vier Männer geredet hat. Der Landesrat hat ihn gefragt, ob es ihm auf der Messe gefalle, und Teppan hat geantwortet, er solle das Maul halten.“

Heinz verschluckte sich fast an seinem Mineralwasser.

Sabine fuhr fort. „Daraufhin ist der Streit eskaliert und Teppan wollte ihm anscheinend eine reinhauen, jedenfalls hat der Landesrat gedroht, er werde ihn anzeigen und dass das nicht einmal seine Frau mehr verhindern könne.“

„Seine Frau? Was hat die damit zu tun?“

„Der Landesrat hat es so dargestellt, dass Teppans Frau ihm sexuell gefällig war, damit er Teppan nicht anzeigt, wegen dieser Sache in der Vergangenheit.“

„Ist ja interessant“, entfuhr es Heinz, „und dann?“

„Dann ist Teppan wortlos gegangen, offenbar hat er kapiert, dass er den Kürzeren ziehen würde.“

„Wie ist denn Teppans Version?“

„Das weiß ich noch nicht. Zum Zeitpunkt unserer Ermittlungen gestern war er nicht mehr auf der Messe.“

„Das heißt, er kommt als Täter nicht infrage?“

„Nein, das heißt es nicht.“ Sabine seufzte. „Doktor Grabner, der Polizeiarzt, der den Landesrat obduziert hat, meint, von der Absenkung der Körpertemperatur her könnte der Tod bis zu vierzig Minuten vor seinem Eintreffen am Tatort eingetreten sein.“

„Was, vierzig Minuten?“

„Näher kann er es nicht bestimmen. Es war warm, und der Landesrat hat einen Anzug getragen. Wenn er zum Todeszeitpunkt geschwitzt hat, erhöht das die Ausgangstemperatur ...“ Sabine ließ den Satz unvollendet.

„Wann ist der Polizeiarzt denn am Tatort eingetroffen?“

„Um 19.10 Uhr.“

„Das heißt, der Mord hat frühestens um 18.30 Uhr stattgefunden?“

„Ja, ungefähr.“

Heinz dachte nach. „Das ist ein langer Zeitraum“, sagte er schließlich.

„Viel zu lange“, bestätigte seine Schwester. „Wir versuchen herauszufinden, wer in dieser Zeit alles die Messe verlassen hat, aber das ist, realistisch gesehen, ein unmögliches Unterfangen, immerhin haben wir die Messe erst um 19.20 Uhr vollständig abgeriegelt.“

„Hast du mit diesem Teppan telefoniert?“

„Sein Telefon ist abgeschaltet. Aber seine Frau habe ich erreicht, und die hat gesagt, er schlafe noch seinen Rausch aus.“

„Interessant“, meinte Heinz erneut. „Was ist das eigentlich für einer? Du hast gesagt, er arbeitet für die Messe?“

„Nicht direkt, er ist bei der Grafikagentur angestellt, die ihre Geschäftsstelle auf der Messe hat. Die fertigen Werbematerialien, Aufschriften, Banner und so weiter an, die für die Messen gebraucht werden. Deshalb war er gestern Abend wohl auch auf dem Gelände unterwegs. Die vier Aussteller, die mit dem Landesrat geredet haben, haben ausgesagt, er habe einen Packen Schilder unter dem Arm gehabt.“

„Und Landesrat Moritsch“, fragte Heinz nun, „wann hat der die vier verlassen?“

„Bald nach diesem Eklat. Er hat gesagt, er müsse weiter.“

„Schade.“

Sabine sah ihn irritiert an. „Was meinst du?“

„Wenn er gesagt hätte: ‚Ich muss aufs Klo’, hätten wir den genauen Todeszeitpunkt gewusst.“

Heinz’ Schwester schüttelte den Kopf. „Nicht einmal dann. Von den vier hat kein einziger auf die Uhr geschaut, als der Landesrat gegangen ist.“

„Haben sie nicht gleich versucht, die Uhrzeit zu rekonstruieren?“

„Nein, weil zu dem Zeitpunkt, als die Nachricht vom Toten im Klo die Runde gemacht hat, noch niemand gewusst hat, wer der Tote eigentlich ist, und von Mord war sowieso nicht die Rede. Und danach ist alles drunter und drüber gegangen.“

„Immerhin“, meinte Heinz dumpf, „dieser Teppan scheint mir eine heiße Spur zu sein. Befragst du ihn heute noch?“

„Davon kannst du ausgehen. Ich habe mich seiner Frau schon angekündigt.“

Das Essen wurde serviert. Während Heinz seine Suppe löffelte, erzählte er Sabine von seinem bevorstehenden Termin in Landesrat Moritschs Büro. Sie reagierte zunächst verhalten, begrüßte sein Vorhaben dann aber doch. Dieser Besuch stehe bei ihr für den nächsten Morgen auf dem Plan, sagte sie, da könne es von Vorteil sein, wenn Heinz sie schon heute mit etwas Vorwissen versorge.

Donnerstag, 13.30 Uhr

Als Heinz nachhause kam und die Tür hinter sich schloss, atmete er einmal tief durch. Am liebsten hätte er jetzt sein Schlafzimmer abgedunkelt, das Nachtlicht eingeschaltet und sich unter der Bettdecke verkrochen, doch das ging nicht. Er musste alle Informationen aufschreiben, solange sie ihm in Erinnerung waren. Dann, so versprach er sich selbst, würde er ein wenig schlafen, ehe er zu dem Termin in der Landesregierung ging.

Die Niederschrift gestaltete sich als schier unmöglich, weil er es nicht schaffte, Ordnung in seinen Kopf zu bekommen. Wann immer er an einem Thema dran war, lenkten ihn zig andere Details ab. So beschloss er, einfach alles zu notieren, was ihm in den Sinn kam, und dieses Durcheinander zu einem späteren Zeitpunkt zu ordnen. Doch auch das wollte ihm nicht gelingen, weil bei jedem Gedankenfetzen Fragen auf ihn einstürmten, die ihn so sehr beschäftigten, dass er schnell nicht mehr wusste, was ihr Ausgangspunkt gewesen war.

Irgendwann stellte er fest, dass er dasaß und an die Wand starrte. Wie lange, das konnte er nicht sagen, mindestens jedoch zehn Minuten, weil sich der Bildschirm seines Laptops deaktiviert hatte – und das tat er nach dieser Zeitspanne.

Heinz war verzweifelt. Dieses Phänomen war ihm nicht neu, ebenso wie jenes, dass er Informationen, Erlebnisse, ja teilweise sogar die Erinnerung an mehrere Stunden aus dem Gedächtnis verlor. Dabei war es nicht so, dass er sich mit dem richtigen Auslöser wieder daran erinnerte, sondern das Erlebte war schlicht und ergreifend gelöscht. Das war ihm das erste Mal aufgefallen, als er Bilder auf seinem Handy entdeckte, die er etwa zwanzig Minuten davor fotografiert haben musste, sich aber nicht daran erinnerte, dies getan zu haben. Die Vorstellung, dass es auf diese Weise Teile seines Lebens gab, von denen er nichts mehr wusste, war ihm unheimlich, ebenso wie das Unwissen darüber, wie oft ihm das passierte.

Er schüttelte den Kopf und bewegte die Maus, um den Bildschirm zu reaktivieren. Er musste etwas tun, musste sich ablenken und vor allem: Er musste diesen Fall lösen, egal, wie qualvoll das auch für ihn war.

Als Erstes gab er Landesrat Moritschs Namen in die Suchmaschine ein. Als er über den offiziellen Eintrag des Landes Kärnten stolperte, erinnerte er sich daran, dass er ja noch nachsehen wollte, wo genau sich das Büro des Ermordeten befand, damit er es später problemlos finden würde. Er klickte also den Treffer an und stutzte. Als Büroleiterin war hier eine Mag.a Waltraud Mühlwirth eingetragen. Konnte das stimmen? Er erinnerte sich, dass ihm der Rechtsanwalt ihren Namen gesagt hatte, glaubte aber nicht, dass es dieser gewesen war. Er stand auf und holte die Visitenkarte, auf deren Rückseite er den Namen notiert hatte und staunte nicht schlecht, als er hier nur die Notiz 17 h fand. Er schüttelte den Kopf, dann zuckte er mit den Schultern. Das mochte schon alles so stimmen, momentan vertraute er allem mehr als seinem Gedächtnis.

Mit einem Notizblock bewaffnet setzte er sich wieder an den Laptop und schrieb alle für den Termin relevanten Daten auf. Er riss den Zettel ab und steckte ihn in seine Brieftasche, hier würde er ihn finden. Dann wandte er sich den anderen Suchmaschinen-Treffern zu.

In der nun folgenden Stunde klickte sich Heinz mehr müßig als interessiert durch allerlei Pressemeldungen. Der Landesrat bei der Eröffnung der Ausstellung sowieso, der Landesrat beim Ball der Vereinigung sowieso, überall gab es Bilder über den feschen, jungen Kerl, es hatte den Anschein, als wäre er ein beliebter Mann. Einzig das Profil auf einer Social-Media-Plattform wurde von wütenden Kritikern gestürmt, die in teilweise erschreckend niveauloser Untergriffigkeit über den Politiker herzogen. Dabei ging es entweder um seine politischen Entscheidungen, oder darum, dass er sich entwaffnend arrogant benommen hätte, als der jeweilige Kritiker oder die jeweilige Kritikerin ihn persönlich bei irgendeinem Anlass angetroffen hatte.

Richtig interessant fand Heinz hingegen eine Reihe von Presseartikeln, die über die vergangenen Wochen und Monate hinweg erschienen waren und allesamt dasselbe Thema behandelten, nämlich den Verkauf mehrerer Grundstücke des Landes Kärnten an eine Immobilien-Investment-Gruppe namens Immosorg. Heinz glaubte, den Namen schon einmal gehört zu haben. Offenbar war Landesrat Moritsch hier federführend gewesen, gemeinsam mit Ines Malle, der Geschäftsführerin von Immosorg.

Heinz notierte sich diese Namen, ehe er weiterrecherchierte.

Natürlich gab es jede Menge Kritik an diesem „Ausverkauf des Familiensilbers“, wie es blumig hieß, doch die Argumentation von Moritsch und Malle schien die wesentlichen Stellen in der Landesregierung zu überzeugen. Immosorg verpflichtete sich nämlich, Wirtschaftsbetriebe auf den gekauften Liegenschaften anzusiedeln und damit eine vertraglich fixierte Anzahl von Arbeitsplätzen zu schaffen. Damit tauschte der Landesrat Landeseigentum gegen Arbeitsplätze, wie er es nannte – und der Verkaufserlös schönte das Landesbudget.

Das alleine hätte Heinz in die Kategorie „Politisches Hickhack“ eingeordnet, wäre da nicht ein paar Wochen zuvor über einen Fall berichtet worden, der ihn stutzig machte. Konkret ging es um ein Seegrundstück am Wörthersee, für das sich Immosorg interessierte, das aber der katholischen Kirche gehörte. Nach anfänglicher Weigerung willigte die Kirche in den Verkauf ein, weil Landesrat Moritsch als Vermittler auftrat. Die anderthalb Hektar wechselten daraufhin für eine Summe von dreiundachtzig Komma fünf Millionen Euro den Besitzer, und Ines Malle ließ verlauten, die Immosorg werde dafür sorgen, dass auf dem Grundstück ein Altenpflegeheim für höchste Ansprüche errichtet werde, eine entsprechende Ausschreibung unter Pflegeheimbetreibern laufe bereits.

Altenpflegeheim – das erinnerte Heinz drückend an den Vormittag, an den Rechtsanwalt, dem er sich beweisen musste, und damit an seinen Auftrag. Er notierte die Eckdaten, damit er nichts vergaß, dann versuchte er nachzudenken. Das seltsame Gefühl, das ihn beim Lesen der Artikel beschlichen hatte, verstärkte sich beim Durchsehen seiner Notizen immer mehr.

Warum sollte Landesrat Moritsch zwischen der katholischen Kirche und einem privaten Immobilien-Investor vermitteln? Vermutlich hatte er dafür eine fette Provision kassiert, alles andere ergab für Heinz keinen Sinn. Gegenüber den Medien hatte der Landesrat zwar argumentiert, das Projekt ergänze seine Arbeitsplatz-Offensive, doch das wäre für die Kirche als Eigentümerin kein Grund gewesen, einzulenken. Und das war der nächste Punkt, den Heinz nicht verstand: Warum änderte die Kirche ihren Standpunkt aufgrund der Einmischung des Landesrates?

Heinz überlegte weiter. Das Einzige, was er sich vorstellen konnte, war, dass der Verkauf finanziell besonders attraktiv gewesen war. Möglicherweise hatte also nicht die Kirche eingelenkt, sondern die Immosorg auf Moritschs Betreiben hin den Kaufpreis erhöht. Heinz suchte im Internet nach Immobilienmaklern, die mit Grundstücken am Wörthersee handelten.

Wenige Minuten später starrte er entgeistert abwechselnd auf den Bildschirm und auf seine Notizen und verstand die Welt nicht mehr. Er rechnete noch einmal nach, da er glaubte, wegen seiner mangelhaften Konzentration einen Fehler gemacht zu haben, doch es stimmte alles. Keines der Seegrundstücke, die die Makler im Angebot hatten, war günstiger zu haben als zu einem Quadratmeterpreis von fünftausendsechshundert Euro! Anderthalb Hektar, das waren fünfzehntausend Quadratmeter, multiplizierte er diese mit fünftausendsechshundert Euro, kam er auf einen Gesamtpreis von vierundachtzig Millionen Euro – und das war die Preisuntergrenze! Warum willigte die katholische Kirche nach anfänglicher Weigerung in einen Verkauf ein, der eine halbe Million unter Wert lag?

Die einzig logische Schlussfolgerung, auf die Heinz kam, war, dass Landesrat Moritsch der katholischen Kirche irgendein „Zuckerl“ angeboten hatte, ein Gegengeschäft, das den Grundstücksdeal attraktiv gemacht hatte. Das musste allerdings ein Zuckerl im Wert von zumindest fünfhunderttausend Euro gewesen sein – und das warf wiederum die Frage auf, welchen Nutzen das Land Kärnten davon hatte.


Kärntner Totenmesse

Подняться наверх