Читать книгу Wien 2078: Manche träumen vom Weltende Dorner und Vance - Vienna Cops - Roland Heller - Страница 7
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ОглавлениеDer Schrei kam aus dem zweiten Stockwerk. Er war ein Signal tödlicher Angst. Manche hörten ihn, aber niemand reagierte darauf. Der Mensch, der den Schrei ausstieß, starb ohne jede Vorwarnung.
Der Mörder blickte zum Fenster.
Es stand offen.
Das war der Weg, durch den er gekommen war.
Stirnrunzelnd wischte er das kurze blutige Messer ab. Er war nicht mit sich zufrieden. Bestimmt war der laute Schrei gehört worden. Noch jetzt schien sein Nachhall im Raum zu schweben, ein Echo des Entsetzens. Der Mörder rieb das Messer mit einem Lappen trocken. Er arbeitete ohne Hast und widerstand dabei der Versuchung, an das offene Fenster zu treten und auf die Straße zu sehen. Zum Teufel damit! Das Haus hatte zwölf Stockwerke und mehr als einhundert Fenster. Falls jemand den Schrei gehört haben sollte, konnte der Betreffende sich jetzt den Kopf darüber zerbrechen, wer ihn wohl ausgestoßen haben mochte und woher er gekommen war.
Der Mörder überzeugte sich davon, dass das Messer und seine Hände frei von Blut waren, dann bückte er sich und krempelte sein linkes Hosenbein hoch. Unterhalb seines Knies war eine Lederscheide an zwei Riemen befestigt. Der Mörder schob das Messer in die Hülle und streifte das Hosenbein wieder herab.
Sein Opfer lag mit dem Gesicht zum Boden, Jacke und Hosenbeine waren dem Toten beim Hinfallen hochgerutscht. Zwischen dem Jackenende und dem teuren Krokodilledergürtel am Hosenbund wölbte sich etwa handbreit das hellblaue Oberhemd. Der Tote trug purpurrote Seidensocken und schwarze Halbschuhe.
Der Mörder bewegte unablässig seine Hände. Er konnte einfach nicht damit aufhören, sie mit dem mehrmals gewendeten Lappen abzureiben.
Nur immer mit der Ruhe, sagte er sich. Du hast viel Zeit, Daniel. Niemand weiß, dass der alte Knabe in diesem Apartment unter einem falschen Namen lebte. Er hatte keine Familie, und es war nahezu ausgeschlossen, dass ihm hier seine Freunde oder Kameraden in die Arme liefen.
Der Mörder schaute sich in dem großen Wohnzimmer um. Die Einrichtung musste ein Vermögen wert sein! Das dämmrige Licht, das den Raum kaum ausleuchtete, kam von den grellen Neonreklamen, die an den Außenwänden der Nachbarhäuser prangten.
Mehr Licht hatte er nicht gebraucht. Sein Auftrag war klar. Er hatte zweitausend Einheiten Anzahlung bekommen, um den Alten zu töten. Weitere zweitausend erhielt er nur dann, wenn er nichts in der Wohnung anrührte. Das hatte sein Auftraggeber zur Bedingung gemacht.
Der Mörder atmete rascher. Er hatte nicht vor, die zweitausend Einheiten aufs Spiel zu setzen, aber wer sagte ihm denn, dass sich in dieser Wohnung nicht Werte befanden, die das Mehrfache dieser Summe betrugen? Der Mörder schätzte das Alter des Toten auf etwa sechzig Jahre. Leute in diesem Lebensabschnitt hatten zuweilen spleenige Angewohnheiten. Sie misstrauen den Banken und zogen es oft vor, ihr Wertsachen zu Hause zu horten.
Die Versuchung war einfach zu groß. Der Mörder konnte ihr nicht widerstehen. Er hatte schließlich Zeit. Der Tote störte ihn nicht — und hier befand er sich in der großen Wohnung eines Mannes, der zweifellos sehr reich und prominent gewesen war.
Eine kurze gründliche Suche ließ sich schon vertreten. Der Auftraggeber brauchte ja nichts davon zu erfahren. Vielleicht fand sich eine Kleinigkeit, die des Mitnehmens wert war.
Plötzlich zuckte der Mörder zusammen. Er hatte ein Geräusch gehört, ein sehr leises Geräusch, das Schnappen eines Türschlosses. Jemand hatte die Wohnung betreten. Der Mörder spannte seine Muskeln. Er drehte sich langsam um und starrte zur Tür.
Sie stand halb offen. In der Diele brannte kein Licht. Durch die Dunkelheit, die in dem großen, quadratischen Raum herrschte, schimmerten nur die Lichtreflexe der Neonreklamen von außen, die sich auf einigen Messinggarderobenhaken gefangen hatten.
Der Mörder atmete durch den offenen Mund, um sich nicht zu verraten und um besser hören zu können. Als ihm klar wurde, dass er den blutbefleckten Lappen noch in den Händen hielt, stopfte er ihn rasch hinter ein Sofakissen.
Im nächsten Moment sah er die Frau.
Sie tauchte wie ein Schemen aus der Dunkelheit der Diele auf und blieb im Türrahmen stehen. Sie machte kein Licht. Offensichtlich genügte auch ihr der Schein, der von draußen hereindrang.
Die beiden Menschen starrten sich an. Der Mörder fing sich zuerst. Mit einer Frau wurde er fertig. Das war kein Problem. Trotzdem spürte er das Hämmern seines Herzens hoch oben im Halse. Er konnte nicht sagen, ob das an seinem Erschrecken lag oder an der strahlenden Schönheit der Erscheinung, die er trotz der Dunkelheit erkannte. Wahrscheinlich spielte beides eine Rolle.
Die Frau war nicht viel älter als zwanzig Jahre. Sie trug ein Stadtkostüm. Unter dem Minirock zeigten sich lange, schlanke Beine von klassischer Linie. Das Haar war von jenem schimmernden Schwarz, dessen Schattierungen und Glanz in jedem Licht wechseln. Die großen graugrünen Augen waren schreckensstarr. Der Mörder erwartete, dass die Frau einen Entsetzensschrei ausstoßen würde, aber nichts dergleichen geschah.
Die Frau starrte ihn nur an, sekundenlang. Dann wurde der Blick der Frau von dem Toten angezogen. Es schien so, als überliefe den schlanken Körper ein flüchtiges Zittern, dann hatte sich die Frau wieder in der Gewalt.
„Wer sind Sie?“, fragte sie den Mörder. Ihre Stimme zitterte ein wenig, klang ansonsten aber sicher.
Er schluckte. Er fühlte sich plötzlich in die Verteidigung gedrängt. Schnelles Denken war nicht seine Sache. Er musste die Frau aus dem Wege räumen. Sie würde eine perfekte Beschreibung von ihm liefern können, und das durfte nicht sein.
„Moment mal“, würgte er hervor. „Ich bin es, der hier die Fragen stellt. Wie kommen Sie in diese Wohnung?“
Es war eine dumme Frage, denn die Frau hielt den Türschlüssel noch in der Hand. Unter ihrem linken Arm klemmte eine reichlich mitgenommen aussehende Lederhandtasche. Trotzdem sah das Mädchen nicht so aus, als könnte es sich keine neue leisten. Das Kostüm kam nicht von der Stange, und die Stiefel, die das Mädchen trug, stammten sicherlich aus einem exklusiven Laden. Überhaupt verrieten Haltung, Aussehen und Make-up des Mädchens jenes gewisse Etwas, das man nur in gehobenen Gesellschaftsschichten findet.
„Ich bin Jennifer Kröber«, sagte das Mädchen.
„Und ich bin — nun, ich kann Ihnen meinen Namen nicht nennen“, sagte er unwirsch. „Ich möchte nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht werden. Ich habe nichts damit zu tun.“
„Ist die Polizei schon benachrichtigt?“
„Ja“, behauptete er. „Ich warte auf sie.“
„Kannten Sie meinen Vater?“, fragte Jennifer Kröber.
Der Mörder schluckte. Seine Augen weiteten sich. Sein Auftraggeber hatte ihm doch erklärt, dass der Alte keine Familie hatte!
Oder arbeitete das Mädchen für diesen Auftraggeber? War sie nur hergeschickt worden, um zu verhindern, dass er die Wohnung auseinandernahm?
Nein, das war Unsinn. Diese Frau machte nicht den Eindruck, als ob sie es nötig hätte, mit der Unterwelt zu paktieren. Andererseits erlebte man in dieser Hinsicht oft die merkwürdigsten Überraschungen. Die feinsten Leute hörten auf, fein zu sein, wenn es zum Beispiel in Erbschaftsfragen um ein paar Millionen ging.
„Jennifer Kröber“, sagte er. „Jetzt verstehe ich. Ihre Mutter hat zum zweiten Mal geheiratet, und Sie leben jetzt mit Ihrem Stiefvater zusammen.“
Die Frau schüttelte nur verwirrt den Kopf. Das, was ihr Gegenüber da zusammenbrabbelte, ergab keinen Sinn. „Sie haben mir Ihren Namen noch nicht genannt“, sagte das Mädchen, ohne seine Frage zu beantworten.
„Ich bin Daniel Dill«, sagte er.
Der Vorname stimmte, den Nachnamen hatte er sich von seinem Hauswirt entliehen. Etwas Besseres fiel ihm in der Eile nicht ein. Er war wütend auf sich. Es war sonst nicht seine Art, sich von Frauen aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen, aber dieses Mädel war schöner als alle anderen, und außerdem hatte es ihn in einer Situation erwischt, die keine Zeugen erlaubte.
„Was tun Sie in dieser Wohnung?“, wollte das Mädchen wissen. Es ließ seinen Blick nicht los.
Er wich ihm aus und befeuchtete seine Lippen mit der Zungenspitze. Warum ließ er sich auf dieses idiotische Frage- und Antwortspiel ein? Das Mädchen musste sterben, daran gab es keinem Zweifel. Er konnte es nicht riskieren, durch sie identifiziert zu werden.
Das Dumme war nur, dass er für diesen zweiten Mord keinen Cent bekommen würde. Außerdem wusste er nicht, wie sein Auftraggeber darauf reagieren würde.
Der Mörder begann zu schwitzen. Alles hatte sich so wunderbar angelassen, und nun musste er plötzlich mit dieser unerwarteten Komplikation fertig werden.
„Er war also Ihr Vater“, murmelte er, um Zeit zu gewinnen. „Tut mir leid, dass Sie das erleben müssen...“
„Ich habe ihn kaum gekannt.“
„Es macht trotzdem keinen Spaß, über einen Toten zu stolpern“, meinte der Mörder.
„Bitte, weichen Sie mir nicht aus“, sagte das Mädchen. „Was tun Sie in dieser Wohnung?“
„Ich — ich bin herbestellt worden“, antwortete er.
„Von General Hager?“
Er starrte sie an. „Von wem?“
„Von meinem Vater!“, meinte das Mädchen ungeduldig. “Sie wissen doch, dass er General war, nicht wahr?“
Er hatte es nicht gewusst. Sein Auftraggeber hatte ihm nur mitgeteilt, dass der Alte unter dem angenommenen Namen Ramsauer in dieser Wohnung lebte.
„Das muss ein Irrtum sein“, sagte er. „Vielleicht habe ich mich in der Etage geirrt. Ich sollte zu einem Herr Ramsauer kommen. Die Tür war offen, und ich kam einfach herein. Sie werden sich denken können, dass ich fast aus den Socken kippte, als der Tote im Zimmer lag...“
„Ramsauer ist schon richtig“, sagte die junge Frau. „Mein Vater benutzte diesen Namen, um ungestört ausspannen zu können, wann immer er das für notwendig hielt. Die Leute im Haus sollten außerdem nicht erfahren, mit wem sie zusammenlebten.“
„War er denn so ein hohes Tier?“, fragte der Mörder irritiert.
„Mein Vater leitete die gesamte Raketenabwehr der Westküste“, sagte das Mädchen. „Er war der Mann am roten Telefon. Seine Entscheidungen hatten genügend Gewicht, um das Land vor einer Katastrophe zu bewahren, oder, falls er versagte, es von einem Angreifer vernichten zu lassen.“
Der Mörder ballte seine Fäuste. Er hatte Mühe, seine Erregung zu meistern. Ramsauer war also General gewesen, ein Mann von internationalem Rang.
Und ich Idiot habe den General für lumpige viertausend Dollar aus dem Wege geräumt, dachte der Mörder. Für ein lausiges Trinkgeld!
Der Mörder fühlte sich übers Ohr gehauen. Ein Menschenleben war nur vor dem Gesetz gleich. An der Killerbörse wurde es mit unterschiedlichem Preis gehandelt. Ein General dieser Bedeutung war vielleicht einen Hunderttausender wert, vielleicht sogar eine Million. Er hatte sicherlich nach wie vor Einfluss besessen. In seinem Rang ging man außerdem nicht so einfach in Pension.
Im Magen des Mörders bildete sich ein harter, schmerzhafter Knoten. Fast noch schlimmer als das Gefühl, von seinem Auftraggeber aufs Kreuz gelegt worden zu sein, war das Wissen, dass die Polizei und die Armee jetzt Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um herauszubekommen, wer diesen General getötet hatte.
Der Mörder fühlte sich in die Enge getrieben. Er starrte das Mädchen an. Die Frau erwiderte seinen Blick. Ahnte sie, dass er es anschwindelte? Es schien fast so, als nutzte sie jede Sekunde, um sich seine Züge einzuprägen.
Schütteres, gewelltes Haar, leicht vorquellende Augen von babyblauer Farbe, etwas pickeliges Kinn...
Er glaubte in seiner Vorstellung zu hören, wie das Mädchen der Polizei seine Beschreibung lieferte, kühl und präzise, mit allen Details. Ja, sie musste sterben! Aber warum dachte er lediglich daran? Es war besser, sofort zu handeln.
Das Mädchen gab sich einen Ruck und ging an ihm vorbei. Er folgte ihm mit den Blicken. Das Mädchen trat hinter den Schreibtisch und musterte die Telefonanlage. „Wann haben Sie die Polizei verständigt?“, fragte sie ihn.
„Vor zehn Minuten“, behauptete er.
„Von diesem Apparat aus?“
„Klar“, meinte er. „Warum fragen Sie das?“
Jennifer Kröber lächelte undefinierbar. Das Lächeln warf ihn fast um. Er hatte nicht damit gerechnet. Wenn es stimmte, was die junge Dame ihm erzählt hatte, dann war der Tote ihr Vater. Er lag nur ein paar Schritte von ihr entfernt, ermordet. Trotzdem lächelte sie ihm in die Augen, kühl und spöttisch, beinahe herausfordernd.
„Von diesem Apparat wurde nicht telefoniert“, sagte sie. „Er ist noch umgestellt, auf das Schlafzimmer.“
„Wahrscheinlich habe ich versehentlich einen Hebel berührt“, meinte er rasch. „Ich war verdammt aufgeregt.“
„Das Gerät verfügt nur über Tasten und die haben eine Sperre, man kann sie nicht durch eine ungewollte Bewegung umgehen“, erklärte die Frau und öffnete die Schreibtischschublade.
Jennifer Kröber entnahm der Schublade eine Pistole. Die Waffe wirkte durch den aufgesetzten Schalldämpfer groß, klobig und drohend. In der schmalen, feingliedrigen Mädchenhand nahm sie sich wie ein Fremdkörper aus.
„Sie waren gar nicht ungeschickt“, spottete das Mädchen. „Es hat mir Spaß gemacht, zu beobachten, wie Sie sich aus der Klemme zu ziehen versuchten. Ich nehme an, Sie haben das Blutgeld bei sich, Masters?“
Sein Mund wurde trocken. Das Mädchen kannte ihn. Es hatte gewusst, dass er in der Wohnung war!
Verdammt. Welches Spiel wurde hier mit ihm gespielt?
„Legen Sie die Kanone aus der Hand“, stieß er hervor. Seine Stimme klang heiser.
Dabei wusste er, dass das Mädchen seine Aufforderung nicht befolgen würde. Er wusste jetzt auch, warum sein Auftraggeber darauf bestanden hatte, dass der Alte nicht erschossen, sondern mit einem Messer erstochen werden sollte. Ihm, Daniel Masters, war das egal gewesen. Wer zahlte, durfte bestimmen, was zu tun war.
Sein Auftraggeber hatte richtig spekuliert, als er vorausgesetzt hatte, dass er, Daniel, ohne Schusswaffe in die Wohnung des Opfers gehen würde.
Masters fühlte ohnmächtigen Zorn in sich aufsteigen. Er konnte sich vielleicht blitzschnell bücken und das Messer aus der Lederhalfter reißen, aber angesichts der drohend auf ihn gerichteten Pistole versprach eine solche Aktion nicht den geringsten Erfolg.
„Was haben Sie vor?“, fragte er heiser.
Das Mädchen lächelte noch immer.
Masters erinnerte sich nicht, jemals zuvor in seinem Leben graugrüne Augen von so viel Härte gesehen zu haben. Er wusste plötzlich, dass er in eine Falle gelaufen war und keine Chance hatte, ihr zu entrinnen.
Er begriff nur nicht, was diese Falle sollte und was die Leute, die sie ihm gestellt hatten, sich davon versprachen.
„Sie schulden mir noch die Antwort auf meine Frage nach dem Geld“, sagte das Mädchen.
Natürlich hatte er die zweitausend Einheiten noch nicht auf sein Konto gelegt. Genaugenommen waren es nur noch achtzehnhundert. Er hatte bei seinem Buchmacher noch vor dem Mord eine Wette platziert. Er trug die Bankanweisung noch bei sich. In seinem Zimmer konnte er sie ja schlecht herumliegen lassen. Seiner neugierigen Wirtin entging kein Versteck.
Plötzlich riss bei ihm der Faden. Er war immerhin Daniel Masters, ein Mann, den man in gewissen Kreisen dieser Stadt respektierte! Er hatte nicht vor, sich von diesem Mädchen und ihren Hintermännern herumschubsen zu lassen!
Er stieß sich mit beiden Füßen ab und schnellte nach vorn, auf das Mädchen zu. Mit einem dumpfen doppelten „Plopp“ zuckten zwei grelle Feuerblitze aus dem lötkolbenähnlichen Geräuschdämpferaufsatz.
Masters schien es so, als stoppte ihn eine unsichtbare Riesenfaust mitten im Sprung. Er landete auf beiden Füßen und hatte plötzlich Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Er wartete auf den Schmerz, aber der blieb aus.
Dafür überkam ihn eine seltsame Schwäche. Er griff mit beiden Händen in die Luft, ohne einen Halt zu finden.
Dann brach er zusammen. Die Welt hörte für ihn auf, konkret fassbar zu sein. Sie bestand nicht mehr aus einem toten General und seiner Tochter, aus einer eleganten Stadtwohnung und einem unbekannten Fallensteller, sie war nur noch ein rosarotes Wogen, das sich immer mehr verdichtete und dann in plötzliche Dunkelheit abglitt.
Masters wälzte sich auf den Rücken, ohne sich dessen bewusst zu werden. Sein Kopf rollte zur Seite. Er starb nur drei Schritte von seinem Opfer entfernt.
*
Jennifer Kröber legte den Kopf zur Seite und lauschte. Durch das offene Fenster drängte sich die Geräuschkulisse der großen Stadt in das Zimmer, aber der einzige Laut, vor dem sie in dieser Minute Angst hatte, blieb aus. Keine Polizeisirenen erhoben sich über den monotonen Lärm. In gewisser Weise blieb alles ruhig.
Die Frau legte die Pistole auf den Schreibtisch und beugte sich dann über Masters. Mit verzogenem, halb abgewandtem Gesicht klopfte sie den Toten ab. Sie fand die Anweisung über achtzehnhundert Einheiten in der linken Gesäßtasche. Der Bankschein befand sich in einem braunen Umschlag.
Jennifer Kröber stopfte den Umschlag in ihre braune Handtasche, dann überprüfte sie den Inhalt von Masters Brieftasche. Außer dem Führerschein, einer Wettquittung mit unleserlichem Namen und einer abgegriffenen Jahreskalenderkarte aus Plastik waren nur die üblichen Zahlkarten darin.
Jennifer Kröber, die dünne helle Baumwollhandschuhe trug, schob die Brieftasche in das Jackett des Toten zurück. Mit dem gleichen angewiderten Gesichtsausdruck ließ sie dann ihre Finger über die Beine des Toten gleiten.
Ihre Hand stoppte, als sie die Konturen des Messers fühlte. Jennifer Kröber zog das Hosenbein hoch und löste das lederne Gestell. Mit leichter Sorge betrachtete sie die tiefen Kerben, die die festgezogenen Riemen auf der Haut des Toten hinterlassen hatten.
Egal, bis die Polizei Masters finden würde, war von diesen Spuren nichts mehr zu sehen.
Jennifer Kröber richtete sich auf. Irgendetwas war noch zu tun. Ihr dämmerte, dass sie etwas übersehen hatte. Im nächsten Moment fiel es ihr ein. Sie zog nochmals Masters Brieftasche hervor und entnahm ihr eine Wettquittung über zweihundert Einheiten. Sie zerriss das Papier und warf die Schnitzel in den Papierkorb unter dem Schreibtisch. Dann wandte sie sich dem toten General zu.
Sie ließ sich neben ihm auf die Knie nieder und tastete seinen Krokodilledergürtel ab. Sie löste die Schnalle und zog den Gürtel aus den Hosenschlaufen. Den Gürtel rollte sie zusammen und stopfte ihn in ihre Handtasche. Als sie sich erhob, legte sie die Stirn in Falten. Die leeren Hosenschlaufen störten sie. Der General sah jetzt seltsam unangezogen aus.
Jennifer Kröber entdeckte, dass auch Masters einen Gürtel trug, einen schlichten schmalen Gurt aus schwarzem Material mit goldfarbiger Schnalle. Kurz entschlossen nahm das Mädchen Masters den Gürtel ab und legte ihn dem toten General an.
Dann riss sie einige Schubladen aus dem Schreibtisch und einer Kommode und entleerte ihren Inhalt auf dem Fußboden. Danach herrschte in dem Zimmer ein ziemliches Durcheinander. Jennifer Kröber trat an das Telefon und wählte eine Nummer, die sie im Kopf hatte. „Hallo?“, sagte sie halblaut, als der Teilnehmer sich meldete. „Es ist alles okay. Ihr könnt ihn abholen.“