Читать книгу Gestatten, mein Name ist Cox - Rolf A. Becker - Страница 5

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I.

MRS. CHATAWAY HAT EINE ÜBERRASCHUNG

Es klopfte.

Zum Kuckuck, dachte ich, wer kann das sein? Es klopfte wieder. Diesmal etwas lauter und heftiger.

Ich hütete mich, die Tür aufzumachen, denn erstens hatte ich wirklich keine Veranlassung dazu, und zweitens-ja, zweitens werden Sie gleich merken, warum.

Auch das dritte Klopfen blieb unbeantwortet. Ich hielt den Atem an. Ich wusste, die Tür war nicht abgeschlossen; der Besucher - wer immer es war - konnte ungehindert eintreten.

Und tatsächlich, es dauerte nur wenige Augenblicke, und die Tür öffnete sich.

Mit melodiösem, asthmatischem Keuchen watschelte Mrs. Chataway ins Zimmer, eine schmutzige Schürze um den fettgepolsterten Leib, ein Kopftuch um die strähnigen Haare, einen Brief in der Hand. Zögernd trat sie näher, blickte um sich - und dann sah sie ihn! Auf dem Schreibtisch ...

Mrs. Chataway vermietete seit dem Tod ihres Mannes die obere Etage des Hauses. Da hatte sie mit der Zeit allerhand gesehen, allerhand erlebt, allerhand durchgemacht. Mieter waren gekommen, gegangen, hatten sich anständig benommen und weniger anständig. Mrs. Chataway hatte das wenig gekümmert. Solange sie ihre Miete pünktlich bekam, waren ihr alle Mieter recht. Sie hatte sich ein Leben lang abgerackert und dabei die Erfahrung gemacht, dass man nur Ärger hat, wenn man sich um seine Mitmenschen kümmert.

Das hatte sie allerdings nicht davon abhalten können, gelegentlich an den Türen ihrer Mieter zu lauschen. Aber damit kompensierte sie nur ein unbefriedigtes Leben mit unbefriedigter Neugier, und im Grunde hatte das nicht viel zu bedeuten.

Na schön, so eine also war Mrs. Chataway. Sie war hartgesotten in mancher Beziehung. Doch was sie jetzt sah, war ein bisschen viel für ihre leidgeprüften Nerven. Sie schrie. Erst leise, dann laut und schließlich wie am Spieß. Dann steuerte sie wie ein harpunierter Walfisch aus dem Zimmer heraus und setzte ihre Schreierei draußen auf dem Flur fort.

Mich hatte sie allerdings nicht gesehen. Sie konnte mich auch nicht sehen, denn ich hatte aus gutem Grund beschlossen, ein bisschen Versteck zu spielen. Ich wartete darauf, dass sie mit dem Schrecken im Nacken fortlaufen würde, auf die Straße, zum Nachbarn, irgendwohin. Aber sie tat es nicht. Sie schrie draußen auf dem Korridor herum und hämmerte mit beiden Fäusten gegen eine andere Tür derselben Etage.

Es dauerte nicht lange, bis sie ins Zimmer zurückkam. Sie zerrte einen Mann hinter sich her, ein älteres Kerlchen mit Hausjacke, Pantoffeln und einer abgekauten Shagpfeife zwischen den Lippen.

„Kommen Sie nur, Mr. Peacock!“ schnaubte sie dabei. „Kommen Sie, schnell! Oh, wie schrecklich - wie fürchterlich schrecklich! Sehen Sie doch - dort!!“

Der Unterkiefer des Mr. Peacock klappte herunter wie eine Baggerschaufel, als er die Bescherung sah. Seine Pfeife fiel zu Boden. Er kratzte sich ausführlich am Hinterkopf und trat einige Schritte näher. Aufmerksam betrachtete er den Herrn auf dem Schreibtisch.

Dann sagte er schlicht: „Tja, das ist Mord.“

Mord!

Jetzt schrie auch Peacock, dann schrie wieder Mrs. Chataway, und zum Schluss schrieen sie beide zusammen. Sie schrieen so laut, dass ich mir beide Ohren zuhalten musste.

Ich habe schon viele Leute schreien hören. Beim Fußball, beim Boxkampf oder im Hyde-Park. Aber was die beiden da anstellten, war mehr, als ich je erlebt hatte. Meine Herren, was die für einen Lärm schlugen! Und alles, weil da ein Toter lag!

Er lag mit dem Bauch auf seinem Schreibtisch, ein Messer im Kreuz.

Zugegeben, kein sehr schönes Bild. Aber was mich betrifft, so war es nicht der gruselige Anblick, der mich störte. Mich störte das Messer. Und wenn ich Ihnen jetzt verrate, dass es mein Messer war, das seinen Rücken zierte, werden Sie verstehen, dass mich das ärgerte.

Außerdem werden Sie bestimmt glauben, ich hätte den Herrn umgebracht. Nicht wahr?

Na, sehen Sie!

Haargenau das war es, worüber ich mich ärgerte. Nein, nein, meine Situation war ausgesprochen verdrießlich. Da stand ich nun, in einer Duschkabine versteckt, und konnte nicht einmal laut fluchen. Es war die Duschkabine, die zum Badezimmer eines gewissen Mr. Wallings gehörte; Herbert Wallings. Und eben dieser Herbert Wallings lag tot nebenan auf seinem Schreibtisch. Dazu die Leute im Zimmer, die Zeter und Mordio schrieen.

Haha, das gefiel mir vielleicht!

Mr. Peacock ging ans Telefon und verständigte die Polizei. Wenn der geahnt hätte, dass ich keine fünf Meter von ihm entfernt stand, unter der Dusche des Toten! Natürlich war die Brause nicht dicht und tropfte unaufhörlich auf meinen Schädel. Tropp - tropp - tropp!

Ich überlegte, was ich tun könnte, und kam schnell zu dem logischen Schluss: Nichts. Wissen Sie, wie es ist, wenn man ohne Fahrschein in der Straßenbahn sitzt und den Kontrolleur kommen sieht? So ähnlich war mir zumute, bloß schlimmer.

Ich saß in einer Falle. Zum Fenster konnte ich nicht heraus, das war vergittert. Die Badezimmertür führte direkt ins Mordzimmer. Und jeden Augenblick musste die Polizei kommen!

Währenddessen machte es weiter tropp-tropp-tropp. Mit jedem Tropfen wurde mir klarer, wie verfahren meine Situation war. Ich konnte nur abwarten und hoffen, dass die Polizei vergessen würde, die Wohnung zu durchsuchen. Und nun können Sie sich selbst ausrechnen, wie hoch ich meine Chance einschätzte!

Tropp-tropp-tropp! Ich habe mir mal erzählen lassen, wie die Chinesen ihre Gefangenen foltern. Sie setzen sie unter einen tropfenden Wasserhahn und lassen sie allmählich aufweichen. Reizende Menschen müssen das sein! Während ich weiter unter der Brause des Mr. Wallings ausharrte, fasste ich den festen Entschluss, nie nach China zu reisen.

Dann klopfte es hart an die Tür, und mit viel Gepolter kamen die Herren Polizisten herein.

Na schön, dachte ich, nun kann der Tanz losgehen!

Aus meinem Versteck konnte ich die Unterhaltung im Nebenzimmer gut verstehen. Mrs. Chataway war angestrengt darum bemüht, die moralische Seite ihres Charakters hervorzukehren. Sie befürchtete, dass auf ihren makellosen Ruf ein Schatten fallen könne. Mit geradezu artistischer Zungenfertigkeit beteuerte sie wieder und wieder, dass Mr. Wallings wirklich der erste möblierte Herr gewesen sei, der bei ihr ermordet worden ist. Schließlich aber wurde ihr Redeschwall von einer sonoren Stimme unterbrochen: „Jaja, liebe Frau, warten Sie einen Augenblick! “

Ich kannte diese sonoren Stimmen von Scotland Yard. Sie waren weich wie Samt und unergründlich wie der Pazifische Ozean. Liebevolle Stimmen, wie sie sonst nur Musikprofessoren und die Väterspieler der Provinztheater haben. Wenn so eine Stimme eine Frage stellt, gebietet einem allein die gute Erziehung, die Wahrheit zu sagen. (Es ist nur traurig, dass es heutzutage so wenig Leute mit guter Erziehung gibt!)

„Da kann ich mir nicht helfen, Herr Inspektor“, meldete sich eine andere Stimme, „der Tod muss sofort eingetreten sein.“

„Wann kann das gewesen sein, Doktor?“ fragte die weiche, sonore Stimme.

„Genau lässt sich das nicht sagen. Auf alle Fälle innerhalb der letzten zwei Stunden.“

Das klang nicht gut. Nicht gut für mich. Hätte der Arzt „gestern Abend“ gesagt oder „vor mindestens einer Stunde“, wäre mir gedient gewesen. Dann hätte ich nur nachzuweisen brauchen, dass ich zu dieser Zeit nicht bei Wallings war. Aber so: „Innerhalb der letzten zwei Stunden“, das war verdammt unangenehm.

Die sonore Stimme veranstaltete nun ein kurzes Verhör. Die beiden Bewohner des Hauses kamen sich mächtig wichtig vor. Besonders Mrs. Chataway. Sie benahm sich so, als sei ihr eben klargeworden, dass sie ihren Beruf verfehlt habe und eigentlich Detektivin hätte werden sollen. Haarscharf konnte sie sich erinnern, dass Wallings am Morgen dieses Tages noch durchaus lebendig gewesen war und keinerlei Anzeichen einer bevorstehenden Ermordung gezeigt hatte. Er war, so sagte Mrs. Chataway, ein honoriger Mensch mit stets solidem Lebenswandel gewesen und hatte auch immer pünktlich seine Miete gezahlt. Daher konnte sie auch nicht vermuten, dass er einmal ein solches Ende finden würde. Sonst hätte sie ...

Aber der Inspektor wollte gar nicht wissen, was sie sonst getan hätte. Auch die Aussagen des Mr. Peacock waren nicht viel ergiebiger. Er hatte den ganzen Vormittag in seinem Zimmer zugebracht und nichts Auffälliges vernommen.

„Mr. Peacock“, fragte die Stimme des Inspektors, „wann haben Sie Mr. Wallings das letzte Mal gesehen oder gehört?“

„Gesehen habe ich ihn heute überhaupt nicht.“

„Aber gehört?“

„Ja. - Das heißt nein. Aber ich habe sein Radio gehört. Ziemlich laut sogar. Wallings hat sein Radio immer sehr laut eingestellt.“

„Und wann war das?“

„Um ein Uhr. Er hat die Nachrichten gehört.“

„Ja, das kann ich bestätigen“, eiferte Mrs. Chataway dazwischen, „das habe ich auch gehört, Herr Kriminalrat!“

„Soso“, antwortete die sonore Stimme, „und sonst haben Sie nichts Auffälliges bemerkt?“

„O doch, natürlich. Ich habe die Leiche entdeckt.“

Ja, darauf war Mrs. Chataway wirklich stolz! Sie war die erste gewesen, die das Unheil bemerkt hatte - glaubte sie! Und dieser ungebärdige Stolz hatte wohl auch ihren Geist ein wenig verwirrt, denn sonst hätte sie dem Inspektor längst erzählt, dass sie kurz nach ein Uhr einen Mann gesehen hatte, der die Treppe zu Wallings Appartement hinaufgestiegen war. Und dieser Mann war ich!

Aber man darf die Intelligenz der Polizei nicht unterschätzen. Ich hatte diesen Gedanken noch gar nicht zu Ende gedacht, als der Mann mit der sonoren Stimme schon nach Besuchern fragte, die bei Wallings gewesen waren.

„Ja“, maunzte Mrs. Chataway aufgeregt, „Besucher habe ich gesehen. Ich habe ja heute Vormittag das Treppenhaus sauber gemacht, und da mussten sie alle an mir vorbei.“

„Alle?“

„Ja. Drei Stück. Heute früh kam eine Dame. Ungefähr um zehn, möchte ich sagen. Sie ist vielleicht zwanzig Minuten bei Mr. Wallings gewesen. Eine nette Frau, so kultiviert, verstehen Sie, eine vornehme Dame, wirklich vornehm. Findet man ja heutzutage sehr selten.“

„Und der zweite Besucher?“ unterbrach der Inspektor.

„Das war ein Herr. Sicherlich ein Reisender. Er trug nämlich eine Aktentasche. Aber Mr. Wallings hat ihm wohl nichts abgekauft. Er ist nämlich sehr bald wieder fortgegangen.“

„Wann?“

„Fünf Minuten vor eins. Ich weiß das so genau, weil er mich nach der Zeit gefragt hat.“

„Hm, hm“, brummelte die sonore Stimme. Ein nachdenkliches, gut einstudiertes Brummen. Man merkte, dass der Mann gewohnt war, seine Umwelt am Nachdenken teilhaben zu lassen. „Fünf Minuten vor eins ist der Mann mit der Aktentasche fortgegangen. Um eins aber hat Wallings sein Radio angestellt. Das heißt also, Wallings hat noch gelebt, nachdem ihn der Mann mit der Aktentasche verlassen hat.“

Du kannst so bleiben, dachte ich in meinem Versteck. Wenn du so klug bist, dass du das herausgefunden hast, kannst du sicherlich auch zwei und zwei zusammenzählen. Und dann kann dir eigentlich nicht viel im Leben passieren.

Es ging weiter, und nun wurde es doch brenzlig. Das Denkgenie erkundigte sich nämlich nach dem dritten Besucher, den Mrs. Chataway gesehen haben wollte.

Die brave Hauswirtin gab bereitwillig Auskunft, ja, sie gab sogar eine ziemlich genaue Personenbeschreibung.

„Ein großer Kerl“, sagte sie, „noch größer als Sie, Herr Kriminalrat. Breite Schultern, dunkles Haar und - na, sagen wir mal dreiunddreißig Jahre alt, würde ich schätzen. Ein unsympathischer Mensch, muss ich schon sagen.“

„Wieso?“

„Er trug keine Krawatte. Und Menschen ohne Krawatten sind unsympathisch.“

Es ließ mich ziemlich kalt, dass Mrs. Chataway mich nicht leiden konnte. Aber dass die Rede nun endgültig auf mich gekommen war, nahm ich weniger gelassen hin. Nein, ich misstraute der Einfalt der Polizei.

Und dann kam es, wie es kommen musste. Der Kriminalbeamte erfuhr von Mrs. Chataway, dass sie mich zwar die Treppe hinauf-, aber nicht wieder heruntergehen gesehen hatte, und blitzschnell kombinierend kam er zu dem Denkergebnis, dass ich unter diesen Umständen noch in der Wohnung sein müsse.

Es dauerte auch keine Minute, da hatte er mein Versteck gefunden. Der Vorhang der Duschkabine wurde beiseite gerissen, und nun stand er vor mir, mit strahlenden, triumphierenden Augen.

Da hatte er aber einen Fang gemacht! Herzlichen Glückwunsch! Tropp-tropp-tropp, sagte die Brause. Mein Haar war mittlerweile pitschnass geworden, und ich muss wohl kein sehr intelligentes Gesicht gemacht haben, als ich den würdigen Herrn von Scotland Yard vor mir stehen sah.

Einen Augenblick lang staunten wir uns schweigend an. Dann machte er eine kleine Verbeugung und fragte artig: „Darf man sich erkundigen, was Sie hier tun?“

Oh, der Mann hatte Sinn für Humor! Das gefiel mir.

„Ich bin der Milchmann. Ich wollte die leeren Flaschen abholen“, antwortete ich und beehrte ihn mit meinem höflichsten Lächeln. Er nahm das widerspruchslos hin. Er lächelte sogar zurück. Ich brachte es mit dem besten Willen nicht fertig, böse auf ihn zu sein. Er war anscheinend ein netter, verträglicher Mensch. Schweigend reichte er mir ein Handtuch, damit ich mir die Haare abtrocknen konnte, und bat mich mit einer höflichen Geste in das Mordzimmer.

Das war noch in dem gleichen Zustand, wie ich es eine knappe halbe Stunde vorher gesehen hatte. Ein vornehm eingerichtetes Zimmer, mit echtem Perserteppich und teuren Nussbaummöbeln. Mr. Wallings hatte offensichtlich nicht zu knausern gebraucht. An der Wand stand ein großer Aktenschrank, dessen Regale leer waren, genauso leer wie die Schreibtischschubfächer. Sowohl der Aktenschrank als auch die Schubladen waren geöffnet, und ich fragte mich, wer hier wohl Ordnung geschafft hatte. Denn es war ja anzunehmen, dass Wallings seinen Aktenschrank nicht leer stehen ließ. Irgend etwas hatte er hier aufbewahrt, und dieses Irgendetwas war verschwunden!

Wallings selbst lag immer noch auf seinem Schreibtisch, mit dem Rücken nach oben. Unter uns gesagt, war ich der Meinung, dass der Zustand, in dem er sich zur Zeit befand, außerordentlich angemessen war. Nicht, dass ich mich darüber freute, dass ihn jemand außer Betrieb gesetzt hatte, aber ich empfand „eine gewisse Genugtuung“, wie sich die Politiker ausdrücken würden. Die Mordkommission war am Werke. Fingerabdruckspezialisten, Fotografen und andere neugierige Beamte trieben geräuschvoll ihr Unwesen. Mrs. Chataway und Mr. Peacock begafften mich mit dem betonten Ausdruck scheuer Verachtung. Und ich stand mittendrin und überlegte, was ich tun konnte, um aus diesem Hexenkessel wieder an die frische Luft zu kommen. Meine Lage war sauer, sehr sauer. Genauso gut konnte sich ein Kamel im Londoner Zoo darüber Gedanken machen, wie es wieder in seine Wüste zurücktrampeln könnte. Hoffnungslosigkeit, nimm mich in deine Arme!

Höflich bot mir der Inspektor einen Stuhl an. Aber mir war nicht nach Sitzen zumute. Mir schwante, dass ich noch lange genug Gelegenheit zum Sitzen haben sollte.

Dem Inspektor war das genauso recht. Einer der Beamten reichte ihm eine große Tüte mit Pfirsichen. Sorgfältig wählte er eine Frucht aus, betrachtete sie von allen Seiten und verspeiste sie mit dem Ausdruck genüsslicher Andacht.

Das gelassene, zufriedene Lächeln, mit dem er mich dabei anblickte, verriet mir, dass er seiner Sache sehr sicher war. Freundlich und ohne jeden bösen Unterton begann er, seine Fragen zu stellen. Er vermutete, dass ich aus meinem Versteck die Unterhaltung im Mordzimmer mit angehört hatte.

„Sie wissen also Bescheid“, sagte er. „Um ein Uhr hat Mr. Wallings noch gelebt. Jetzt, eine Dreiviertelstunde später, ist er tot. In der Zwischenzeit sind nur Sie bei ihm gewesen. Nach Lage der Dinge müssen Sie also sein Mörder sein. Ist das einleuchtend?“

Natürlich war es einleuchtend. Es war sogar so einleuchtend, dass es schon weh tat. Und trotzdem hatte diese Theorie eine kleine Schwäche: Sie stimmte nicht. Aber wo war die Lücke? Ich wusste genau, dass nicht ich es war, der Wallings ausrangiert hatte. Zu meinem Pech war ich der einzige, der das wusste. Nein, nicht der einzige! Noch einer wusste es. Der wirkliche Mörder! Aber wer war das? Eigentümlicherweise lag die Antwort auf diese Frage auf der Hand. Ich hätte nur ein kleines bisschen darüber nachzudenken brauchen.

Aber ich dachte über etwas anderes nach, nämlich darüber, wie ich meinen Kopf wieder aus der Schlinge ziehen konnte, in die er da auf so sonderbare Art und Weise geraten war. Leider fand ich auch darauf keine befriedigende Antwort.

„Ist das einleuchtend?“ wiederholte der Inspektor.

Ich nickte zustimmend mit dem Kopf und versuchte, so sachlich wie möglich zu sprechen.

„Doch, doch. An Ihrer Stelle würde ich sicher dasselbe vermuten. Deswegen tut es mir auch aufrichtig leid, dass ich Sie enttäuschen muss. Ich war’s nämlich nicht. Wallings war schon tot, als ich in das Zimmer kam.“

„Na fein, so ist das“, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. „Na, ja, dann haben wir uns eben geirrt! Wir müssen natürlich noch ein paar Kleinigkeiten klären: Was Sie hier suchten zum Beispiel; warum Sie die Polizei nicht gerufen haben, als Sie die Leiche entdeckten; warum Sie sich statt dessen versteckt haben? Aber eines interessiert mich besonders: Wie sind Sie in Wallings’ Appartement hineingekommen? Wenn er schon tot war, kann er Ihnen doch die Tür nicht geöffnet haben. Oder?“

Die Polizei, dein Freund und Helfer! Nie war mir die Bedeutung dieser alten Volksweisheit so klar gewesen wie jetzt. Da zerbrach ich mir den Kopf, wie ich mich hier wieder freischwimmen konnte. Und was tat der liebe Herr Inspektor? Er sagte es mir. Er gab mir völlig kostenlos einen Tipp, für den ich gern hundert Pfund bezahlt hätte. „Wie sind Sie in Wallings Appartement hineingekommen?“

Das war haargenau die Richtung, in der ich marschieren musste. „Ganz einfach, ich bin eingebrochen“, antwortete ich und war gespannt, ob er auf das Spielchen eingehen würde.

Er tat es. „Eingebrochen?“ fragte er. „Wie denn, werter Herr? Die Tür ist unbeschädigt, das Schloss ist in Ordnung - keine Spur eines Einbruchs.“

Na also! Der Boden war frei. Jetzt war es nur noch eine Frage der Geschicklichkeit.

„Kommen Sie, Herr Inspektor, ich will es Ihnen zeigen. “

Ich holte einen Schlüssel aus meiner Tasche und log dem Beamten vor, dies sei der Schlüssel zu meinem Schlafzimmer. Ich fummelte mit ihm von innen an dem Schloss herum, fummelte eine ganze Weile und tat dann sehr erstaunt, dass er nicht fasste. Ich öffnete die Tür und versuchte es von außen. jetzt hatte ich Glück - verständlicherweise, denn in Wirklichkeit war es ja Wallings’ Wohnungsschlüssel, mit dem ich dieses Experiment machte.

„Sehen Sie, Herr Inspektor, von außen passt der Schlüssel!“ Sagte es, knallte die Tür zu, verschloss sie, zog den Schlüssel ab und verduftete.

Kurz darauf wankte die Tür in ihren Grundfesten und stürzte mit drei schweren Polizistenkörpern in den Hausflur. Die Polizisten sortierten Arme und Beine, standen auf und schnaubten, durch die Anstrengung ein bisschen atemlos geworden.

Der Inspektor gab das Aufbruchkommando: „Los, Leute, kommt!“

Und die ganze Versammlung machte sich auf die Reise, vorweg der Inspektor mit seinen Mannen, dann der Polizeiarzt, Mrs. Chataway und Mr. Peacock. Aufgeregt wie ein Indianerstamm auf dem Kriegspfad, rannten sie, wie aus dem Kübel geschüttet, die Treppe hinunter.

Was für ein Glück, dass ich die Treppe ‘rauf gerannt war!

Ich saß oben auf der obersten Treppenstufe und dachte nach. Donnerwetter noch mal! Da war ich in eine schöne Pfütze getreten!

Nicht, dass es schade war um den bewussten Mr. Wallings. Nein, ganz bestimmt nicht. Wallings war ein Lumpenhund gewesen, seine Seele war so schwarz, dass der alte Mephisto neben ihm wie ein Sonntagsprediger der Heilsarmee ausgesehen hätte. Und dass ihn jemand aus dem Umlauf gezogen hatte, war bestimmt eine Art Segen für die Menschheit.

Aber die Polizei hatte dafür offenbar kein Verständnis. Die wollten den Mörder fischen. Und wer kann ihr das übel nehmen? Sie ist schließlich dafür da, und sie denkt eben manchmal ein bisschen altmodisch. Das Dumme war nur, dass sie mich für den Mörder hielt. Und das gefiel mir nicht. Nein, gar nicht!

Diese tiefen Gedanken brachten mich zu der Überzeugung, dass ich nicht auf der obersten Treppenstufe in Wallings’ Haus sitzen bleiben durfte. Es musste etwas geschehen! Ich nahm all meinen Grips zusammen, denn wenn ich jetzt etwas tat, dann musste es etwas sehr Gescheites sein. Und wie das manchmal so ist, wenn man überlegt: Es fällt einem auch was ein. Im Badezimmer gegenüber meiner Duschkabine hatte ich einen Besenschrank gesehen. Seine Tür stand offen, und während ich in der Duschkabine auf den Weihnachtsmann wartete, hatte ich genügend Gelegenheit, mir seinen Inhalt anzusehen. Neben einem Besen und einem Schrubber hing dort an einem Haken eine Kaminbürste.

Ich schlich zurück zur Wohnung. Die Hüter des Gesetzes waren nicht zu sehen. In Wallings’ Garderobe fand ich schnell, was ich suchte-. Eine Baskenmütze. Dann schaute ich mich um. Wo eine Kaminbürste ist, muss auch ein Kamin sein. ich hatte ihn schnell gefunden. Ich zog mein Hemd aus und legte es mit der Baskenmütze zusammen in den Kamin. Dann rüttelte ich kräftig an der Abzugsklappe, und ein Schwaden Ruß ergoss sich über Hemd und Mütze. Ich schauderte, als ich das Hemd wieder anzog. Aber es half nichts, es musste nun mal sein!

Schließlich schmierte ich mir noch eine Handvoll Ruß ins Gesicht, knüllte mein Jackett zu einem kleinen Bündel zusammen, das ich unter den Arm nahm, schulterte die Kaminbürste, setzte die Baskenmütze auf, schlenderte die Treppe hinunter.

Unten an der Haustür stand natürlich ein Blauer. Zum Glück war es keiner von denen, die in Wallings’ Wohnung herumgeschnüffelt hatten.

Der Polizist baute sich breitbeinig und martialisch vor mir auf. „Halt!“ prustete er voller Würde. „Hier können Sie nicht ‘raus’!“

„Oh! Darf man auch fragen, warum?“

Ich blickte ihn dabei so treuherzig und unschuldsvoll an, dass er wohl beinahe ein schlechtes Gewissen bekam, mich so grob angeredet zu haben. Seine nächste Frage klang schon etwas freundlicher. „Wo kommen Sie denn her?“

„Von oben.“

„Hm. - Und wer sind Sie?“

„Der Schornsteinfeger.“

„Das sehe ich.“

„Warum fragen Sie dann, Herr Polizeirat?“

„Was haben Sie hier im Hause zu suchen?“ Er sah mich durchbohrend an.

„Ich habe die Kamine gefegt, wenn Sie nichts dagegen haben. Und jetzt will ich meine Mittagspause machen.“

Nun schien die Geschichte für den Polizisten problematisch zu werden. An sich war es wohl vollständig in Ordnung, dass ein Schornsteinfeger die Kamine fegt. So etwas ist nicht sonderlich verdächtig, und Schornsteinfeger sind normale Menschen. Trotzdem aber war sein Misstrauen noch nicht verflogen. „Sie haben also die Kamine gefegt?“ wiederholte er mit nachdenklicher Mine. „Und wie sind Sie in das Haus hineingekommen?“

„Übers Dach natürlich.“

„Aha.“

Das Nachdenken bereitete ihm nun keine Schwierigkeiten mehr. Wenn jemand übers Dach in ein Haus hineingeklettert ist, dann muss es schon ein normaler Schornsteinfeger sein. Ein anderer würde ja zur Haustür hineinwandern.

Er erkundigte sich noch, ob ich im Hause etwas Besonderes gesehen oder gehört hätte, was ich zu meinem größten Bedauern verneinen musste. Darauf machte er ein wohlwollend-leutseliges Gesicht, nickte mir freundlich zu und sagte: „Es ist gut, Sie können gehen.“

„Danke, Herr Wachtmeister! Empfehlung an die verehrte Frau Gemahlin!“

Frische Luft ist was Schönes! Vor allem, wenn man um ein Haar an ihr vorbeigewandert ist. Ich holte tief Atem, blickte mich noch einmal nach dem Wachtmeister um, ob der auch keinen Witz gemacht hatte.

Aber nein, der kümmerte sich nicht mehr um mich. Er dämmerte vor sich hin, dachte an seinen Stammtisch, seine Frau oder sonst etwas. Ich konnte ganz beruhigt sein, diese Klippe war überwunden.

Aber es war noch nicht die letzte Klippe. Ich will ganz ehrlich sein: Mir war trotz der frischen Luft sehr mulmig zumute. Bisher war alles glatt gegangen - beinahe zu glatt. Es war wie in einem schlechten Film - die Baskenmütze, die Kaminbürste, der Wachtmeister, der sich willig mein Märchen aufbinden ließ. In einem schlechten Film kommt aber in solchen Situationen gewöhnlich das dicke Ende nach. Und ich hatte ein sehr unangenehmes Gefühl in der Magengegend. Das habe ich oft, wenn ich nicht weiß, wie’s weitergeht, und es ist für mich ein untrügliches Alarmsignal. Ich musste vorsichtig sein, verdammt vorsichtig!

Der Inspektor und seine Leute hielten natürlich nach mir Ausschau. Ich sah sie in einiger Entfernung die Straße hinunterlaufen und neugierig in die Hauseingänge und Nebenstraßen hineinspähen. Sie waren sehr gründlich, gaben sich viel Mühe, und es war ganz lustig, sie dabei zu beobachten.

Der Inspektor selbst gab nun aber offenbar die Hoffnung auf und machte sich auf den Rückmarsch zu Wallings’ Haus. Eine Sekunde lang verspürte ich die Versuchung, es darauf ankommen zu lassen, ihm entgegenzugehen und herauszufinden, ob er mich in meiner Schornsteinfegeraufmachung erkennen würde. Aber dann ließ ich es doch lieber bleiben. Ich schlenderte in entgegengesetzter Richtung davon.

Dort suchten zwar auch zwei Polizisten nach mir, aber die schienen mir weniger gefährlich als ihr Häuptling. Reiß dich zusammen, sagte ich mir, benimm dich wie ein normaler Schornsteinfeger, dann kann dir nichts passieren. Ich ging in der Mitte des Bürgersteigs, pfiff ein Liedchen vor mich hin, zündete mir eine Zigarette an und verhielt mich auch sonst so unbefangen wie möglich.

Aber tun Sie das mal, wenn Sie von zwei Polizisten beobachtet werden. Und tatsächlich - sie beobachteten mich. Sie kamen sogar auf mich zu, mit merkwürdig strahlender Miene.

Aha, dachte ich, das ist also das dicke Ende. Naja, es hatte doch nicht geklappt! Ich hörte im Geist schon das Klicken der Handschellen, als sich einer der Beamten vor mir aufbaute.

„Darf ich?“ fragte er und hob die rechte Hand.

Komische Frage, dachte ich und nickte betreten mit dem Kopf. Was blieb mir schließlich anderes übrig?

Erlegte seine Hand auf meine Schulter und grinste.

„Es soll nämlich Glück bringen, wenn man einem Schornsteinfeger auf die Schulter tippt.“

Dann ging er weiter.

Das konnte doch nicht wahr sein! Der Kerl hat mir direkt ins Gesicht gesehen, und er war einer derjenigen, die im Mordzimmer herumgestanden hatten, als mich der Inspektor verhörte. Er musste mich erkannt haben! Mindestens konnte ihm jeden Augenblick einfallen, wem er da eben auf die Schulter getippt hatte.

Bloß jetzt nicht kopflos werden, sagte ich mir. Schau dich nicht um! Gehe weiter!

Ich wechselte auf die andere Straßenseite hinüber, bewunderte dort die Dauerwellenreklame eines Friseursalons. Im Spiegel der Schaufensterscheibe konnte ich die beiden Polizisten sehen. Nein, sie hatten keinen Verdacht geschöpft.

Langsam strolchte ich weiter, ein paar Meter nur, bis ich zu einer Bushaltestelle kam. Ich wartete ein, zwei Minuten. Der Bus kam. Ich stieg ein und ab ging die Post.

Meine Herren, was war ich froh! Es gibt so eine Redensart: „Ich fühle mich wie Gott in Frankreich.“ Nun, wenn mich dieses glückselige Wesen hätte sehen können, wie ich dem Schaffner meine zehn Pennies in die Hand drückte, wäre es sicher ein bisschen neidisch geworden und hätte fortan formuliert: „Ich fühle mich wie Cox im Bus.“

Ach ja, das erinnert mich - ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt.

Gestatten - mein Name ist Cox. Paul Cox, wohnhaft in Hampstead, London, Großbritannien. Und für den Fall, dass es Sie interessiert: Ich bin so eine Art Frohnatur, wie es in den Horoskopen heißt. Immer vergnügt, und wenn mir mal eine Laus über die Leber läuft, muss sie schon mindestens zwei Pfund wiegen, ehe ich es merke.

Mein Beruf? - Ja, das ist so eine Sache. Darüber hat sich mein alter Herr auch schon Gedanken gemacht. Ich habe nämlich keinen. „Verschiedene Beschäftigungen“ schreibe ich immer in die Formulare. Ich glaube nämlich nicht an den sogenannten Ernst des Lebens, und wenn es mir nicht gar zu schwer fällt, nehme ich das Leben leicht. Ich sehe mich ein bisschen in der Weltgeschichte um und schreibe dann auf, was ich alles erlebt habe. Für die Zeitungen oder den Rundfunk. Meistens ohne Erfolg. Die Leute halten - unbegreiflicherweise! - nicht viel von meinen Artikeln.

Im Winter fahre ich gewöhnlich auf den Kontinent. Ski fahren. Ja, ich liebe die Berge -und die Spielsäle. Im Sommer bricht dann meine Tierliebe durch - auf den Rennplätzen. Und so manövriere ich mich halt durch die Jahre.

Ich bin sicher nicht der Inbegriff dessen, was man ein „nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft“ nennt. Aber wen kümmert das? Mich nicht.

Und eigentlich hatte ich immer ein friedvolles Leben geführt, ohne große Sensationen und ohne unmittelbare Fühlungnahme mit den netten Herren von der Polizei - bis diese eigenartige Geschichte mit Wallings passierte.

Was war geschehen?

Ganz genau dies: Wallings war ein Flunki gewesen. Ich kannte ihn schon seit zwei Jahren. Damals, als ich zum erstenmal mit ihm zusammenkam, war er Rechtsanwalt; und zwar ein Rechtsanwalt mit dem zweifelhaften Ruf, alle möglichen Prozesse zu führen, die man mit gutem Gewissen eigentlich nicht führen sollte. Gegen eine Menge guter Worte und eine Menge ebenso guten Geldes, versteht sich.

Und gerade so einen Anwalt brauchte ich! Ich hatte eine sehr heikle Auseinandersetzung mit einer Spielbank. Und da Spielbanken in England nicht offiziell konzessioniert sind, war das eine windige Angelegenheit. Ich hatte mich schon entschlossen, das Geld sausen zu lassen, das ich von der Bank zu bekommen hatte, als Wallings in meinem Gesichtskreis auftauchte. Spaßeshalber trug ich ihm meinen Fall vor - und er wusste die Lösung.

Er war Fachmann auf diesem Gebiet. Auf irgendwelchen Hinterpfaden, die ich nie richtig durchschaut habe, hat er den Prozess für mich geführt. Er hat ihn gewonnen, hat sein Honorar eingestrichen und ward seitdem nicht mehr gesehen - jedenfalls für die nächsten zwei Jahre.

Es mag ungefähr vier Wochen vor Wallings’ Tod gewesen sein. Es war ein miserabler Abend, regnerisch, windig, ein Wetter, bei dem man lieber auf seine Abendzeitung verzichtete, als dass man noch mal hinausrannte, um sie zu holen. Außerdem hatte ich noch einen anderen Grund, zu Hause zu bleiben. Dieser Grund hieß Margit Simmons und war auf den Zentimeter genau das, was mir in meiner Junggeselleneinsamkeit fehlte.

Als ich an diesem Abend meine Haustürklingel hörte, wunderte ich mich, wer wohl bei diesem Sauwetter da draußen herumstolzierte. Es musste ja mächtig wichtig sein, was der Knabe auf dem Herzen hatte!

Der Knabe war Wallings. Er sah nicht gut aus. Verwildert, unsauber rasiert und nachlässig gekleidet. Er wirkte nicht gerade wie ein Strolch, aber wie ein Mensch, der keinen Grund hat, besondere Sorgfalt auf sein Äußeres zu legen.

Er begrüßte mich, und die Art, wie er das tat, gefiel mir nicht. Er hatte immer etwas Schleichendes, wenn er freundlich war, daran erinnerte ich mich deutlich. Aber es schien mir, als führte er diesmal etwas besonders Schmutziges im Schilde.

Ich bat Margit, einen Augenblick im Nebenzimmer zu warten, nahm ihm den Mantel ab, bot ihm Platz, Zigaretten und Whisky an und wartete, was er auszupacken hatte.

„Sie haben sicher erfahren, dass mir die Praxis entzogen worden ist“, begann er ziemlich abrupt.

Das war mir neu. Aber es passte genau in das Bild, das er bot. Er brauchte sich für keinen Gerichtstermin mehr aufzuputzen, und alle zwei Tage einmal rasieren, genügte ihm nun. Ihm war die Praxis entzogen. Sieh an! Die alte Geschichte von dem Krug, der zu Wasser geht. Man war ihm also auf die Schliche gekommen.

„Unangenehm, nicht?“ sagte ich.

„Das hat man davon, wenn man gutmütig ist und Leuten bei Prozessen hilft, die eigentlich ...“

„Jaja, ich weiß“, unterbrach ich ihn. „Sie sind ne Seele von einem Menschen! Und für Ihre Hilfe haben Sie sich ja auch nie einen Penny zahlen lassen.“

Er wollte etwas erwidern. Aber ich hatte keine Lust, in lange Debatten über Edelmut und Rechtsauslegung einzusteigen. Deswegen sagte ich kurz: „Was wollen Sie?“

Mit demütigem Grinsen fragte er mich, ob ich ihm finanziell etwas unter die Arme greifen könne. Und da ich kein Unmensch bin, fragte ich ohne viel Umschweife zurück, wie viel er denn brauche. Aber als er mir dann die Summe nannte, legte ich die Ohren an. Fünftausend Pfund wollte der Kleine haben! Er wurde nicht einmal rot, als er die Zahl aussprach.

Ich lachte ihn aus. „Wallings, Sie haben wohl nicht alle Töne auf der Zither! Das können Sie doch nie zurückzahlen. Sagen wir fünfzig Pfund, und ich vergesse dann auch sehr schnell, dass ich’s Ihnen eigentlich nur geliehen habe.“

Und jetzt rückte er mit der Sprache heraus. Es handelte sich nicht um ein Darlehen, das er bei mir aufnehmen wollte, sondern um ein Geschäft. In seinen Prozessakten hatte er zwei Briefe gefunden, und die wollte er mir verkaufen. Briefe, in denen ich ihm die näheren Umstände erklärt hatte, die den Prozess nötig gemacht hatten.

Ich merkte, worauf er hinauswollte, ließ mir aber noch nichts anmerken und hörte ihm erst mal ruhig zu.

„Sehen Sie“, erklärte er, „Ihr Prozess wurde, wenn man strenge juristische Maßstäbe anlegt, nicht ganz ordentlich geführt.“

„Das wissen Sie doch besser als ich.“

„Jaja, natürlich. Es geht vor allen Dingen aus Ihren Briefen hervor. Ich bin nun daran interessiert, mich als Rechtsanwalt zu rehabilitieren. Da das Datum auf den Briefköpfen nicht genau zu erkennen ist, könnte ich nachweisen, dass ich die Briefe erst nach dem Prozess erhalten habe, dass ich den Prozess also in gutem Glauben geführt habe.“

„Mit anderen Worten: Sie haben das Datum gefälscht?“

Darauf ging er nicht ein. Er schüttelte lächelnd den Kopf, so als wolle er sagen, dass solche Kleinigkeiten gar nicht des Erörterns wert seien. Dann nippte er an seinem Glas, räusperte sich umständlich und fuhr fort: „Wenn ich die Briefe heute dem Gericht vorlegen würde, bedeutete es, dass Sie die achttausend Pfund zurückzahlen müssten, die Ihnen damals zugesprochen worden sind. Gewiss, es wäre eine Ungerechtigkeit, Mr. Cox, denn das Geld stand Ihnen ja zu. Aber es wären Spielschulden.“

Jetzt verlor ich doch die Nerven. „Zum Teufel, das weiß ich alles!“ schrie ich ihn an.

„Um so besser. Dann sehen Sie sicher auch ein, dass fünftausend Pfund für die Briefe ein durchaus angemessenes Äquivalent darstellen.“

„Also Erpressung?“

Er lächelte sanft. „Erpressung ist ein hartes Wort. Ich würde es eher Kompensation nennen.“

Das reichte mir. Ich hatte von der Unterhaltung, von seinem schmutzigen Grinsen und von dem ganzen Kerl mehr als genug. Ich schmiss ihn raus.

Aber nun musste etwas geschehen. Erpresser sind komische Leute. Meistens sind sie feige und machen ihre Drohungen nicht wahr. Aber leider ist darauf kein Verlass.

Und Wallings? Ja, der war besonders feige. Aber andererseits kannte er das Gesetz so gut, dass er mir ohne eigenes Risiko mühelos ein Bein stellen konnte. Natürlich konnte mir nicht viel passieren - aber ich würde eine schöne Stange Geld loswerden. Und dazu hatte ich nicht viel Lust.

Da kam mir am nächsten Tag eine gute Idee. Jedenfalls glaubte ich, dass sie gut war. Ich wollte die Briefe haben, ohne ihm Geld zu zahlen. Ich dachte mir, dass eine Frau die Rosinen leichter aus einem Kuchen picken kann, den ein Mensch wie Wallings gebacken hat, als ein Mann. Ich machte ihn also mit Margit bekannt. Darüber vergaß er den Rausschmiss. Gleich vom Start weg ging er auf mein Spielchen ein. Das war kein Kunststück, denn Margit hatte eine Art, mit Männern umzugehen, wie der Blockflötenpfeifer von Hameln mit den Ratten. Sie hatte ihn sehr bald so weit, wie ich wollte. Sie wurden gute Freunde. Er ging mit ihr ins Kino, lud sie zum Schachspielen ein und gefiel sich wohl maßlos in der Rolle meines Nebenbuhlers.

Und währenddessen versuchte Margit, ihm meine Briefe aus den Akten zu stibitzen. Aber sie fand sie nicht. Leider, leider! Eines Tages nun kam sie von einem Rendezvous nach Hause, übergab mir den Schlüssel zu Wallings’ Wohnung und sagte mir, dass Wallings vorhatte, am folgenden Morgen für ein paar Tage an die See zu fahren. Sein Nest sei also frei, und ich könne selbst in aller Ruhe nach den Briefen suchen.

Na bitte, dachte ich. Meine Idee trug also doch Früchte! Am nächsten Tag machte ich mich mit Wallings’ Wohnungsschlüssel in der Tasche auf den Weg. Im Treppenhaus begegnete mir die wackere Mrs. Chataway. Aber sie schien mich nicht sonderlich zu beachten, würdigte mich nur eines unfreundlichen Seitenblickes und verschwand irgendwo.

Langsam stieg ich die Treppe zu Wallings’ Appartement hinauf, versuchte meinen Schlüssel - und tatsächlich: er passte. Margit hatte ganze Arbeit geleistet.

Als ich dann aber sein Arbeitszimmer betrat, stellte ich fest, dass er nicht an die See gefahren war. Er lag vielmehr auf seinem Schreibtisch, und das Messer, das er im Kreuz hatte, war mein eigenes Taschenmesser.

Ich hatte es zwei Tage vorher verloren und seitdem vergeblich gesucht.

Eine feine Überraschung, nicht?

Ein, zwei Minuten verbrachte ich damit, mich zu wundern. Dann überlegte ich, ob ich die Polizei verständigen sollte, beschloss aber, erst meine Briefe zu suchen.

Ich hatte damit noch gar nicht richtig begonnen, da klopfte es an der Tür. Was tun? Ich hatte dummerweise vergessen, die Tür wieder abzuschließen. Also versteckte ich mich in der Duschkabine.

Den Rest kennen Sie: Ich wurde entdeckt, spielte ein bisschen „Haschmich“ und landete im Autobus.

Naja!

Gestatten, mein Name ist Cox

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