Читать книгу Gestatten, mein Name ist Cox - Rolf A. Becker - Страница 7

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III.

EIN WHISKY FÜR MR. RICHARDSON

Es war früher Frühling. Tausende kleiner Tautropfen glitzerten unter den goldenen Strahlen der Morgensonne, funkelten in allen Farben. Vor allem in Blau, Hellblau, Dunkelblau, Himmelblau, Preußischblau, Marineblau. Über einem riesigen Feld von Astern schwebte, in eine rosarot-seidene Robe gehüllt, eine bildhübsche Nixe und pflückte die Früchte eines mit eben jenen blauen Tautropfen übersäten Apfelbaumes. Dazu spielte ein großes Streichorchester den ,Einzug der Gäste auf die Wartburg’ im langsamen Walzerrhythmus. Eine kleine lusttrunkene Biene umsummte meinen Kopf und ließ sich dann auf der Blüte eines Gänseblümchens nieder, das im Takte der Musik hin und her wippte. Ich selbst hatte das Gefühl satten Wohlbehagens, trug eine schmucke Husarenuniform und blickte hinauf zu den Schäfchenwolken, die in Geschwaderformation über den Himmel zogen.

Es war ein wunderschöner Tag.

Dann sprach eine Stimme zu mir, eine Stimme, die aus dem endlosen Nichts zu mir hernieder drang.

„Hallo, Cox!“, rief sie. „Leben Sie noch?“

Und mit einem Schlag ging der wunderschöne Tag zu Ende. Keine blauen Tautropfen mehr, keine Gänseblümchen und Schäfchenwolken. Der Wartburg-Walzer verstummte, und die Nixe hörte auf, ihre Äpfel zu essen.

Was übrig blieb, war ein hämmernder Schmerz in meinem Kopf und ein Paar Schuhe. Braune, glänzend polierte Halbschuhe. Sie standen unmittelbar vor meinem Gesicht. Darüber zwei scharfkantige Bügelfalten.

„Um Himmels Willen, Cox, hören Sie mich?“

Die Stimme klang besorgt.

Ich drehte meinen Kopf etwas zur Seite und sah genau in das Gesicht von Inspektor Carter, das über den Bügelfalten zu mir herunterschaute.

Ich muss irgendeinen Ton von mir gegeben haben, denn jetzt lächelte Carter, kniete sich zu mir und sagte: „Na, Gott sei Dank! Ob Sie noch leben, hatte ich gefragt. “

„So halb und halb, glaube ich. Genau weiß ich das noch nicht“, knurrte ich, und versuchte, mich einigermaßen in meiner Umwelt zurechtzufinden.

Über mir war mein Schreibtisch, unter mir der Teppich, so viel stand fest. Der logische Schluss, den ich aus dieser Beobachtung zog, war die Feststellung, dass ich auf dem Fußboden meines Arbeitszimmers lag.

„Sind Sie getroffen?“, fragte Carter. „Sind Sie verletzt? “

Und jetzt kamen auch die ersten Erinnerungen. Das bucklige Rumpelstilzchen hatte plötzlich vor mir gestanden, er hatte auf mich geschossen, und jetzt brummte es in meinem Schädel wie in einem Bienenkorb.

Ich tastete meine Schläfe ab. Sie war nicht feucht, nur geschwollen. Ja, als Rumpelstilzchen die Pistole zog, hatte ich Deckung genommen und dabei einen gewaltigen Schlag auf dem Kopf verspürt. Den hatte mir aber nicht das Projektil aus seiner Pistole versetzt, sondern meine Schreibtischkante.

„Nein“, antwortete ich auf Carters Frage. „Ich hab’ mir nur den Kopf gestoßen - das aber gekonnt!“

„Collins“, rief Carter nach hinten, „besorgen Sie ein feuchtes Tuch!“

Dann half er mir aufzustehen. Bis auf das Hämmern in meinem Kopf ging es ganz gut.

„Fröhliche Ostern!“ staunte ich Carter an. „Wie kommen Sie denn hierher?“

„Reiner Zufall“, erwiderte er, während er mich zu meinem Schaukelstuhl führte. „Wir wollten Ihnen eigentlich einen Staubsauger verkaufen.“

Ich setzte mich.

„Sie haben Besuch gehabt?“, fragte Carter. „Ein kleiner Mann mit einem Buckel?“

Na, Carter schien ja ganz gut Bescheid zu wissen.

„Er hatte es auf ihren Koffer abgesehen, wie?“

Kreuzbomben und Steckrüben! Der Koffer! Ich schaute zum Schreibtisch hinüber. Dort lagen die Haarklammern, der Meißel, der Hammer und die Kneifzange. Aber von dem kleinen schweinsledernen Handkoffer keine Spur.

Carter bemerkte meinen Blick. „Der Koffer ist futsch“, sagte er ruhig. „Und um ein Haar wären Sie selber futsch gewesen. Ja, das Leben ist mitunter hart.“

Womit er zweifellos recht hatte. Doch stand mir der Sinn recht wenig nach Carters Lebensphilosophie. Ich war noch nicht einmal ganz mit dem vordergründigen Problem zu Rande gekommen, dass nicht nur das Leben, sondern auch eine Schreibtischkante mitunter verdammt hart sein kann. Mein Kopf schien ein ausgesprochenes Eigenleben führen zu wollen. Ich wusste nicht genau, was er im Sinn hatte, aber er fühlte sich so an, als ob er jeden Augenblick zerspringen wollte. Und das wäre doch schade gewesen. Er war schließlich mein letzter.

Da kam Sergeant Collins mit einer triefenden Serviette, die er mir auf meinen armen, einzigen Kopf legte. Es tat unheimlich gut.

Jetzt fehlte mir nur noch eines! „Lieber Herr Inspektor“, sagte ich, „Ihr tapferer Sergeant ist doch bestimmt ein ausgezeichneter Kriminalist?“

Carter lachte. „Das will ich meinen.“

„Dann wird es ihm auch nicht schwer fallen, in meinem Kühlschrank eine Flasche Whisky dingfest zu machen.“

Collins blinzelte mich verdutzt an.

„Der Kühlschrank, steht in der Küche“, half ich ihm.

Auf einen Wink Carters hin unternahm er widerwillig die Expedition in die Küche, die er offenbar für unter seiner Würde hielt.

Carter schien weder Lust noch Zeit für weitere Scherze zu haben. Er rückte sich einen Stuhl heran und sah mir ernst in die Augen.

„Ich brauche jetzt eine präzise Auskunft! Was war in dem Koffer?“

Ja, das hätte ich auch so gern gewusst!

„Ich habe keine Ahnung, Inspektor. Der Koffer hatte so ein verrücktes Vexierschloss.“

Carter zog die Augenbrauen hoch. „Ach? Sollte es etwa sein, dass Ihnen der Koffer gar nicht gehört?“

Platsch! Da hatte ich mich schon verplappert. Eigentlich fand ich es ein bisschen unfair von einem Polizeibeamten, einen Mann mit lädiertem Kopf Fangfragen zu stellen. Doch es kam noch viel ärger.

„Ich könnte mir vorstellen“, fuhr Carter fort, „dass Sie irgendwo und irgendwie einen Gepäckaufbewahrungsschein gefunden haben. Damit sind Sie dann zur Bahn gefahren und haben den Koffer abgeholt.“

„Huijeh!“, machte ich. „Für den ersten Tipp war das gar nicht so schlecht!“

„Die Polizei tippt nicht, mein Bester! Die Polizei weiß!“

„Fein!“, nickte ich. „Das müssen Sie mir mal ins Gästebuch schreiben.“

Carter war jetzt ganz Beamter. Kalt und nüchtern. Ohne Überleitung fragte er: „Wo ist Elena Morrison?“

Ich bemühte mich trotz meiner Kopfschmerzen um ein Lächeln. „Wenn Sie mir sagen können, wo sie ist, Herr Inspektor, schenke ich Ihnen ein Sahnebonbon.“

Diese Art der Unterhaltung behagte Carter nicht. „Es scheint mir nötig, Sie darauf hinzuweisen, dass die Polizei Mittel hat, Leute wie Sie zu sehr ernsthaftem Reden zu bringen!“

Ich nickte schuldbewusst mit dem Kopf (Au! Ich hätte es lieber nicht tun sollen!) und war froh, dass Collins mit der Whiskyflasche zurückkam. So konnte ich dem Gespräch eine etwas mildere Wendung geben.

„Dort im Wandschrank sind Gläser, Mr. Collins. Und dann nehmen Sie bitte Platz, damit wir die Geschichte gemütlich durchsprechen können.“

Carter stand auf. „Tut mir leid“, sagte er ohne jeden Anklang von Freundlichkeit. „Zum Plaudern haben wir keine Zeit. Wir müssen den Mann suchen, der mit dem Koffer durchgebrannt ist. Er fuhr einen roten Sunbeam. Haben Sie sich die Autonummer gemerkt, Collins?“

„Klar! RAB 2310,“

„Also auf denn! Wir rupfen unser Hühnchen später, Cox!“

Ich hatte das Gefühl, dass dies ein ausgesprochenes Masthuhn werden würde.

Carter verabschiedete sich, indem er mich unzweideutig wissen ließ, dass ich mich bei unserer nächsten Unterhaltung auf einiges gefasst zu machen habe. Er sei zwar gewohnt, mit mir allerlei Scherereien zu bekommen, wenn ich nur in seinem Umkreis auftauche. Aber daran, was ich mir diesmal eingebrockt habe, würde ich mit Sicherheit eine ganze Weile zu kauen haben.

Mit dem markanten Satz: „Sie bleiben vorläufig im Stadtgebiet von London und halten sich zu unserer Verfügung“, beendete er seine Zornesdemonstration.

In der Tür machte er noch einmal kehrt. „Brauchen Sie ärztliche Versorgung?“

„Danke“, antwortete ich und griff zur Whiskyflasche, „ich bin versorgt.“

Ein kurzes Kopfnicken, einige markige, scheppernde Polizeischritte, der donnernde Knall der ins Schloss geworfenen Tür, das war Carters Abgang.

Ich konnte es ihm nicht einmal verdenken, dass er so mit der Tür um sich schmiss. Es war ein hässlicher Streich, den ich ihm da gespielt hatte. Man greift nicht in eine Morduntersuchung ein, unterschlägt Beweismaterial und lässt sich dann noch um ein Haar erschießen!

Und wirklich, ich frage mich manchmal selbst, warum ich das immer wieder tue? Warum ich es nicht lassen kann, meine Nase in Dinge zu stecken, in denen sie nichts zu suchen hat. Vielleicht könnte man meinen, es sei Abenteuerlust - aber weit gefehlt! Es war Dummheit, pure Dummheit - oder mindestens zu achtzig Prozent. Zehn Prozent Neugier, und die restlichen zehn Prozent - ja, wie konnte es anders sein? - die restlichen zehn Prozent waren eine Frau. Und wie immer, wenn eine Frau im Spiel ist, dann ist der Verstand im Eimer. Daher wohl auch die achtzig Prozent Dummheit.

Ich wartete auf den zweiten Knall. Wartete vergebens. Die Wohnzimmertür hatte Carter mit einem Donnerschlag zugeworfen, doch von der Haustür war nicht das geringste Tönchen zu hören. Nanu! War sein Ärger so schnell verflogen? Oder hatte er die Wohnung gar nicht verlassen und stöberte jetzt in den anderen Zimmern nach verborgenen Mordindizien?

Ich sah nach, und die Erklärung war sehr einfach: Carter hatte die Haustür nicht zugeworfen, weil dies nicht mehr ging. Die arme Tür war mindestens genauso lädiert wie mein Kopf. Wie ein zur Hälfte abgerissenes Heftpflaster hing sie in den Angeln, malerisch mit Holzsplittern drapiert, die aus der Fassung herausgebrochen waren. Der Inspektor und sein Sergeant hatten die Tür offensichtlich mit Brachialgewalt geöffnet, nachdem sie die Schüsse in meiner Wohnung gehört hatten.

Ich rief einen Zimmermeister an und bat ihn flehentlich, sofort zu mir zu kommen, um die Tür wenigstens provisorisch zu richten. Er versprach, innerhalb der nächsten vierzehn Tage mal vorbeizuschauen.

„Puh! Da sitzen wir aber ganz schön in der Tinte!“, sagte Richardson.

Er stupste sich den Hut aus der Stirn, steckte beide Hände in die Hosentaschen und sah mich mit einem zufriedenen, innigen Schmunzeln an. Mich, der ich, ein Bild kläglichen Jammers, mit der feuchten Serviette auf der Stirn in meinem Schaukelstuhl saß.

„Sieht fast so aus, als hätten Sie eine Unterhaltung mit einer Dame gehabt, der Sie mal die Ehe versprochen haben“, fuhr er fort. „Whisky allein kann Sie doch nicht veranlassen, mit Ihrem Kopf und Ihrer Haustür Baukasten zu spielen!“

Dieser Unmensch! Statt dass sein Herz vor Mitleid überfloss, ließ er seiner Schadenfreude in rohen, unsittlichen Reden Lauf.

„Ich hab’ Sie ja gewarnt“, meinte er, „aber Sie wollten nicht hören.“ Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Oh, ich könnte mich selbst ohrfeigen! Ich habe Ihnen geschworen, dass ich mit der Sache nichts zu tun haben will!“

„Dann haben Sie bitte die Güte, sich nach Hause zu scheren“, sagte ich und nahm ihm das Whiskyglas, das er sich einschenken wollte, wieder fort.

Er füllte das Glas trotzdem. „Zu spät, Cox! Ich stecke schon mitten drin.“

„Wieso?“

„Weil ich mich dafür interessiert habe, wer sich in Ihrem Haus als Scharfschütze aufgespielt hat. Es ist derselbe Mann, vor dem ich Sie auf dem Bahnhof gewarnt habe. Ein kleiner Kerl mit einem Buckel.“

Phe! Das wusste Paul Cox auch. Dazu brauchte er keinen Privatdetektiv.

„Er wohnt in Ost-London, Purfleet Road 16 a.“

Oh! Das wusste Paul Cox nicht. Ich gab ihm sein Glas zurück.

„Dort hat er jedenfalls den Koffer hingeschleppt. Und wenn Sie je erfahren wollen, was sich in diesem dreimal verflixten Gepäckstück befindet, müssen Sie zur Purfleet Road fahren.“

Ich sah Richy erstaunt an. „Vor einer Stunde haben Sie noch gesagt, ich solle meine Finger aus dem Spiel lassen ...“

„Das sage ich auch jetzt noch“, unterbrach er mich, leerte sein Glas und stand auf. „Aber da ich weiß, dass Sie ein unverbesserlicher Narr sind, muss ich wenigstens dafür sorgen, dass Ihre Narretei Hand und Fuß bekommt. Also kommen Sie, Cox! Sie werden ja sowieso in die Purfleet Road fahren. Warum sollen wir so lange warten, bis die Polizei die Adresse auch rausbekommen hat?“

Ich ging noch auf einen Sprung zu meinem Nachbarn, dem guten, alten Fitzgerald und bat ihn, alle zehn Minuten bei dem Zimmermann anzurufen. Dann fuhren wir los.

Die Purfleet Road gehörte bestimmt nicht zu jenen Straßen, durch die die Omnibusse der Stadtbesichtigungsfahrten ihre Runde drehten. Sie war schmutzig, kahl und roch in ihrer ganzen Länge nach verwestem Fisch. Das lag wohl daran, dass irgendwo in der Nähe eine Fischmehlfabrik die Luft verpestete. Zu unserem Empfang hatte sie sich auch noch in ihren Festtagsstaat geworfen. Gefüllte Ascheimer säumten die Bürgersteige, bereicherten den Fischgestank um manch andere, genauso unangenehme Duftkomponente und dienten einer Schar von abgerissenen, barfüßigen, johlenden Kindern mit marmeladeverschmierten Gesichtern als Hindernisse beim Bockspringen. Die Mauern der deprimierend schmutzig-grau getünchten Häuser waren mit unflätigen Kreideinschriften und kleinen, viereckigen Hampelmännchen bekritzelt, deren männliche oder weibliche Anatomiemerkmale von einer gutmeinenden Seele wieder verwischt worden waren. Schon das Äußere dieser Straße machte klar, welch feinsinnigen Geistes die Leute waren, die in diesen rumpeligen Reihenhäusern wohnten.

Bis hierher also war Richardson dem kleinen Buckligen gefolgt.

Der hatte den roten Sunbeam in die Garage einer Tankstelle an der Straßenkreuzung eingestellt und war zu Fuß zum Haus Nr. 16 a zurückgegangen.

Ich parkte meinen Jaguar in einer Häuserlücke.

„Wissen Sie, wie der Bursche heißt?“, fragte ich Richy.

„Keine Ahnung. An der Tür ist kein Schild. Aber wir werden den Namen schon ‘rauskriegen.“

Langsam gingen wir auf das Haus zu. Die Fenster waren geschlossen. Alles schien ruhig. Keine Stimmen. Keine Radiomusik.

„Halten Sie sich ein bisschen im Hintergrund“, sagte Richardson, als wir an der Tür angekommen waren. „Er braucht Sie nicht gleich zu sehen.“

Ich stellte mich seitlich neben den Türrahmen. „Aber seien Sie vorsichtig, Richy! Der Mann ist bewaffnet.“

Richy grinste mich breit an, holte einen schweren Revolver aus dem Schulterhalfter und steckte ihn schussbereit in die Manteltasche. Dann drückte er lang und anhaltend auf den Klingelknopf.

Es blieb alles still.

Wir klingelten noch einmal.

Endlich hörten wir irgendwo im Haus eine Tür ins Schloss fallen. Schlurfende Schritte näherten sich. Und dann rief jemand: „Wer is’n da?“

Es war eine unangenehme Altstimme, rau und krächzend wie ein Kurzwellensender, den man nicht genau eingestellt hat.

Richy schaute mich an und schüttelte den Kopf. Nein, das war nicht unser Rumpelstilzchen.

„He! Hallo! Is da jemand?“

Kein Zweifel, es war eine Frauenstimme.

„Sie wird schon aufmachen“, flüsterte Richardson.

„So ‘ne Frechheit aber auch“, schimpfte es hinter der Tür. „Was ‘n los?“

Statt einer Antwort drückten wir noch einmal auf den Klingelknopf.

Schließlich wurde die Tür unter leisem, eintönigen Schimpfen geöffnet. Eine lange hagere Gestalt mit vorgebeugtem Oberkörper kam zum Vorschein. Sie hatte das Gesicht eines Geierbabys, verwitterte Haut, die von tiefen grauen Falten durchzogen war wie das Nildelta von Flussläufen. Eine lange braune Kittelschürze verdeckte den Körper bis zu den Waden, die, mit blauen Adern verziert, schließlich in zwei große unförmige Filzpantoffeln einmündeten.

„Warum, zum Teufel, antworten Se nicht?“, quäkte es uns entgegen. „Hab’ doch laut genug gefragt, wer da is!“

Richardson lüftete höflich den Hut. „Ehrlich gesagt, waren wir uns nicht ganz klar, ob wir hier bei der richtigen Adresse sind. Wir waren etwas erstaunt, die Stimme einer Dame zu hören.“

Das Wort ,Dame’ machte sofort den beabsichtigten Eindruck und zauberte ein verschämtes Lächeln auf ihre dünnen Lippen.

„Wir hatten eigentlich erwartet, einen Herrn anzutreffen. Nach unseren Informationen müsste er hier wohnen. “

„Tut er ja auch“, antwortete sie. „Aber ‘s is immer dasselbe. Ich hab’ Mr. Popkins schon x-mal gesagt, er soll endlich ein Türschild anbringen lassen.“

Aha! Popkins hieß er also, mein buckliger Möchtegern-Mörder. Wie wir erfuhren, wohnte er hier zur Untermiete. „Was wolln Se denn von ihm?“

„Wir hätten ihn gern in einer Versicherungsangelegenheit gesprochen“, antwortete Richy mit gekonnter Selbstverständlichkeit.

Das späte Mädchen schüttelte den Kopf. „Der is jetzt nich da.“

Richardson verbarg seine Enttäuschung meisterhaft. „Vielleicht dürfen wir trotzdem eintreten, gnädige Frau. Kann sein, dass Sie uns eine Auskunft geben können.“

Auch das ,gnädige Frau’ verfehlte nicht seine Wirkung. Die dürren Arme machten ein paar akrobatische Verrenkungen, die wohl soviel wie ,Bitte treten Sie ein’ bedeuten sollten, und wir wurden in das Zimmer des Mr. Popkins geführt. Es war eines jener Mietzimmer, wie es sie zu Tausenden in jeder großen Stadt gibt, eingerichtet mit den Möbeln, die von der Wohnungsinhaberin nicht mehr gebraucht werden. Ein schwerer runder Tisch mit einer schmutzigen Filzdecke, drei wacklige Korbstühle, ein abgeschabtes Sofa, ein rissiger Schreibtisch, auf dem als einziges modernes Attribut in diesem Zimmer ein Telefon stand, ein Bücherschrank mit Glastüren, deren Scheiben mit einem goldenen Gitter bemalt waren. Darauf eine verstaubte Nippesfigur, eine Tänzerin mit flatterndem, um die Hüfte geschlungenem Gewand, das die beiden goldbetupften Porzellanbrüste mit geradezu unkeuscher Keckheit den Blicken des kunstbeflissenen Betrachters preisgab.

Wir stellten uns der würdigen Dame des Hauses unter den Namen Smith und Williams vor, worauf wir sofort erfuhren, dass sie Mrs. Nutboam hieß, seit vierzehn Jahren verwitwet war, einen erwachsenen Sohn hatte, der mit einer Trikotagennäherin nach Australien ausgewandert war, seit ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahr in diesem Haus wohnte und jeweils im Herbst und Frühjahr unter starken Neuralgien litt. Wir gaben ihr die Adresse eines besonders tüchtigen Arztes und erzählten ihr, dass wir von der Phönix-Reisegepäckversicherung kämen. Mr. Popkins habe einen kleinen schweinsledernen Handkoffer zur Aufbewahrung gegeben, und die Gesellschaft sei nun etwas in Sorge, ob er ihn auch zurückerhalten habe. Zwar behaupte der Schalterbeamte, er habe den Koffer ausgehändigt, aber leider seien ihm die Belege verlorengegangen.

„Mann, o Mann!“, staunte Mrs. Nutboam. „ls die britische Eisenbahn aber gründlich!“

„Wir müssen gründlich sein“, sagte Richardson mit besorgter Miene. „Der Koffer war sehr hoch versichert.“

Frau Nutboam nickte. „Ich sag’ ja auch nix. Aber ich glaube, Sie brauchen sich keine Sorgen nich zu machen, meine Herren. Vor ‘ner halben Stunde nämlich is mein Untermieter mit ‘m Koffer nach Hause gekomm’n. Den hat er von der Bahn abgeholt. Einen kleinen schweinsledernen Handkoffer, wie Sie sagen.“

Wir taten so, als ob wir darüber sehr erfreut wären. Aber als pflichtbewusste Beamte konnten wir uns mit dieser Auskunft natürlich nicht zufrieden geben.

„Vielleicht können Sie uns den Koffer zeigen?“ fragte ich zaghaft. „Dann werden wir gleich feststellen, ob es der richtige ist.“

Mrs. Nutboam schüttelte traurig den Kopf. „Nee, geht nich. Mr. Popkins hat ihn wieder mitgenommen.“

Was für ein Jammer! Es wäre auch zu schön gewesen!

„Wissen Sie, wohin Mr. Popkins den Koffer gebracht hat?“

„Keine Ahnung. Er sagt mir nie, wo er hingeht. Erst wollte er ja noch Abendbrot essen. Aber dann hat ihn einer abgeholt.“ Mrs. Nutboam wusste nicht, wer das gewesen war, da sie sich, wie sie lautstark betonte, prinzipiell nicht um den Verkehr ihrer Mieter kümmere. Aber wir sollten uns nur ein bisschen gedulden, Mr. Popkins käme gewiss bald zurück, und dann könnten wir ihn nach Herzenslust über den Koffer ausfragen. „Machen Sie sich’s hier nur gemütlich, und warten Sie solange. Mich stört das nich, ich hab’ noch in der Küche zu tun.“

Erschöpft ließ ich mich auf das Sofa sinken, als sie endlich das Zimmer verlassen hatte.

Wir waren also zu spät gekommen! Der Koffer war weg.

Zu meinem Erstaunen zeigte sich Richardson aber durchaus optimistisch. „Warum knurren Sie denn?“, tröstete er mich. „Die erste Runde ist vorbei, und wir haben eine Menge Punkte gesammelt. Wir wissen, wie unser Mann heißt und wo er wohnt. Wir wissen ferner, dass er nur ein Handlanger ist. Er arbeitet nicht für sich, sondern für einen Auftraggeber, wahrscheinlich den Mann, der ihn vorhin abgeholt hat. In der zweiten Runde läuft uns Popkins in seiner eigenen Wohnung in die Falle. Sie stellen sich neben die Tür, Cox, damit er Sie nicht gleich sieht, wenn er ins Zimmer tritt. Halten Sie Ihre Kanone bereit! Und dann werden wir unserem Rumpelstilzchen schon die Zähne ziehen.“

„Vorausgesetzt, dass er überhaupt zurückkommt.“

Wir wussten ja nicht, was in dem Koffer war, und warum Popkins ihn unter so großem Einsatz gestohlen hatte. Vielleicht war er längst über alle Berge und dachte gar nicht daran, in seine möblierte Bude mit der Porzellantänzerin zurückzukehren. Immerhin aber beschlossen wir, die Zeit nicht nutzlos verstreichen zu lassen und uns ein bisschen in dem Zimmer umzuschauen. Zunächst war die Ausbeute nicht sehr groß. Im Bücherschrank fanden wir alles mögliche, bloß keine Bücher. Das einzige Bedruckte waren Prospekte - die allerdings in ziemlicher Fülle. Der kleine Bucklige schien ein Freund des sonnigen Südens zu sein, denn es waren Reiseprospekte. Locarno, Stresa, Isola Bella, Cannero, Ascona Pallanca - der ganze Lago Maggiore war hier auf buntschillerndem Kunstdruckpapier vereinigt.

Im Schreibtisch aber entdeckten wir etwas, das mir den Atem stocken ließ: Einen Brief.

’Mr. Charles Popkins

London E 9

Purfleet Road 16a

Anbei übersende ich Ihnen, wie verabredet, einen Barscheck über 20 Pfund.

Elena Morrison’

Gleich darauf reichte mir Richardson einen zweiten Zettel. Eine Benzinquittung von einer Tankstelle in Kilmarnock/Lanarkshire. Dies allein wäre uns wohl kaum suspekt vorgekommen, wenn hier nicht auch wieder Elenas Name erwähnt wäre. Für sie war die Quittung ausgeschrieben.

Das war genau das, was ich befürchtet hatte. Es war mir zwar völlig gleichgültig, wo Elena ihren Wagen auftankte, selbst wenn es in einem solch unaussprechlichen Ort wie Kilmarnock in Schottland geschah. Dass sie aber mit unserem Teufelsbraten Popkins in Verbindung stand, bereitete mir Kopf- und Magenschmerzen. Es hatte zwar zu erwarten gestanden, dass wir früher oder später über ihren Namen stolpern würden - aber so bald und so direkt - nein, das gefiel mir nicht. Gar nicht.

Ich war mit dem Wundern noch nicht ganz fertig, als das Telefon läutete. Schnell nahm ich den Hörer ab und nuschelte undeutlich: „Ja?“

„Hallo, Charly?“ kam es aus dem Apparat.

„Ja?“

„Wo stecken Sie denn? Ich warte auf Sie!“ Es war eine Frauenstimme. „Ich brauche den Koffer.“

„Den Koffer?“

„Ja! In zwei Stunden ist Ebbe. Dann können wir nicht mehr auslaufen.“

Alle guten und bösen Geister! Die Stimme kannte ich doch! Wie oft schon hatte ich sie gehört, am Telefon und in Natur? Wie oft hatte ich mich gefreut, sie zu hören! Jetzt war es wie ein kalter Wasserguss.

Es war Elenas Stimme!

„Wer ist denn dort?“, fragte ich, um sicherzugehen.

„Wer soll schon hier sein? Elena Morrison natürlich.“

Natürlich! Ich hätte aufschreien können! Wieso war denn das, bitte, natürlich? Es war ganz entsetzlich unnatürlich, dass eine Frau wie Elena diesen Popkins anrief und ihn mit „Hallo, Charly!“, anredete.

Elena schien mein Erstaunen zu bemerken. „Oh, Verzeihung, ich bin vielleicht falsch verbunden. Ich möchte Mr. Charly Popkins sprechen.“

Charly - phe!

„Du bist schon richtig verbunden, Elena! Hier ist die Wohnung von Mr. Popkins. Es spricht Paul Cox.“

Es entstand eine kleine Pause. Sie brauchte wohl eine Weile, um diese Pille zu schlucken.

„Paul!“ sagte sie schließlich. „Um Himmels willen, was suchst du denn bei Popkins?“

„Dich, Elena, dich suche ich!“

Da öffnete sich die Tür, und Mrs. Nutboam erschien, gerade als ich Elena erklären wollte, dass nicht nur ich, sondern auch die Polizei von ganz Großbritannien vor Sehnsucht nach ihr glühte. Zwar versuchte Richardson, die gute Mrs. Nutboam zu beschwichtigen, indem er ihr erklärte, es sei ein Gespräch von unserer Firma. Aber ich war sicher, dass sie, selbst wenn sie ihm glaubte, hinter der Tür lauschen würde. Also machte ich es kurz und fragte Elena, wo ich sie treffen konnte.

Sehr zu meinem Erstaunen gab sie mir die genaue Adresse. „Ich bin in Chipwich, Paul. Das ist ein winziges Fischernest östlich von Chelmsford. Am Strand steht ein kleines Restaurant. Es ist leicht zu finden, denn es ist das einzige hier. Ich warte auf dich!“

„In Ordnung. Ich komme so schnell wie möglich.“

Gestatten, mein Name ist Cox

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